Berufung gegen FU-Schmähkritikurteil des Berliner Arbeitsgerichts vom 05.12.2024 eingelegt

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Im Folgenden eine Stellungnahme der Anwälte Reinhold Niemerg und Benedikt Hopmann zu einer Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Berlin Nr. 01/25. In dieser Pressemitteilung begründet das Arbeitsgericht, warum es einem Beschäftigten der FU und ver.di Mitglied – Mandant der beiden Anwälte – „Schmähkritik“ an der FU vorwirft und deswegen eine Abmahnung erteilt hat. Es fehlten nach Meinung des Arbeitsgerichts „Anhaltspunkte in der Realität“. Diese Meinung kommt dadurch zustande, dass das Arbeitsgericht die Realitäten nicht zur Kenntnis genommen hat. Das Arbeitsgericht verschloss die Augen vor der Realität und behauptete, die Realität existiere nicht. Hier die ausführliche Stellugnahme der beiden Anwälte.

                                                                                         I.           

Gegen das FU-Schmähkritikurteil des Berliner Arbeitsgerichts vom 05.12.2024 – Aktenzeichen 58 Ca 4568/24 – ist von uns Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingereicht worden.

Das Berliner Arbeitsgericht hatte in seiner ersten Pressemitteilung des Jahres 2025 auf das Urteil aufmerksam gemacht (vgl. Pressemitteilung des Berliner Arbeitsgerichts Nr. 01/25 vom 06.01.2025),  das in der Folge ein breites Medienecho fand.

                                                                                         II.

Das Berliner Arbeitsgericht hatte eine Abmahnung der Freien Universität vom 04.03.2024 gegen unseren Mandanten – einem Mitglied des für die FU-Berlin zuständigen ver.di Betriebsgruppenvorstandes – für rechtmäßig erklärt. Neben unserem Mandanten haben noch weitere Mitglieder des ver.di Betriebsgruppenvorstandes eine Abmahnung erhalten, deren arbeitsgerichtliche Verfahren aber noch nicht entschieden worden sind.

Die ver.di-Betriebsgruppe und ihr Vorstand hatten beschlossen, auf einer gewerkschaftseigenen Internetseite am 30. Januar 2024 einen Aufruf zu veröffentlichen, sich an einer der zahlreichen Demonstrationen, die im Winter 2023/2024 gegen die AFD stattfanden, zu beteiligen.

Im Unterschied zum Gros der damaligen Demonstrationsaufrufe machte der Aufruf am Beispiel der verschärften Asylpolitik der damaligen Ampelregierung deutlich, dass hier bereits praktisch die Politik umgesetzt werde, die von der AfD gefordert wird. Die Bundesregierung kürze zudem „bei allen Sozialausgaben und in der öffentlichen Daseinsvorsorge“, habe aber gleichzeitig „Milliarden für die Rüstung übrig“. Rechtes Gedankengut wachse „am besten in einem solchen Klima der Prekarität“. Diesen Prozess der Prekarisierung sah der Aufruf auch durch die alltägliche betriebliche Praxis der FU-Berlin umgesetzt und benannte Ross und Reiter.  Wer wie das FU-Präsidium Tarifverträge nicht einhalte, bekämpfe „aktiv Mitbestimmung und demokratische Prozesse“ und sorge „so für politischen Verdruss“. „Im Ergebnis“ fördere „auch die FU damit den Rechtsruck und den Aufstieg der AfD, denen gewerkschaftliche Organisierung ebenfalls ein Dorn im Auge ist“. Zudem seien „Beschäftigtengruppen der unteren Lohngruppen und mit hohem Migrant*innenanteil wie z.B. Reinigungskräfte an der FU ausgegliedert und damit von der betrieblichen Gemeinschaft ausgegrenzt und schlechter gestellt“. Damit bereiteten „die regierenden Parteien und gewerkschaftsfeindliche Arbeitgeber der AfD und den Rechten das Feld“. Das Recht auf Flucht und Asyl dürfe nicht weiter eingeschränkt werden. Menschen würden vor Krieg, Verfolgung und Armut und Klimakatastrophe fliehen – „die europäische und deutsche Abschottungspolitik“ bedeute demgegenüber „Tod und Folter für viele“. Daher richte sich der Protest „nicht nur gegen die AfD, sondern auch gegen ihre Wegbereiter*innen in den aktuellen Regierungs- und anderen demokratischen Parteien“.

Quelle: https://www.verdi-fu.de/wordpress/2024/01/30/gegen-afd-und-die-abschiebe-und-kuerzungspolitik-der-ampelregierung-kommt-zum-aktionstag-am-3-februar-13-uhr-bundestagswiese/

                                                                                         III.

