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Wessen Welt ist die Welt?

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Rede von Benedikt Hopmann am 9. November 2021 aus Anlass des Jahrestages der Novemberrevolution 1918:

Die Gesundheitsversorgung

Silvia Habekost, aktiv in der Gewerkschaft ver.di und der Berliner Krankenhausbewegung, hat beschrieben, wie die Krankenhausbewegung für bessere Bedingungen für Arbeitskräfte und die Patienten in den Krankenhäusern kämpft. Der entscheidende Einschnitt in die Gesundheitsversorgung war gekommen, als den Krankenhäusern ermöglicht wurde, Gewinne zu erwirtschaften, und Fallpauschalen eingeführt wurden. Die Krankenhäuser wurden in den gegenseitigen Wettbewerb getrieben. An den Pflegekräften wurde gespart. Krankenhäuser, die Verluste auswiesen, wurden entweder geschlossen oder privatisiert. So entstanden große private Unternehmen, die mit Krankenhäusern Gewinne machten wie andere Konzerne mit der Produktion von Autos. Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, wo es verboten war, in einem Krankenhaus Gewinne zu erwirtschaften. Die Krankenhäuser waren in öffentlicher Hand oder wurden von kirchlichen Einrichtungen betrieben. Diese großen privaten Krankenhauskonzerne, die den Betrieb von Krankenhäusern zu ihrem Geschäftsmodell machten, gab es nicht. Jetzt aber werden die Krankenhäuser in öffentlicher Hand zu einer auf Gewinn orientierten Wirtschaftsführung gezwungen. Wettbewerb in den Krankenhäusern ist die Devise.

In Berlin regte sich der Widerstand allerdings nicht in den privaten Krankenhäusern, sondern in den öffentlichen, in der größten Universitätsklinik Europas, der Charité, und im größten kommunalen Krankenhauskonzern Vivantes und deren Töchtern. Die öffentlichen Krankenhäuser werden nicht von dem Wettbewerb verschont, der entfesselt wurde. So wurden auch dort massiv Pflegekräfte eingespart. Andererseits gibt es in den öffentlichen Krankenhäusern besonders gute Möglichkeiten wirksamen Druck aufzubauen. Das hat die Berliner Krankenhausbewegung mit ihrem 100 Tage Ultimatum, ihrem Streik und anderen Aktionen, mit denen sie die Politik direkt in die Verantwortung nahm, eindrucksvoll demonstriert. Die Landesregierung kann unter erheblichen Druck gesetzt werden, weil sie als Eigentümerin der Krankenhäuser unmittelbar für die Zustände dort verantwortlich ist.

Schon allein diese erweiterten Einwirkungsmöglichkeiten der Beschäftigten sind ein wichtiges Argument für Krankenhäuser in öffentlicher Hand.    

Nicht nur das Gesundheitswesen wurde von einer systematischen Privatisierung überzogen, sondern viele andere Bereiche des Lebens auch. Nichts blieb verschont. Alles wurde zu einer Kapitalanlage.

Die Bahn

Auch die Bahn. Die Deutsche Bahn wurde zu einer Aktiengesellschaft umgewandelt und Bahnchef Mehdorn setze alles daran, den Verkauf der Aktien an Private vorzubereiten. Es reichten damals schon die Vorbereitungen auf die geplante Privatisierung, um allen klarzumachen, wohin die Reise geht. Die Privatisierung selbst kam damals nicht mehr zustande, weil die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise allen Verkaufsplänen einen Strich durch die Rechnung machte. Die Deutsche Bahn und mit ihr die Berliner S-Bahn blieb zu 100 Prozent in staatlicher Hand.

Erinnert sich noch jemand an die S-Bahn Krise im Jahr 2009? Wir standen im Winter frierend an den Bahngleisen und warteten auf den nächsten Zug – oft vergeblich.

