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Zusammenfassung des Beschlusses des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag vom 26. Januar 2024

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Im Folgenden die Zusammenfassung des Beschlusses des INTERNATIONALEN GERICHTSHOFS in Den Haag, in dem er vorläufige Maßnahmen gegen Israel anordnet. Diese Zusammenfassung wurde auf der website des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag auf Englisch veröffentlicht und ist hier auf Deutsch zu lesen. Zwar folgte der Gerichtshof nicht dem Antrag Südafrikas, dass Israel sofort seine militärischen Operationen im Gaza aussetzen soll, aber die angeordneten Maßnahmen sind nicht nur Anordnungen zur Verteidigung des humanitären Völkerrechts. Der Gerichtshof ordnete vorläufige Maßnahmen auf der Grundlage der Völkermordkonvention an. Es sind also Maßnahmen gegen völkermörderisches Handeln, die der Gerichtshof vorläufig anordnet, bis er in der Hauptsache entschieden hat. Diese endgültige Entscheidung in der Hauptsache, ob Israel Völkermord an den Palästinensern begangen hat, kann sehr lange dauern. Der Gerichtshof konnte die vorläufigen Maßnahmen nur anordnen, weil ihm die Vorwürfe Südafrikas in mehreren Punkten, die benannt werden, plausibel erschienen.

Es sei daran erinnert, das die 2. Vorsitzende der Jüdischen Stimme für eine gerechten Frieden, Iris Hefets, festgenommen wurde, weil sie ein Schild mit der Forderung an Israel in die Höhe hielt, den Völkermord zu beenden.

Wer sich rasch ein Bild machen will, welche Ziele der Gerichtshof in seinem Beschluss verfolgt, sollte “VI. Zu ergreifende Maßnahmen” lesen. Der genaue Wortlaut des Beschusses ist unter “Wortlaut des Beschlusses des Gerichtshofszu finden. In diesem Beschluss ist nicht die Forderungen nach der sofortigen und bedingungslosen Freilassung der Geiseln der Hamas und anderer bewaffneten Gruppen enthalten.


Inhalt

Der Antrag Südafrikas

I. Einleitung

II. Prima-Facie Zuständigkeit

III. Antragsbefugnis Südafrikas

IV. Rechte, deren Schutz beantragt wird, und Zusammenhang zwischen diesen Rechten und benatragten Maßnahmen

V. Gefahr eines nicht wieder gut zu machenden Schadens

VI. Zu ergreifende Maßnahmen

Wortlaut des Beschlusses des Gerichtshofs

Ergänzende oder abweichende Stellungnahmen


Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass Südafrika am 29. Dezember 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eine Klage gegen Israel wegen angeblicher Verstöße gegen die Konvention über den im Gazastreifen gegen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (im Folgenden die “Völkermordkonvention” oder die “Konvention”). Der Antrag enthielt ein Ersuchen um den Erlass einstweiliger Maßnahmen, mit dem Südafrika den Gerichtshof “in äußerster Dringlichkeit [ersucht], die folgenden folgende vorläufige Maßnahmen in Bezug auf das palästinensische Volk als eine durch die Völkermordkonvention, bis der Gerichtshof über den Fall in der Sache entschieden hat”:

“(1) Der Staat Israel wird seine militärischen Operationen in und gegen Gaza sofort aussetzen.

(2) Der Staat Israel wird sicherstellen, dass alle militärischen oder irregulären bewaffneten Einheiten, die von ihm geleitet, unterstützt oder beeinflusst werden, sowie alle Organisationen und Personen die seiner Kontrolle, Leitung oder seinem Einfluss unterliegen können, keine Schritte unternehmen, die die militärischen Operationen im Sinne von Punkt (1) unterstützen.

(3) Die Republik Südafrika und der Staat Israel werden jeweils in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen aus der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechen des Völkermordes, in Bezug auf das palästinensische Volk, alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, die in ihrer Macht stehen, um Völkermord zu verhindern.

(4) Der Staat Israel wird in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, in Bezug auf das palästinensische Volk als einer durch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords geschützten Gruppe die Begehung aller Handlungen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II der Konvention fallen, unterlassen, insbesondere:

(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

(b) die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei den Mitgliedern der Gruppe;

(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die darauf gerichtet sind ihre vollständige oder teilweise physische Zerstörung herbeizuführen; und

(d) Auferlegung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern.