Das Präsidium der Freien Universität wies die „Behauptungen“ in einer Gegendarstellung vom 05.02.2024 „mit aller Entschiedenheit zurück“. Die FU nahm für sich in Anspruch, seit Monaten „intensiv“ an „Herausforderungen und Lösungen für eine Verbesserung von Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz, der Bedingungen der Beschäftigten an der FU Berlin und der Umsetzung berechtigter Forderungen der Personalräte“ zu  arbeiten. Sie gab an, hier „große Schritte nach vorne“ zu gehen, nicht ohne zu betonen, dass diese nun durch das Verhalten der Betriebsgruppe „gefährdet“ seien.  Gleichzeitig kündigte sie arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen die Mitglieder des Betriebsgruppenvorstandes an. Die politische Einschätzung  des Verhaltens der FU-Berlin durch den ver.di-Betriebsgruppenvorstandes und die aufgezeigten strukturellen Zusammenhänge, in der die Betriebsgruppe dieses Verhalten eingebunden sieht, wertete die FU als „diffamierende Anschuldigungen und bewusste Falschaussagen“.

Quelle: https://www.fu-berlin.de/informationen-fuer/beschaeftigte/aktuelles/news/240205-gegendarstellung-verdi/index.html

                                                                                         IV.

Dieser Auffassung schloss sich das Arbeitsgericht Berlin an, indem es die entsprechende Passage in dem Demonstrationsaufruf des ver.di Betriebsgruppenvorstandes als eine vom Schutz der Meinungsfreiheit  aus Artikel 5 Absatz 1 und Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz  von vornherein nicht gedeckte „Schmähkritik“ wertete und dies damit begründete, dass für die erhobenen Vorwürfe Anhaltspunkte in der Realität fehlen würden.

Quelle: https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2025/pressemitteilung.1517802.php

Das Arbeitsgericht übergeht dabei in leichtfertiger Weise den Umstand, dass der ver.di-Betriebsgruppenvorstand auf der Grundlage von Tatsachen argumentiert hat und die von ihm in Bezug genommenen Tarifverstöße der FU-Berlin ausnahmslos dokumentiert sind.

                                                                                         V.

                                                                                         1.

Schon im Jahr 2021 hatte die ver.di-Betriebsgruppe der FU festgestellt, dass den Beschäftigten der Veterinärmedizin bis dato seit Jahren zustehende tarifliche Zuschläge u.a für Überstunden, Schicht- und Wechselschichtarbeit sowie Sonntagsarbeit vorenthalten worden waren.

Am 29. Juli 2021 stieß die ver.di-Betriebsgruppe deswegen eine Initiative unter den abhängig Beschäftigten an. Ver.di bot an, ihren Mitgliedern bei der Geltendmachung gegenüber der Freien Universität zu helfen.

Quelle: https://www.verdi-fu.de/wordpress/2021/07/29/freie-universitaet-enthaelt-beschaeftigten-seit-jahren-tarifliche-zuschlaege-vor-jetzt-mitglied-werden-und-geltend-machen/

Gleichzeitig wurden in der Veterinärmedizin staatlich approbierte Tierärztinnen und Tierärzte bis März 2021 als sog. Gastwissenschaftler/innen auf Basis eines Gehalts beschäftigt, der weit unter dem des Tarifvertrags der Länder lag. Nachdem die ver.di-Liste bei den Personalratswahlen zum Personalrat Dahlem im Dezember 2020 die Mehrheit der Sitze erzielt hatte, forderte der Personalrat die Eingruppierung in die für die Tätigkeit als Tierärzt/innen zutreffende Entgeltgruppe 14. Die FU-Berlin begegnete dem Ansinnen des von ver.di gestellten Personalrats Dahlem damit, dass sie die gegenüber drei Tierärzt/innen getroffene Zusage, sie einzustellen, wieder zurücknahm und dies damit begründete, dass der Personalrat Dahlem der Einstellung nicht zugestimmt habe. Diese Behauptung war jedoch falsch. Der Personalrat hatte den Einstellungen der drei ausdrücklich zugestimmt und lediglich der nicht tarifgerechten Entlohnung widersprochen. Die FU-Berlin wusste dabei genau, was sie tat. Im Rahmen eines vor dem Verwaltungsgericht Berlin geschlossenen Vergleichs (VG 61 K 13.15 PVL) hatte sie anerkannt, die seinerzeit sogar nur als Leiharbeiter/innen von der Betriebsgesellschaft Botanischer Garten/Botanisches Museums an die Veterinärmedizin ‚ausgeliehenen‘ Tierärzt/innen als Angestellte der FU-Berlin zu beschäftigen. Damit waren sie nach TV-L zu entlohnen, was die FU in den folgenden Jahren unter Verletzung des TV-L ignorierte.

Quelle:https://www.verdi-fu.de/wordpress/2021/04/30/tierkliniken-der-fu-praesidium-faehrt-die –krallen-aus/

Claudius Naumann: Die Betriebsgesellschaft als Leiharbeitsagentur und der Konflikt um die ‚Interns‘ in den Tierkliniken am Fachbereich Veterinärmedizin in: Jana Seppelt, Reinhold Niemerg u.a.: Der Aufstand der Töchter. Botanischer Garten Berlin: Gemeinsam staatlich organisierte prekäre Beschäftigung überwinden, 2018, S. 53 – 56.

