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Rezension in ver.di PUBLIK 01/20

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30. November 2020 

Alle Rechte hart erkämpft


Betriebsrätegesetz – VSA-Band analysiert 100 Jahre „Gegenmacht statt Ohnmacht”
Von Henrik Müller


Der Betriebsrat hat die Aufgabe, „darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden”. So lautet ein Kernsatz des Betriebsverfassungsgesetzes (Paragraf 80 BetrVG). Dass diese Rechte von den abhängig Beschäftigten und ihren Gewerkschaften allesamt mühsam errungen und hart erkämpft werden mussten und müssen: Auf diesen Aspekt konzentrieren sich die Autorinnen eines jüngst im Hamburger VSA-Verlag erschienenen Buchs mit dem Titel „Gegenmacht statt Ohnmacht”. Im Mittelpunkt steht dabei die Geschichte eben dieses Betriebsverfassungsgesetzes, das jetzt 100 Jahre alt ist. Es wurde – als „Betriebsrätegesetz” – am 18. Januar 1920 beschlossen und trat am 4. Februar 1920 in Kraft. Was heutzutage kaum jemand noch weiß, was aber, wie viele andere Hintergründe, aus dem vorliegenden Band zu erfahren ist: wie hoch der Blutzoll war, den unsere Kolleginnen dafür zu entrichten hatten. Fünf Tage vor der Entscheidung der Deutschen Nationalversammlung hatten sich während der Beratungen im Plenarsaal draußen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin mehr als 100.000 Menschen zu einer gewaltigen Demonstration gegen das geplante Betriebsrätegesetz versammelt, die einem Aufruf der linken Oppositionsparteien USPD und KPD, der Berliner Gewerkschaftskommission und der revolutionären Betriebsrätezentrale gefolgt waren.


Hoher Blutzoll


Im Verlauf der Kundgebung, so schreibt der Historiker Axel Weipert, sei es „zu einzelnen Handgreiflichkeiten im Gedränge zwischen den Demonstranten und der paramilitärischen Sicherheitspolizei” gekommen: „Rund zehn Minuten später eröffnete die Truppe mit Maschinengewehren und Karabinern das Feuer, warf sogar Handgranaten in die Menge. Sofort brach Panik aus, die Massen füchteten in den benachbarten Tiergarten. 42 Tote und weit über 100 Verletzte blieben auf dem Platz.” Noch am gleichen Tag verhängte Reichspräsident Friedrich Ebert, SPD, den Ausnahmezustand.


„Der 13. Januar 1920 ist in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück über die politischen Verhältnisse Deutschlands in jener Zeit”, resümiert Weipert. Denn was mit dem Betriebsrätegesetz an echtem Fortschritt für die abhängig Beschäftigten erreicht war, entsprach nur noch in Bruchstücken dem, was sich Millionen von Aktivistinnen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs unter einer umfassenden Demokratisierung des Staates und der Wirtschaft vorgestellt hatten. Von einem „entscheidenden Einfluss auf Produktions-, Lohn- und Arbeitsverhältnisse”, wie er Ziel der vorangegangenen Massenstreiks gewesen war, habe keine Rede mehr sein können, stellt der Autor fest. Dabei ist es im Grunde bis auf den heutigen Tag geblieben, wenn auch im Laufe der Jahre und Jahrzehnte erhebliche Fortschritte im Detail haben durchgesetzt und verteidigt werden können, ohne dass den abhängig Beschäftigten allerdings jemals etwas geschenkt worden wäre.

DDR-Zeit fehlt

Die Juristin Isaf Gün, Gewerkschaftssekretärin beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall in Frankfurt/Main, und die Berliner Rechtsanwälte Benedikt Hopmann und Reinhold Niemerg als Herausgeberinnen versammeln in dem Band „Gegenmacht statt Ohnmacht” etliche kompetente Autorinnen mit durchaus unterschiedlichen Sichtweisen. Ihre Analysen und Einschätzungen reichen von der bürgerlichen Revolution 1848/49 über das „Hilfsdienstgesetz” 1916, die Novemberrevolution 1918, das Betriebsrätegesetz 1920 und die – rechtlose – Zeit des Nazi-Terrors bis hin zum westdeutschen Betriebsverfassungsgesetz 1952, seiner Reform 1972 und seinen bescheidenen gesamtdeutschen Veränderungen 2001. Das waren und sind die gesetzlichen Grundlagen, auf denen die Arbeitnehmerinnen in der Privatwirtschaft und ihre Gewerkschaften Gegenmacht aufbauen konnten und sich nicht in Ohnmacht ergeben mussten und müssen.

Eine Lücke tut sich in dem VSA-Band allerdings auf: Wie auch immer man Funktion und Wirksamkeit der betrieblichen Interessenvertretungen in der DDR bewerten mag, in der vorliegenden Aufsatzsammlung fehlt ein Überblick über die Arbeit der Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) von 1949 bis 1990.

Isaf Gün, Benedikt Hopmann, Reinhold Niemerg (Hrsg.), Gegenmacht statt Ohnmacht – 100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz: Der Kampf um Mitbestimmung, Gemeineigentum und Demokratisierung, VSA-Verlag, Hamburg, 160 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3964880369

aus: „ver.di PUBLIK“ – Die Mitgliederzeitung – Ausgabe 01/2020 vom 15. Februar 2020