(5) Der Staat Israel wird gemäß Punkt (4) (c) in Bezug auf Palästinenser, alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, einschließlich der Aufhebung einschlägiger Anordnungen, Beschränkungen und/oder Verbote, um zu verhindern:

(a) die Vertreibung und Zwangsumsiedlung aus ihren Häusern;

(b) den Entzug von:
(i) Zugang zu angemessener Nahrung und Wasser;
(ii) den Zugang zu humanitärer Hilfe, einschließlich des Zugangs zu angemessenem Brennstoff, Unterkünften, Kleidung, Hygiene und sanitären Einrichtungen;
(iii) medizinischer Versorgung und Hilfe; und

(c) die Zerstörung des palästinensischen Lebens in Gaza.

(6) Der Staat Israel stellt in Bezug auf die Palästinenser sicher, dass sein Militär, sowie sowie alle irregulären bewaffneten Einheiten oder Einzelpersonen, die von ihm geleitet, unterstützt oder unterstützt oder anderweitig beeinflusst werden, sowie alle Organisationen und Personen, die ihrer Kontrolle, Leitung oder ihrem Einfluss unterliegen, keine der in den Punkten (4) und (5) beschriebenen Handlungen begehen oder sich an der direkten und öffentlichen Aufforderung zum Völkermord, der Verschwörung zum zur Begehung von Völkermord, dem Versuch der Begehung von Völkermord oder der Komplizenschaft bei Völkermord, und sofern sie sich daran beteiligen, dass Maßnahmen zu ihrer Bestrafung getroffen werden gemäß den Artikeln I, II, III und IV des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes.

(7) Der Staat Israel ergreift wirksame Maßnahmen, um die Zerstörung von Beweismaterial zu verhindern und Beweise zu verhindern und zu sichern, die sich auf Anschuldigungen von Handlungen beziehen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes fallen; zu diesem Zweck wird der Staat Israel nichts unternehmen, was den Zugang von Untersuchungsmissionen, internationalen Mandaten und anderen Gremien zum Gazastreifen verhindert, um bei der Sicherung und Aufbewahrung dieser Beweise zu helfen.
(8) Der Staat Israel wird dem Gerichtshof einen Bericht über alle Maßnahmen vorlegen, die ergriffen wurden, zur Umsetzung dieser Anordnung innerhalb einer Woche nach dem Datum dieser Anordnung und danach in regelmäßigen Abständen, die der Gerichtshof anordnet, bis eine endgültige Entscheidung des Gerichts in der Sache ergeht.
(9) Der Staat Israel hat sich jeglicher Maßnahmen zu enthalten und sicherzustellen, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, die die Streitigkeit vor dem Gerichtshof verschlimmern oder ausweiten oder deren Beilegung erschweren könnten.”

Der Gerichtshof erinnert an den unmittelbaren Kontext, in dem er mit der vorliegenden Rechtssache befasst wurde. Am 7. Oktober 2023 verübten die Hamas und andere bewaffnete Gruppen, die im Gazastreifen präsent waren, einen Angriff auf Israel, töteten mehr als 1.200 Menschen, verletzten Tausende und entführten etwa 240 Personen, von denen viele weiterhin als Geiseln gehalten werden. Nach diesem Angriff startete Israel eine groß angelegte Militäroperation im Gaza auf dem Land-, Luft- und Seeweg, die massive Opfer unter der Zivilbevölkerung, zu weitgehende Zerstörung der zivilen Infrastruktur und die Vertreibung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in Gaza zur Folge hatte. Der Gerichtshof ist sich des Ausmaßes der menschlichen Tragödie, die sich in der Region abspielt, voll bewusst und ist zutiefst Besorgnis über die anhaltenden Verluste an Menschenleben und das menschliche Leid.

Der anhaltende Konflikt im Gazastreifen wurde im Rahmen mehrerer Organe und Sonderorganisationen der Vereinten Nationen behandelt. Insbesondere wurden Resolutionen verabschiedet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (siehe Resolution ES-10/21 vom 27. Oktober 2023 und Resolution ES-10/22 vom 12. Dezember 2023) und vom Sicherheitsrat (siehe Resolution 2712 am 15. November 2023 und Resolution 2720 am 22. Dezember 2023), die sich auf viele Aspekte des Konflikts beziehen. Der Umfang des dem Gerichtshof vorgelegten Falles ist jedoch begrenzt, da Südafrika dieses Verfahren gemäß der Völkermordkonvention eingeleitet hat.