Einer  schriftlichen Anfrage des Abgeordneten Tobias Schulze (LINKE) vom 12. März 2024 zum Thema „Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt – Zu Tarifverstößen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten an der Veterinärmedizin der FU“ und der dazugehörigen Antwort vom 26. März 2024 zufolge stellten in der Folge insgesamt 157 Beschäftigte des Fachbereichs Veterinärmedizin an der FU Berlin im Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 31.03.2024 Anträge auf tarifvertragliche Höhergruppierungen, da sie von der FU zu niedrig eingruppiert waren. Gleichzeitig machten 312 Beschäftigte die ihnen zustehenden monatlichen Zeitzuschläge geltend, die ihnen von der FU über Jahre vorenthalten worden waren und sich am Ende auf insgesamt 2.004.903,88 € beliefen. Dabei ‚sparte‘ die FU-Berlin noch die Zuschläge, die vor dem 01.01.2021 von ihr hätten gezahlt werden müssen, da diese mittlerweile verjährt waren. 81 Tarifbeschäftigte und 30 studentische Beschäftige kündigten in diesem Zeitraum ihr Arbeitsverhältnis.

Quelle: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-18557.pdf

Obwohl das Präsidium der FU-Berlin im Zuge der ver.di Kampagne bereits im Juni 2022 beschlossen hatte, die bisher nicht gezahlten Zuschläge in der Veterinärmedizin zu zahlen, geschah in der Folge nichts.  Im März 2023 wandten sich die Beschäftigten des Fachbereichs Veterinärmedizin in einem offenen Brief an den Präsidenten der FU und brachten ihre Empörung über die Verstöße gegen den Tarifvertrag (TV-L FU), insbesondere bezüglich nicht vergüteter Überstunden und Schichtzulagen zum Ausdruck, da die FU noch immer nicht gezahlt hatte. Sie berichteten von erheblichen finanziellen Einbußen, die durch die Nichteinhaltung tariflicher Regelungen entstanden waren, und forderten von der FU  die Korrektur aller zurückgehaltenen Bezüge. Abschließend forderten sie die Schaffung einer eigenen Abteilung zur Überprüfung der Tarifvertragsanwendung.

In einem weiteren offenen Brief an den Präsidenten der FU im August 2023 sprachen die Unterzeichner*innen von einer „konsequenten Nichtanwendung des Tarifvertrags“ durch die FU, da sie auch jetzt noch immer nicht gezahlt hatte. Sie warfen  unter anderem Fragen wie die folgenden auf, die Einblick in die hochproblematische Lage der Beschäftigten geben:

  • Welche Handlungsmöglichkeiten haben die Beschäftigten neben dem Klageweg, wenn Tarifverträge zwar ausgehandelt, dann aber in ganzen Bereichen bewusst nicht umgesetzt werden?
  • Wie können Beschäftigte ihre Rechte aus dem Tarifvertrag durchsetzen, insbesondere wenn sie kein Geld für einen Rechtsanwalt oder Rechtsstreit haben?
  • Wie kommen befristete Beschäftigte an ihre tariflichen Rechte, wenn absehbar ist, dass eine Konfrontation mit der Universitätsleitung dazu führt, dass dann das Beschäftigungsverhältnis nicht fortgesetzt wird?
  • Ist es Beschäftigten zumutbar, dass sie weiterhin ihren Dienst antreten, wenn von vornherein klar ist, dass sie den dafür vorgesehenen tariflichen Lohn seit Monaten bzw. Jahren nicht erhalten?

Die Betroffenen zogen schließlich sogar in Betracht, als Beschäftigte, deren Existenz und Lebensumstände direkt von der Einhaltung des Tarifvertrags abhängig waren, in einen Streik zu treten, sollte der Tarifvertrag weiterhin nicht eingehalten werden.

Sie forderten einen eigenen Tarifkampf zur Einhaltung des TV-L FU, der erst dann enden sollte, wenn alle offenen Forderungen beglichen sind. Die Einhaltung des Tarifvertrags (TV-L FU) sollte dabei zu einer offiziellen Streikforderung der anstehenden Tarifrunde im TV-L gemacht werden. Die Zustände an der Freien Universität Berlin seien nur exemplarisch. Daher müssten die Gewerkschaften überall dort, wo geltende Tarifverträge umgangen werden, die Voraussetzungen schaffen, dass Streiks zur Durchsetzung gültiger Tarifverträge möglich sind. Zudem wurde der Sachverständigenausschuss des International Labour Organization (ILO) gebeten, sich mit den Tarifvertragsverstößen an der Freien Universität Berlin auseinanderzusetzen.

Quelle: https://www.verdi-fu.de/wordpress/2023/08/14/tarifvertragsverstoesse-muessen-mit-streik-beantwortet-werden-koennen/

Erst nach mehrjährigen Auseinandersetzungen und nur auf Druck der ver.di-Betriebsgruppe an der FU sind die geltend gemachten Zuschläge schließlich gezahlt worden. Die Höhergruppierungen der betreffenden Beschäftigten sind noch nicht abgeschlossen.

                                                                                         2.

Ein immer wiederkehrendes Problem für Beschäftigte an der FU, die mit zu niedrigen Eingruppierungen konfrontiert sind, besteht dabei darin, dass bei der Durchsetzung einer tarifgerechten Eingruppierung vor dem Arbeitsgericht die volle Beweislast bei ihnen liegt. Ein wichtiger Beleg über die zugewiesenen Tätigkeiten ist die sog. Beschreibung des Aufgabenkreises (BAK), die ein wesentlicher Bestandteil eines rechtskonformen Einstellungs- oder Eingruppierungsantrags im öffentlichen Dienst ist.