Der Grund war ein massives Sparprogramm, zu dem Bahnchef Mehdorn drei Jahre zuvor die Bahn gezwungen hatte. Das war die Vorbereitung, um die Aktien der Deutschen Bahn AG besser an Private verkaufen zu können. Die „Braut“ für den Verkauf „schön machen“ heißt das in diesem merkwürdigen Aktionärsjargon. 2006 beschäftigte die S-Bahn 3.700 Menschen. Zwei Jahre später waren es 900 weniger. Die wichtige Betriebswerkstatt Friedrichsfelde wurde geschlossen. Personalmangel führt zu Wartungsmängeln. Die Folgen im Jahr 2009: Radbruch, Zugentgleisung. Die Aufsichtsbehörde trat auf den Plan und zog zeitweilig 75 Prozent der Viertelzüge aus dem Verkehr.

Also:

Privatisierung ist nicht die Lösung, Privatisierung ist das Problem.

Und welche Lehre zog der Senat daraus? Hat er daraus gelernt?

Vor einem Jahr schrieb der Senat den Betrieb der S-Bahn europaweit aus. Berlin musste das nicht. Sie kann die S-Bahn auch in eigener Regie betreiben, wie sie das im U-Bahn-, Straßenbahn- und Busverkehr mit der landeseigenen BVG auch tut.

Doch aufgrund der Ausschreibung können sich jetzt auch private Unternehmen bewerben. Bekommt eines von ihnen den Zuschlag, dann ist der Betrieb der S-Bahn privatisiert, und zwar über Jahre hinaus.

Wettbewerb auf der Schiene ist auch das Zauberwort, das in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird.

Die Folgen kann man zurzeit in Baden-Württemberg und NRW besichtigen: Dort hat der private Bahn-Betreiber Abellio Insolvenz angemeldet. Aber der Bahnbetrieb muss weiterlaufen. Jedes Unternehmen, das jetzt diesen beiden Ländern aus der Not hilft, wird sich das teuer bezahlen lassen. Diese Länder haben sich mit der Privatisierung des Bahnbetriebes erpressbar gemacht.

Daher die eindringliche Warnung:

  • Es gibt Argumente für einen besseren öffentlichen Nahverkehr,
  • es gibt aber kein Argument für seine Privatisierung.

Die Konsequenz für die S-Bahn:

  • Die Ausschreibung der S-Bahn muss sofort abgebrochen werden.

Noch ist es nicht zu spät, wie die unermüdliche Arbeit der Initiative „Eine S-Bahn für alle“ in einem Gutachten nachgewiesen hat, das von ihr in Auftrag gegebenen wurde. Wenn das Land jedoch zu lange wartet, kann der Ausstieg sehr teuer werden. Und das will der Senat dann auch.

Nicht nur die S-Bahn, auch die bundesweite Deutsche Bahn ist gefährdet. Die Parteien, die demnächst die Bundesregierung stellen wollen, scheinen sich jedenfalls das Ziel gesetzt zu haben, die Bahn zu zerschlagen. Das Schienennetz soll unabhängig von der Deutschen Bahn AG verwaltet werden und auf diesem Schienennetz der Betrieb der Regio- und Fernbahnen und des Güterverkehrs der Deutschen Bahn AG mit privaten Bahnbetreibern konkurrieren. ‚Wettbewerb‘ auch hier das Zauberwort. Jetzt nicht ‘Wettberwerb in den Krankenhäusern’, sondern: ‚Wettbewerb auf der Schiene‘. Dann folgte die Privatisierung.

Anders ist es in der Schweiz. Dort wird der Fernverkehr überwiegend in öffentlicher Haand betrieben, von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) – in enger Kooperation mit vielen kantonalen Bahnunternehmen, mit einem perfekt abgestimmten integralen Taktfahrplan und einem zuverlässigen Verkehr und ohne Trennung von Netz- und Zugbetreibern [1]siehe Dr. Bernhard Knierim “Wie der Wettberwerb die Bahn beschädigt”. Was in der Schweiz möglich ist, sollte auch in Deutschland möglich sein.

Es gab und gibt Gegenwehr. Silvia Habekost hat das am Beispiel der Krankenhausbewegung beschrieben. Gegen die Ausschreibung der S-Bahn mobilisiert das Bündnis „Eine S-Bahn für Alle!“.

