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EGfMR Nr. 52051/17 ATEŞ AND OTHERS v. TÜRKİYE

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ENTSCHEIDUNG

Klage Nr. 52051/17

Sabri Alparslan ATEŞ gegen Türkiye

und 2 weitere Anträge

(siehe Liste im Anhang)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Zweite Sektion) hat in seiner Sitzung vom 28. Februar 2023 als Ausschuss, bestehend aus:

Egidijus Kūris, Präsident,

Pauliine Koskelo,

Frédéric Krenc, Richter,

und Dorothee von Arnim, stellvertretende Kanzlerin der Sektion,

in Anbetracht der:

die von den in der beigefügten Tabelle aufgeführten Beschwerdeführern (im Folgenden: Beschwerdeführer) beim Gerichtshof gemäß Artikel 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Konvention) eingereichten Beschwerden gegen die Republik Türkiye zu dem dort angegebenen Zeitpunkt;

die Entscheidung, die Beschwerde gemäß Artikel 11 der Konvention an die türkische Regierung (“die Regierung”), vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Herrn Hacı Ali Açıkgül, Leiter der Menschenrechtsabteilung des Justizministeriums, zu richten und die übrigen Anträge für unzulässig zu erklären;

die Erklärungen der Parteien;

beschließt nach Beratung wie folgt:

GEGENSTAND DER RECHTSSACHE

1. Die Klagen betreffen die Entlassung der Kläger, die angeblich gegen das Fehlen eines sinnvollen Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, und gegen den Druck, den der Arbeitgeber in dieser Hinsicht auf sie ausgeübt hatte, protestiert hatten, sowie die Ablehnung ihres Antrags auf Wiedereinstellung in ihr ursprüngliches Arbeitsverhältnis und auf Entschädigung durch die nationalen Gerichte.

2. Die Kläger arbeiteten als Arbeiter in einer Fabrik und waren Mitglieder einer Metallgewerkschaft, Türk Metal iş Sendikası. Zwischen dem 25. Mai 2015 und dem 1. Juni 2015 traten mehrere Mitglieder, darunter auch die Kläger, aus der Gewerkschaft aus.

3. Nach Angaben der Kläger wurden sie und ihre Kollegen nach ihrem Austritt aus der Gewerkschaft von der Gewerkschaft und ihrem Arbeitgeber unter Druck gesetzt. Am Morgen des 2. Juli 2015 forderten mehrere Arbeitnehmer, die in der Frühschicht arbeiteten, darunter auch die Kläger, die Betriebsleitung auf, den Druck, dem sie von der Gewerkschaft ausgesetzt waren, zu beenden, die Büros der Gewerkschaft zu schließen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Da sie keine positive Antwort von der Unternehmensleitung erhielten, beschlossen sie, die Arbeit einzustellen und warteten auf die Erfüllung ihrer Forderungen, während sie die Fabrik besetzten.

4. Am nächsten Tag teilte die Unternehmensleitung den Beschäftigten, die die Fabrik besetzt hielten, mit, dass sie entlassen würden, wenn sie den Betrieb nicht verlassen würden. Am 3. Juli 2015 schickte die Geschäftsleitung den Klägern Hasan Uzun und Murat Tıngöz die Kündigungen zu. Außerdem wurden auch andere Kollegen, die die Fabrik besetzten, entlassen und ihnen wurde mitgeteilt, dass beschlossen worden sei, die Produktion für einen Tag auszusetzen.

5. Am 4. Juli 2015 wurde die Produktion für einen weiteren Tag ausgesetzt, und den Besetzern wurde mitgeteilt, dass sie nicht entlassen würden, wenn sie die Arbeit am 6. Juli 2015 wieder aufnähmen. Am 5. Juli 2015 räumte die Polizei die Besetzer ohne Gewaltanwendung. Die Aktion dauerte somit drei Tage lang an, und die Produktionstätigkeit wurde durch die Abwesenheit der Arbeitnehmer, einschließlich der Kläger, beeinträchtigt. Die Geschäftsleitung teilte den Beschäftigten mit, dass die Fabrik am 6. Juli 2015 wieder geschlossen würde. An diesem Tag entließ die Geschäftsleitung endgültig die Arbeitnehmer, die sich vom 2. Juli bis zum 5. Juli 2015 in und vor der Fabrik aufgehalten hatten, darunter auch die Kläger.