Allerdings verfügen die meisten Beschäftigten an der FU weder über eine BAK noch über eine Stellenbeschreibung für die von ihnen auszuübenden Tätigkeiten. Dieser Umstand erschwert es ihnen, sich bei der Überprüfung ihrer Eingruppierung auf diese Dokumente zu berufen. Da sie nicht wissen, welche Aufgaben in der BAK für ihre Stelle vorgesehen ist, können sie auch keine Aufgaben ablehnen, die nicht in ihrer BAK aufgeführt sind. Berechtigte Anfragen der Beschäftigten an die Personalstelle zur Herausgabe ihrer Stellenbeschreibung oder BAK sind seit Jahren unbeantwortet geblieben.

Nach der erfolgreichen Wahl der ver.di-Offenen Liste im Personalrat Dahlem im Dezember 2020 fanden sich auch im Personalrat keine der ursprünglich dort vorhandenen Kopien der BAKs mehr. Damit verfügen der gegenwärtige Personalrat Dahlem und auch die Beschäftigten nicht (mehr) über die notwendigen BAKs der Beschäftigten, die vor Dezember 2020 eingestellt wurden.

Die BAKs sind von dem vorhergehenden, nicht gewerkschaftlich orientieren Personalrat vernichtet worden, obwohl sich in einem Schreiben des Datenschutzbeauftragten ein Hinweis fand, dass personenbezogene Daten — unabhängig von gesetzlichen Aufbewahrungsfristen — so lange aufbewahrt werden müssen, wie es die Zwecke, für die sie erhoben oder an den Personalrat weitergeleitet wurden, erfordern. Die Aufbewahrung dieser Daten sollte individuell unter Berücksichtigung des jeweiligen Zwecks und der internen Abläufe erfolgen, insbesondere wenn noch Ansprüche von Beschäftigten zu erwarten oder die Daten von rechtlicher Bedeutung waren

https://fragdenstaat.de/anfrage/entsorgung-von-akten-des-personalrats-dahlem

https://fragdenstaat.de/anfrage/entsorgung-von-akten-des-personalrats-dahlem/894798/anhang/705dac217fc5c3b3afbf1583f314efc6ea795e14_geschwaerzt.pdf

                                                                                         3.                                                       

Die in dem Aufruf von der Betriebsgruppe benannten Verstöße gegen den Tarifvertrag beschränkten sich jedoch nicht allein auf den Fachbereich Veterinärmedizin. Laut einem offenen Brief der Betriebshandwerker*innen an die Kanzlerin der FU Berlin beklagen die Beschäftigten, dass tarifliche Zuschläge, insbesondere für Rufbereitschaften, nicht ordnungsgemäß bezahlt werden. Die ver.di-Betriebsgruppe fordert auch hier eine zügige und regelmäßige Auszahlung der tariflich zustehenden Bezüge.

Quelle: https://www.verdi-fu.de/wordpress/2024/01/29/der-umstand-dass-zuschlaege-nicht-zeitnah-gezahlt-werden-besteht-seit-jahren/

                                                                                         4.          

Gleichzeitig hat die FU-Berlin die Mitbestimmungsrechte ihrer Personalvertretungsorgane bei der Durchführung von Dienstplänen verletzt, indem sie – wie in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren VG 62 K 6/22 PVL durch Anerkenntnisbeschluss vom 17.05.2023 festgestellt wurde – Dienstpläne für die wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen der Klinik für Klauentiere, Dienstpläne für die Bereiche Poliklinik, Labor, OP und Apotheke der Klinik für kleine Haustiere, Dienstpläne für die Tierärzt/innen sowie die wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen im Bereich WE20 und Anordnungen der Rufbereitschaftsdienste  im chirurgischen Dienst an der Klinik für Haustiere in Kraft setzte, ohne dass der Personalrat diesen zugestimmt hatte oder seine Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt worden war.

Mit Anerkenntnisbeschluss vom 20.03.2024 stellte das Verwaltungsgericht in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren 61 VG 61 K 6.22 PVL zudem fest, dass die Beklagte durch nicht mitbestimmte Rufdienstbereitschaftsdienste des Bereichs Dahlem-Nord im Mai 2022 und Juni 2022 sowie durch nachträgliche, ohne Kenntnis und Zustimmung des Personalrats Dahlem erfolgte Änderungen des Rufbereitschaftsdienstplans Botanischer Garten/Botanisches Museum 1. Halbjahr 2022 in insgesamt 10 weiteren Fällen gegen das Mitbestimmungsrecht des Antragstellers aus § 85 Abs. 1 Ziff. 1 i.V.m. § 79 PersVG Berlin verstoßen hat.

                                                                                         5.

Es gibt somit – anders als in der Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Berlin vom 06.01.2025 beschrieben – ausreichend Belege dafür, dass an der FU gegen den von ihr mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen TarifvertragTV-L FU und auch gegen die Mitbestimmung der Personalvertretungsorgane der FU Berlin verstoßen wurde.