Und ich erinnere an die zwei erfolgreichen Volksentscheide in Berlin gegen den Ausverkauf öffentlichen Eigentums.

Das Wasser

In dem ersten Volksentscheid ging es um die Privatisierung des Wassers.

Die Initiative “Wasserprivatisierung – Nein danke!” bekam so viel Unterstützung, dass die Stadt die Anteile an den Berliner Wasserbetrieben, die sie an die Konzerne RWE und Veolia verkauft hatte, wieder zurückkaufen musste. Die Rückführunng der Wasserbetriebe in städtisches Eigentum war also ein Rückkauf und keine Enteignung. Trotzdem stand die Auseinadersetzung um das Eigentum im Zentrum der Auseinadersetzung: Wem gehört das Wasser? Wem gehören die Wasserbetriebe?

Große Bedeutung für den Erfolg der Kampagne hatte der Umstand, dass um ein grundlegendes Lebensmittel für alle ging, das Wasser. Johanna Erdmann von der Initiative ‘Wassertisch’ hat in dem Video, das wir eingespielt haben, dazu wichtige Hinweise gegeben.

Die Initiative Wassertisch war eine Reaktion – ein Akt der Gegenwehr. Nicht der Wassertisch, der Senat hatte mit dem Verkauf von Anteilen an den Berliner Wasserbetrieben zuerst die Frage “Wem soll das Wasser gehören?” auf die Tagesordnung gesetzt.

Dass der Berliner Senat zum Rückkauf des Wassers gezwungen werden konnte, zeigt: Es ist möglich, zu gewinnen. Das machte vielen Mut. Und es wuchs die Erkenntnis:

  • Wenn etwas in öffentlicher Hand ist, ist nicht immer alles gut.
  • Aber mit Sicherheit wird nach einer Privatisierung alles schlechter.

Die Wohnungen

In dem zweiten erfolgreichen Volksentscheid ging es um die Wohnungen in Berlin:

200.000 Wohnungen privatisierte der Berliner Senat zwischen 1990 und 2005. Allein im Jahr 2004 ging der ganze Bestand der landeseigenen GSW – 65.000 Wohnungen – an das private Unternehmen Cerberus, das diese Wohnungen später unter anderem an die Deutsche Wohnen weiterverkaufte.

Damit hatte der Senat die Möglichkeit aus der Hand gegeben, auf die Mietpreise von 200.000 Wohnungen dämpfend einzuwirken.

Allein von 2012 bis 2021 stiegen die Mieten von über 6 €/qm auf über 10 €/qm[2]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/535119/umfrage/mietpreise-auf-dem-wohnungsmarkt-in-berlin/.

Nicht nur die Mieten stiegen, auch die Empörung stieg.

Daraus entstand die Idee, alle großen privaten Wohnungsunternehmen zu enteignen. So erhofft man sich, die explodierenden Mieten besser in den Griff zu bekommen.

Immer wieder wird behauptet, das Geld wäre besser in mehr Neubau angelegt. Aber:

  • Man kann das eine tun und das andere nicht lassen:
  • Man kann enteignen und neu bauen

Der Berliner Haushalt wird jedenfalls mit keinem einzigen Cent belastet, wenn den enteigneten Unternehmen eine Entschädigung gezahlt wird. Der Senat hat das selbst kurz vor den Wahlen vorgemacht: Er ließ 14.750 Wohnungen von der DW und Vonovia zurückkaufen, aber nicht über die Berliner Landeskasse, sondern über seine Wohnungsgesellschaften. Den Kaufpreis holen sich diese Wohnungsgesellschaften über die Mieten zurück. Das Land Berlin wird mit keinem Cent belastet. Der Berliner Finanzsenator Kollatz beschrieb diesen Deal als einen guten Vertrag, als einen „Vertrag   mit Zukunft“.

Der Preis für jede Wohnung betrug allerdings bei diesem Rückkauf mehr als das 20-fache von dem, was Cerberus dem Senat im Jahr 2004 für diese Wohnungen gezahlt hatte.