6. Zu den Gründen für die Entlassung von Sabri Ateş führte der Arbeitgeber im Allgemeinen an, dass der Kläger die Beschäftigten zur Fortsetzung der Besetzung ermutigt und provoziert habe, Parolen skandiert habe, die dem Ruf des Unternehmens geschadet hätten, und diese Handlungen trotz aller Bemühungen und Abmahnungen des Unternehmens fortgesetzt habe. In Bezug auf die beiden anderen Kläger machte der Arbeitgeber geltend, dass sie nicht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt seien und ihre illegalen Handlungen fortgesetzt hätten, obwohl sie schriftlich und mündlich aufgefordert worden seien, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren und die illegale Besetzung zu beenden, an der sie teilgenommen hätten.

7. Die Kläger erhoben daraufhin beim Arbeitsgericht eine Wiedereinstellungsklage und beantragten, festzustellen, dass die Entlassungen wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit erfolgt seien und dass ihr Arbeitsvertrag ohne wichtigen Grund gekündigt worden sei. Das Arbeitsgericht ordnete die Wiedereinstellung der Kläger an, da die Produktion in der Fabrik direkt durch die Entscheidung des Arbeitgebers, nicht aber durch die Arbeitnehmer, eingestellt worden war. Es stellte jedoch fest, dass nichts darauf hindeutete, dass die Kläger wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit entlassen worden waren.

8. Nach einer Berufung der Parteien hob der Kassationsgerichtshof am 29. Juni 2016 die Entscheidung des Arbeitsgerichts auf. Er vertrat die Auffassung, dass die angefochtene Maßnahme der Arbeitnehmer angesichts des gewählten Zeitpunkts, der Dauer und der großen Zahl der betroffenen Arbeitnehmer nicht verhältnismäßig gewesen sei. Außerdem betonte es, dass die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht in der Verfassung und den von der Türkei ratifizierten internationalen Verträgen anerkannt seien. Es vertrat jedoch die Auffassung, dass diese Freiheit nicht mit dem Ziel ausgeübt werden dürfe, die Tätigkeit des Arbeitgebers zu beeinträchtigen. Es betonte auch, dass sich die Aktion der Kläger nicht gegen den Arbeitgeber richtete, sondern gegen die Gewerkschaft, aus der sie ausgetreten waren, da die Kläger den von dieser Gewerkschaft unterzeichneten Tarifvertrag ablehnten. Schließlich wies es darauf hin, dass Forderungen wie der Ausschluss von Gewerkschaftsvertretern und die Anerkennung anderer Vertreter in einem Betrieb, in dem ein Tarifvertrag in Kraft ist und in dem die betreffende Gewerkschaft zur Ausübung von Gewerkschaftstätigkeiten berechtigt ist, nicht möglich sind. Es sei nicht möglich, dass die Vertreter einer Gruppe, die keine Rechtspersönlichkeit besitzt und keine gesetzliche Grundlage hat, vom Arbeitgeber als Arbeitnehmervertreter anerkannt werden.

9. Aus den zu den Akten gereichten Unterlagen ergibt sich, dass die Kläger vor den inländischen Gerichten nur die angebliche Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit gerügt haben.

10. Am 23. November 2016 wies das Verfassungsgericht die Individualbeschwerden der Beschwerdeführer, in denen diese eine Verletzung ihrer Rechte auf ein faires Verfahren und auf Vereinigungsfreiheit sowie einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot geltend gemacht hatten, als offensichtlich unbegründet zurück.