                                                                                         6.

Darüber hinaus  war das Arbeitsgericht Berlin der Auffassung, dass für die von dem Betriebsgruppenvorstand erhobenen Vorwürfe auch deswegen Anhaltspunkte in der Realität fehlten, weil etwa die Fremdvergabe von Reinigungsarbeiten im öffentlichen Dienst üblich sei.

Kritisiert hatte die Betriebsgruppe, dass gerade Beschäftigtengruppen der unteren Lohngruppen und mit hohem Migrant*innenanteil wie z.B. Reinigungskräfte an der FU ausgegliedert und damit von der betrieblichen Gemeinschaft ausgegrenzt und schlechter gestellt würden. Dieser Umstand ist schlicht Tatsache und wird auch von der FU nicht geleugnet. Sie hat ihre diesbezügliche Praxis in dem gerichtlichen Verfahren mit dem Gebot der sparsamen Haushaltsführung begründet.

                                                                                         a.

Die Reinigungsbeschäftigten, die bei der Beklagten angestellt sind, haben in dem Zeitraum vom 01.12.2022 bis 31.10.2024 in der Entgeltgruppe EG 2 des TV-L einen Stundenlohn von 17,92 €/Brutto erhalten. Die bei der Drittfima angestellten Reinigungsbeschäftigten erhalten demgegenüber 13,50  €/Brutto.

Quelle: Tabelle: https://www.oeffentlicher-dienst.info/c/t/rechner/tv-l-2023&matrix=v

                              (oben rechts kann man den Werktagswert einstellen. Daraus ergibt sich der                                             Stundenlohn: 141,25 € : 7,88 Stunden = 17,92 €)

https://www.die-gebaeudedienstleister.de/die-branche/tarifpolitik/lohntarifvertrag-2021-2023

Die Einsparungen, die die Beklagte mit dem Outsourcing der Reinigungsbeschäftigten im Namen des „Gebots der sparsamen Haushaltsführung“ erzielen möchte, erzielt sie auf Kosten der dort Beschäftigten, deren Lohn 4,42 €/Std. niedriger liegt und gerade einmal einem Prozentsatz von 75,33% der Entlohnung nach dem TV-L FU entspricht.

                                                                                         b.

Der Gesamtpersonalrat der FU-Berlin hatte schon im April 2022 anlässlich eines Interviews der Vizepräsidentin der FU-Berlin, das unter dem Titel „Alle Mitglieder der Universität tragen dazu bei, die Universität als diskriminierungsfreien Ort zu gestalten“ veröffentlicht worden war, darauf hingewiesen, dass eine  „diskriminierungsfreie Universität“ auch die Rückführung von ausgegliederten und migrantischen Beschäftigtengruppen z.B. des Bereichs Reinigung beinhalten müsse. Die Beschäftigtengruppen würden bis heute eben jene Ausgrenzung erfahren, die die Beklagte abbauen wolle, weil sich diese Beschäftigtengruppe bei Problemen nicht an die Personalratsgremien, die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten oder den sozialen Dienst der Beklagten wenden könnten. Ebenso wenig würden sie von Dienstvereinbarungen und vom TV-L FU profitieren. Sie seien finanziell nicht gleichgestellt und verfügten nicht über die gleichen Rechte wie die übrigen Beschäftigten der Beklagten. Das vorherrschende Outsourcing bewirke das Gegenteil von Gleichstellung und Integration.

                                                                                         c.

Über die Arbeitsbedingungen, die in der Reinigungsbranche vorherrschen, strahlte der Fernsehsender RTL am 04.04.2024 unter dem Titel „Schmutz und Gier – under cover in der Reinigungsbranche“ über den Reinigungsdienst „CAPTIAL INFRADIENST“ einen Beitrag aus, der von Günter Walraff moderiert wurde. CAPITAL INFRADIENST ist eine der Reinigungsfirmen, die auch die Beklagte als Fremdfirma zur Reinigung ihrer Gebäude einsetzt.

In dem von RTL gezeigten Beispiel waren die Arbeitsbedingungen so ausgestaltet, dass die Reinigungsbeschäftigten in 4 Stunden das leisten mussten, wofür nach dem Leistungsverzeichnis der FU-Berlin 8,71 Stunden vorgesehen waren und von der FU-Berlin auch an CAPITAL INFRADIENST gezahlt wird. Selbst bei größter Anstrengung ist es  – wie der Bericht von RTL zeigte  – nicht möglich, die Gebäude mit der doppelten Geschwindigkeit gründlich zu reinigen. Bei Urlaub und Krankheit wurden den Beschäftigten nach Angaben eines Kollegen trotz eines Vertrags über eine Arbeitszeit von 8 Stunden täglich nur 4 Stunden täglich gezahlt.