Das Wort Cerberus kommt aus dem Lateinischen und heißt Höllenhund. Der Begriff Privatisierung kommt auch aus dem Lateinischen und ist von privare abgeleitet. Privare heißt berauben.

Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ verfolgte von Anfang an nicht das Ziel, die privatisierten Wohnungen zurückzukaufen. Ihr Ziel war die Enteignung:

Alle privaten Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin sollen enteignet werden.

Der Unterschied zwischen Rückkauf und Enteignung ist der:

  1. Die privaten Wohnungskonzerne haben bei einer Enteignung nicht mehr die Entscheidungsfreiheit, ihr Eigentum aufzugeben oder nicht. Sie werden dazu verpflichtet.
  2. Der Senat ist nicht zur Zahlung eines Kaufpreises, sondern nur zu einer Entschädigung der enteigneten Unternehmen verpflichtet. Eigentlich ist jeder € Entschädigung ein € zu viel. Aber ohne Entschädigung geht es nicht. Wie hoch diese Entschädigung ist, wird am Ende durch die Gerichte entschieden werden. Spekulationsgewinne müssen zum Beispiel nicht berücksichtigt werden.

Am Tag der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und Bundestag stimmten über 56 Prozent für die Enteignung. Selbst ein erheblicher Teil der Wählerinnen und Wähler von FDP, AFD und CDU stimmten für die Enteignung. 2,5 Millionen Berlinerinnen und Berliner durften sich an dieser Volksabstimmung beteiligen. ¾ dieser 2,5 Millionen beteiligten sich. Über eine Millionen Menschen stimmten für die Enteignung.

Die Forderung im Volksentscheid stützt sich auf Artikel 15 Grundgesetz.

Diese Möglichkeit zur Enteignung großen Kapitals wurde nach dem 2. Weltkrieg in das Grundgesetz aufgenommen, weil bis in die CDU hinein Einigkeit herrschte, dass das große Kapital für Krieg und Faschismus in hohem Maß zumindest mitverantwortlich gewesen war.

Dabei wurde auf eine Regelung aus der Weimarer Reichsverfassung zurückgegriffen[3]§ 156 Satz 1 WRV . Die Möglichkeit zur Vergesellschaftung großen Kapital ist also ein Kind der Novemberrevolution. Der 1. Reichsrätekongress, der im Dezember 1918 im jetzigen Berliner Abgeordnetenhaus tagte, „beauftragte die Regierung, mit der Sozialisierung aller herzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen“. Das wurde in die Weimarer Reichsverfassung aufgenommen, nicht als Auftrag, so wie es der Reichsrätekongress beschlossen hatte, aber als eine zulässige Möglichkeit. Und so steht es auch heute noch im Grundgesetz: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können … in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Dabei ist eine Entschädigung vorgeschrieben, die aber einigen Spielraum lässt, was die Höhe dieser Entschädigung angeht. Wörtlich heißt es: „Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen“.  

Diese Möglichkeit zur Enteignung großen Kapitals auf der Grundlage von Art. 15 Grundgesetz wurde bisher jedoch nie genutzt. Deswegen nennen wir die Novemberrevolution eine unvollendete Revolution.

Aber nach über 100 Jahren Dornröschenschlaf beruft sich die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ auf diesen Artikel 15 Grundgesetz und über eine Millionen Menschen stimmen für die Enteignung.

Und was macht der Senat? Der setzt eine Kommission ein, die ein Jahr lang beraten sollen. Das klingt nach Beerdigung und erinnert an das, was alle Regierungen in den letzten 100 Jahren gemacht haben, wenn sie mit Enteignungsforderungen konfrontiert wurden. Sie weigerten sich, diese Forderungen umzusetzen, auch wenn die Mehrheit dafür gestimmt hatte.

Ob sich das allerdings die Aktivisten der Kampagne „DW & Co enteignen“ gefallen lassen, ist eine ganz andere Frage.

Denn genau da, wo für den neuen rot-rot-grünen Senat die Demokratie aufhört, fängt für uns die Demokratie an, bei der Frage:

Wessen Welt ist die Welt?[4]Solidaritätslied von Brecht /Eisler.


      

References