11. Unter Berufung auf Artikel 11 der Konvention rügten die Kläger eine Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit und auf freie friedliche Versammlung. Sie machen geltend, dass sie entlassen worden seien, weil sie gegen das Fehlen eines sinnvollen Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, und gegen den Druck, den sie diesbezüglich vom Arbeitgeber erhalten hätten, protestiert hätten.

WÜRDIGUNG DURCH DAS GERICHT

12. In Anbetracht des ähnlichen Gegenstands der Klagen hält es das Gericht für angebracht, sie in einer einzigen Entscheidung gemeinsam zu prüfen.

13. Die Kläger rügen eine Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit und ihres Rechts, sich friedlich zu versammeln, im Sinne von Artikel 11 der Konvention, weil sie entlassen worden seien, weil sie gegen das Fehlen eines sinnvollen Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, und gegen den Druck protestiert hätten, den sie in dieser Hinsicht vom Arbeitgeber erhalten hätten. Das Gericht ist der Auffassung, dass die von der Klägerin vor dem Gericht erhobenen Rügen allein unter dem Gesichtspunkt des Rechts der Klägerin auf Vereinigungsfreiheit zu prüfen sind (siehe oben, Randnr. 9).

14. Aus dem von den inländischen Gerichten festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Kläger wegen eines Streiks entlassen wurden. Der Gerichtshof bekräftigt seine Feststellungen in der Entscheidung Barış u. a./Türkei (Nr. 66828/16 vom 14. Dezember 2021), wonach Streiks grundsätzlich nur dann durch Artikel 11 geschützt sind, wenn sie von Gewerkschaftsorganisationen initiiert werden und als tatsächlicher – und nicht nur vermeintlicher – Teil der gewerkschaftlichen Tätigkeit gelten. Der Gerichtshof hat nie akzeptiert, dass ein Streik, der nicht von einer Gewerkschaft, sondern von deren Mitgliedern oder sogar von Nichtmitgliedern ausgerufen wurde, ebenfalls den Schutz von Artikel 11 genießt (ebd., § 45). Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass nach der Praxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte die Tatsache, das Streikrecht den Gewerkschaften vorzubehalten, mit Artikel 6 § 4 der Europäischen Sozialcharta vereinbar ist, sofern die Gründung einer Gewerkschaft nicht von übermäßigen Formalitäten abhängig gemacht wird (vgl. auch ebd., § 46).

15. Das Gericht stellt auf der Grundlage des Aktenmaterials fest, dass die Kläger in der vorliegenden Rechtssache nicht entlassen wurden, weil sie an einer von einer Gewerkschaft organisierten Demonstration teilgenommen hatten – aus der sie vor ihrer Klage ausgetreten waren – oder weil sie berufliche Rechte im Rahmen der Gewerkschaftstätigkeit geltend gemacht hatten. Außerdem stellt das Gericht nach dem ihm vorgelegten Material fest, dass die Kläger auch nicht deshalb entlassen wurden, weil sie aus einer bestimmten Gewerkschaft ausgetreten waren oder weil sie beschlossen hatten, keiner bestimmten Gewerkschaft beizutreten, oder weil der Arbeitgeber Druck auf sie ausgeübt hatte. Sie können sich daher nicht auf das durch Artikel 11 geschützte Recht berufen, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten (vgl. auch Barış u. a./Türkei, §§ 53-54, siehe oben).

16. Daraus folgt, dass der Antrag ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist und gemäß Artikel 35 §§ 3 (a) und 4 der Konvention zurückgewiesen werden muss.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof einstimmig, die Beschwerden für unzulässig.

Entschieden in englischer Sprache und schriftlich mitgeteilt am 23. März 2023.

Dorothee von Arnim Egidijus Kūris

Stellvertretender Kanzler Präsident

Hier die Entscheidung in der Originalsprache lesen: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-224035