Quelle: https://www.plus.rtl.de/video-tv/shows/team-wallraff-reporter-undercover-242031/2024-4-993984/episode-1-schmutz-und-gier-undercover-in-der-reinigungsbranche-973676

Die Mitglieder des Betriebsgruppenvorstandes wussten im Übrigen sehr genau, wovon sie sprechen. Ein Teil von ihnen – so auch unser Mandant – war bis 2018 selbst in einer von der FU ausgegründeten einhundertprozentigen Tochtergesellschaft beschäftigt, der sog. Betriebsgesellschaft Botanischer Garten/Botanisches Museum, die in ihrer Anfangszeit vom 01.04.2007 bis 30.09.2007 den von ihr angestellten Beschäftigten des Botanischen Gartens (Besucherservice, Gartenservice, Reinigungsservice, Technikservice) zum Teil gerade einmal 6,00 Euro/Stunde Brutto (Besucherservice) zahlte. 

Quelle: Reinhold Niemerg: Die Ausgründung der ‚Betriebsgesellschaft BGBM mbH“ im Botanischen Garten. Ein Lehrstück übe die Folgen formeller Privatisierung im öffentlichen Dienst“ in: Jana Seppelt, Reinhold Niemerg u.a.: Der Aufstand der Töchter. Botanischer Garten Berlin: Gemeinsam staatlich organisierte prekäre Beschäftigung überwinden, 2018, S. 35 -46, vgl. dort S.  56.

                                                                                         VI.

Tarifflucht bleibt Tarifflucht. Sie  wird auch dadurch nicht besser, dass sie von einer Vielzahl von Unternehmen praktiziert wird und die Fremdvergabe von z.B. Reinigungsarbeiten im öffentlichen Dienst  – wie das Arbeitsgericht Berlin annimmt – üblich ist. Die hier auch an der FU-Berlin zu tage tretende Normalität ist  der Skandal, auf den die Betriebsgruppe in ihrem Aufruf vom 30.01.2024 aufmerksam gemacht hat.

                                                                                       VII.

Die Einschätzung des Betriebsgruppenvorstands, dass die Arbeitsbedingungen – so auch die Arbeitsbedingungen an  der FU-Berlin – einen Einfluss haben, wie sehr antidemokratische Einstellungen angenommen und vertreten werden, hat insbesondere die Hans-Böckler Stiftung in ihren Forschungsarbeiten herausgearbeitet.

                                                                                       1.

Starke Mitbestimmungs- und Tarifstrukturen bieten einen indirekten Schutz vor rechten Einstellungen, weil Erwerbstätige, deren Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag geregelt werden und eine betriebliche Interessenvertretung aufweisen, von besseren Arbeitsbedingungen berichten als diejenigen, für die dies nicht gilt.

Umgekehrt stimmen diejenigen, die nicht entscheiden können, wie die tägliche Arbeit organisiert wird, wessen Arbeit nicht abwechslungsreif ist, wer keine kollegiale Unterstützung erwarten kann und wer den Lohn als zu niedrig empfindet, antidemokratischen Einstellungen überdurchschnittlich häufig zu.

Quelle: https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-gute-arbeit-starke-demokratie-35599.htm

https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-auf-einen-blick-rechtspopulismus-in-deutschland-37867.htm

                                                                                         2.          

Erwerbspersonen, die unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind, bei denen die Bezahlung nicht stimmt und die im Job wenig Mitsprachemöglichkeiten haben, haben in Deutschland und zahlreichen weiteren untersuchten Ländern überdurchschnittlich oft negative Einstellungen gegenüber der Demokratie in ihrem Land und gegenüber Zugewanderten. Zudem fühlen sie sich stärker von der Transformation von Wirtschaft und Arbeitswelt bedroht. Bessere Arbeitsbedingungen – so die Studie – korrelieren hingegen mit positiveren Einstellungen zur Demokratie und einem höheren Vertrauen in deren Institutionen.

Quelle: https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-auf-einen-blick-rechtspopulismus-in-deutschland-37867.htm

                                                                                         3.

Die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans Böckler-Stiftung (WSI), Frau Bettina Kohlrausch fasst die Ergebnisse der Studie dahingehend zusammen, dass von ihr drei Botschaften ausgehen:

                                                                                         a.                                                                                    

Erstens zeige die Studie, dass schlechte Arbeitsbedingungen und das sich daraus ergebende Potential für Frust sowie Benachteiligungs- und Ohnmachtserleben in allen untersuchten Ländern ein Nährboden für die Entstehung anti-demokratischer Einstellungen sind, die dann von rechten Parteien mobilisiert werden können.

                                                                                         b.          

Zweitens stärken gute Arbeitsbedingungen das Vertrauen in die EU und das selbst in den Ländern, in denen EU-ablehnende Parteien regieren oder bis vor kurzen regiert haben.

                                                                                         c.           

Drittens stärken Transformationssorgen extrem rechte Parteien. Progressive Kräfte in der EU sollten daher ein Interesse daran haben, diese Transformationsprozesse sozial gerecht zu gestalten. Die Arbeitswelt ist europaweit relevant, um den Aufstieg der politischen extremen Rechten zu verstehen und zu bekämpfen.

Quelle:  https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-auf-einen-blick-rechtspopulismus-in-deutschland-37867.htm

                                                                                         3.

Auch das arbeitgebernahe ifo-Institut weist in einer Studie darauf hin, dass mehr Armutsgefährdung in einer Region zu mehr Stimmen für Rechtsextreme führt. Steigt der Anteil von Haushalten unter der Armutsgrenze (=  60% und weniger des mittleren Haushaltseinkommens)  um einen Prozentpunkt, steigt der Stimmenanteil von rechtsextremen Parteien um 0,5 Prozentpunkte bei den Bundestagswahlen.

Quelle: https://www.ifo.de/pressemitteilung/2024-03-13/mehr-armutsgefaehrdung-fuehrt-zu-mehr-stimmen-fuer-rechtsextreme 

                                                                                         4.

In der wissenschaftlichen Diskussion sehen die meisten Autor/innen Brünings Austeritäts- und Deflationspolitik als schweren Fehler, der maßgeblich zum Kollaps der Weimarer Republik und zum Aufstieg Hitlers beigetrage habe.

Quelle: Lukas Haffert: Die schwarze Null. Über die Schattenseiten ausgeglichener Haushalte, 2016, S. 35).

Danach hat nicht zuletzt Brünings Austeritätspolitik der NSDAP zusätzlich viele Wähler/innen in die Arme getrieben. Von der Wahl im September 1930 bis zur Wahl im Juli 1932, also nur zwei Monate nach dem Rücktritt Brünings, verdoppelte sich ihr Stimmenanteil von 18 auf 37 Prozent.

Quelle: https://www.diw.de/de/diw_01.c.842792.de/90_jahre_bruening-ruecktritt__austeritaetspolitik_schadete_der_wirtschaft_schon_in_den_1930er_jahren.html

                                                                                         5.

 Der langjährige Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), Ulrich Schneider hatte schon angesichts der Eingliederung  der Beschäftigten der 2007 als 100%ige FU-Tochtergesellschaft ausgegründeten Betriebsgesellschaft Botanischer Garten/Botanisches Museum in die FU im Jahr 2018 darauf hingewiesen, dass die Begründungen für Ausgliederungen, Privatisierungen und andere Formen der Tarifflucht im Öffentlichen Dienst manchmal an die Brüning’sche Krisenpolitik am Ende der Weimarer Republik erinnerten. Die Versuche, durch Lohnabbau für Arbeiter, Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes und weitere Sparmaßnahmen bei den öffentlichen Ausgaben den Haushalt zu konsolidieren, führten de facto zu einer Vertiefung der wirtschaftlichen Krise, die zudem von einer gesellschaftlichen Krise begleitet wurde, die der NSDAP politischen Rückenwind brachte.

„Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben aus der Geschichte die Konsequenz gezogen, auch und gerade in Krisenzeiten und gerade in den Bereichen des öffentlichen Dienstes sozialpolitischen Widerstand zu leisten. Sie erinnern die öffentlichen Einrichtungen daran, dass es nicht nur eine Sozialbindung des Eigentums gibt (Art. 14 GG), sondern dass der Staat und seine Einrichtungen eine besondere Verantwortung für die Einhaltung sozialer Standards haben. Dabei geht es nicht nur um die soziale Gleichstellung aller Beschäftigten, sondern auch um die Auswirkungen solch inklusiven solidarischen Handelns für die eigenen Interessen gegen Ausgrenzung und Rechtsentwicklung“.

Quelle: Ulrich Schneider: Vorwort in: Jana Seppelt, Reinhold Niemerg u.a. Der Aufstand der Töchter. Botanischer Garten Berlin: Gemeinsam staatlich organisierte prekäre Beschäftigung überwinden, S. 8.

                                                                                         6. 

Es besteht mithin ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zunahme der Armutsgefährdung und der Zunahme der Stimmen für rechtsextreme Parteien. Aus diesem Zusammenhang zwischen Verschlechterung der Löhne und verbesserten Wahlergebnissen für die AfD und Rechtsextreme ergibt sich die besondere Bedeutung, einem allgemeinen Trend entgegenzuwirken, der Tarifverträge nicht beachtet, aus ihnen flieht oder erst gar keine Tarifbindung eingeht.

                                                                                         7.

In dem Aufruf vom 30.01.2024 wird genau auf die vorgenannten Zusammenhänge mit Blick auf die betrieblichen Verhältnisse an der Freien Universität Bezug genommen. Schlechte Arbeitsbedingungen und das sich daraus ergebende Potential für Frust sowie Benachteiligungs- und Ohnmachtserleben – so zeigen die sozialwissenschaftliche Studien – sind ein Nährboden für die Entstehung anti-demokratischer Einstellungen, die dann von rechten Parteien mobilisiert werden können. Daher führt ein Verhalten, das das Vertrauen in den Bestand vereinbarter Tarifverträge erschüttert oder diese durch Tarifflucht in Form von Ausgliederung zu umgehen sucht, und damit verunsichert und so antidemokratische Einstellungen fördert, im Ergebnis zu einem Rechtruck sowie zum Aufstieg der AfD. In diesen Prozess ist auch die Beklagte als Arbeitgeberin eingebunden, deren Verhalten, soweit sie Tarifverträge nicht einhält oder im Zuge der Tarifflucht durch Ausgliederung zu umgehen sucht, zur Unzufriedenheit der Beschäftigten mit ihren Arbeitsbedingungen führt und im Ergebnis zur Entstehung anti-demokratischer Einstellungen beiträgt, die dann von rechten Parteien mobilisiert werden können und den Rechtsruck und Aufstieg der AfD befördern.                                                                                        

                                                                                         8.

Es ist eine der vorrangigen Aufgaben der Gewerkschaften, auf die gesellschaftspolitischen Auswirkungen hinzuweisen, die aus ihrem spezifischen Aufgabenbereich – der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – resultieren können und diese auch in Bezug auf die betriebliche Praxis der einzelnen Unternehmen konkret zu benennen und entsprechend zu adressieren.

                                                                                      VIII.

Einschätzung des Urteils:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin ist sowohl für die gewerkschaftliche Praxis und die Arbeit für die Betriebsgruppen in den Betrieben als auch mit Blick auf die künftige gesellschaftspolitische Entwicklung äußerst problematisch. Zum einen trägt es dazu bei, eine Tendenz zu befördern, dass pointiert vorgetragene gewerkschaftliche Kritik an den betrieblichen Zuständen vor Ort und ihre Einordnung in die gesellschaftspolitischen Entwicklungen sowie strukturellen Zusammenhänge in Zukunft von vornherein als Schmähkritik abgetan wird. Zum anderen ist es geeignet, die Arbeitgeber zu ermuntern, aktive Gewerkschaftsmitglieder in ihren Betrieben mit Abmahnungen und Kündigungsandrohungen zu überziehen, wenn diese sich kritisch hinsichtlich der vorherrschenden betrieblichen Verhältnisse äußern.

In dem vorliegenden Fall hat das Arbeitsgericht, ohne sich mit den konkreten Umständen der tarifvertragswidrigen Vorenthaltung der Zuschläge durch die FU-Berlin auseinanderzusetzen, die langjährige Nichtzahlung der Zuschläge lediglich als zu späte Zahlung gewertet, die in keinem Verhältnis zu dem Vorwurf stünde, dass die FU damit demokratische Prozesse bekämpfe oder gewerkschaftsfeindlich sei. Es handele sich insoweit nicht (mehr) um zulässige, wenngleich ggf. auch  polemische, überspitze Kritik an den betrieblichen Verhältnisses in der FU-Berlin, sondern um Schmähkritik. Es wertete die politische Einschätzung der Betriebsgruppe damit nicht als eine Auseinandersetzung in der Sache, sondern als eine Äußerung, bei der allein die Diffamierung der (juristischen) Person, der FU-Berlin, im Vordergrund gestanden haben soll, und geht damit an dem Anliegen der Betriebsgruppe, gesellschaftspolitische Zusammenhänge aufzeigen zu wollen, vollends vorbei.

Aktive Mitglieder der gewerkschaftlichen Betriebsgruppen müssen künftig mit der Möglichkeit rechnen, mit Abmahnungen und Kündigungen in ihrer Existenz bedroht zu werden, wenn sie das konkrete betriebliche Verhalten ihres Arbeitgebers kritisch in gesellschaftspolitische Zusammenhänge einzuordnen versuchen. Mit dem Begriff der Schmähkritik unterbindet das Arbeitsgericht von vornherein die in diesen Fällen verfassungsrechtlich zwingend gebotene Abwägung der Meinungs- und Koalitionsfreiheit der Gewerkschafter/innen mit  den ggf. gegenläufigen verfassungsrechtlich geschützten Positionen der Arbeitgeber.

Das Arbeitsgericht übergeht in seinem Urteil das berechtigte Interesse der Gewerkschaften, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder und der abhängig Beschäftigten insgesamt zu fördern. Man wird ihnen nicht verdenken können, dass sie die Nichteinhaltung vereinbarter Tarifverträge als aktive Bekämpfung von Mitbestimmung und demokratischen Prozessen und als Kampfansage an die Gewerkschaften verstehen. Denn was ist ein Tarifvertrag, was ist die mit seiner Vereinbarung verbundene gewerkschaftliche Mitbestimmung wert, wenn der Tarifvertrag von der Gegenseite nicht eingehalten wird? 

Das Arbeitsgericht Berlin hat sich in seinem Urteil vom 05.12.2024 zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bezogen. Das BAG weist mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darauf hin, dass der Begriff der Schmähkritik eng definiert ist und nicht – wie das Arbeitsgericht Berlin dies macht – in verfassungsrechtlich unzulässiger Art und Weise überdehnt werden darf.  Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit – so das Bundesverfassungsgericht – sind schon dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird. Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidigung oder Schmähung mit der Folge, dass eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entbehrlich ist, liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung  der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht.

Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin kann daher keinen Bestand haben. Wir haben entsprechend Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Das Verfahren wird dort unter dem Geschäftszeichen 23 SLa 94/25 geführt.

Eine weitere ausführliche gutachterliche Stellungnahme unserer Kanzlei finden Sie hier:

https://www.verdi-fu.de/wordpress/wp-content/uploads/2024/05/gutachterliche_Stellungnahme.pdf

Benedikt Hopmann                                                                                                 Reinhold Niemerg Rechtsanwalt                                                                                                            Rechtsanwalt