Vorbemerkungen (Rn. 15-18)

Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach seiner Rechtsprechung vorläufige Maßnahmen nur dann anordnen kann, wenn die vom Antragsteller angeführten Bestimmungen prima facie[1]dem ersten Anschein nach oder anders gesagt: nach summarischer Prüfung eine Grundlage für seine Zuständigkeit begründen könnten, ohne daß er sich jedoch endgültig davon überzeugen muß, daß er Zuständigkeit für die Begründetheit des Falles hat. Im vorliegenden Fall versucht Südafrika, die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf Artikel 36 Absatz 1 des Statuts des Gerichtshofs und auf Artikel IX der der Völkermordkonvention zu begründen. Der Gerichtshof muss daher zunächst prüfen, ob diese Bestimmungen ihm prima facie[2]dem ersten Anschein nach oder anders gesagt: nach summarischer Prüfung die Zuständigkeit für die Entscheidung in der Sache verleihen, so dass er – sofern die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind – einstweilige Maßnahmen anordnen kann.

Der Gerichtshof stellt fest, dass Südafrika und Israel Vertragsparteien der Völkermordkonvention sind und dass keiner von ihnen einen Vorbehalt zu Artikel IX oder einer anderen Bestimmung der Konvention eingelegt hat.

Das Bestehen einer Streitigkeit über die Auslegung, Anwendung oder Erfüllung der Völkermordkonvention (Abs. 19-30)

Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel IX der Völkermordkonvention die Zuständigkeit des Gerichtshofs das Vorliegen einer Streitigkeit über die Auslegung, Anwendung oder Erfüllung der Konvention voraussetzt.

Da sich Südafrika als Grundlage für die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die die Kompromissklausel der Völkermordkonvention berufen hat, muss der Gerichtshof auch prüfen, ob es den Anschein hat dass die vom Kläger gerügten Handlungen und Unterlassungen in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Konvention fallen können.

Der Gerichtshof stellt fest, dass Südafrika in verschiedenen multilateralen und bilateralen Gremien öffentliche Erklärungen abgegeben hat, in denen es seine Ansicht zum Ausdruck gebracht hat, dass in Anbetracht der Art, des Umfangs und des Ausmaßes die militärischen Operationen Israels im Gazastreifen eine Verletzung der Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention darstellten. Zum Beispiel erklärte auf der wieder aufgenommenen 10. Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12. Dezember 2023, bei der Israel vertreten war, der südafrikanische Vertreter bei den Vereinten Nationen, dass “die Ereignisse der letzten sechs Wochen in Gaza gezeigt haben die Ereignisse der letzten sechs Wochen in Gaza gezeigt haben, dass Israel gegen seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention verstößt”. Südafrika erinnerte an diese Erklärung in seiner Verbalnote vom 21. Dezember 2023 an die israelische Botschaft in Pretoria.

Der Gerichtshof stellt fest, dass Israel jeden Vorwurf des Völkermordes im Zusammenhang mit dem Konflikt in Gaza in einem vom israelischen Außenministerium am 6. Dezember 2023 veröffentlichten Dokument zurückweist, das anschließend aktualisiert und auf der Website der israelischen Verteidigungskräfte am 15. Dezember 2023 unter dem Titel “Der Krieg gegen die Hamas: Die Antwort auf Ihre drängendsten Fragen” bekannt gemacht wurde, in dem es heißt, dass “[d]er Vorwurf des Völkermordes gegen Israel nicht nur in faktisch und rechtlich unbegründet, sondern auch moralisch verwerflich ist”. In dem Dokument erklärte Israel auch, dass “[d]er Vorwurf des Völkermordes … nicht nur rechtlich und faktisch inkohärent, sondern auch obszön ist” und dass es es “keine gültige Grundlage, weder faktisch noch rechtlich, für den ungeheuerlichen Vorwurf des Völkermords” gebe.

In Anbetracht der obigen Ausführungen ist das Gericht der Auffassung, dass die Parteien offenbar deutlich gegensätzliche Ansichten darüber vertreten, ob bestimmte Handlungen oder Unterlassungen, die Israel in Gaza begangen haben soll, eine Verletzung seiner Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention darstellen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die oben genannten Elemente in diesem Stadium ausreichen, um prima facie das Bestehen einer Streitigkeit zwischen den Parteien in Bezug auf die Auslegung, Anwendung oder Erfüllung der Völkermordkonvention festzustellen.

Zur Frage, ob die von der Klägerin beanstandeten Handlungen und Unterlassungen unter die Bestimmungen der Völkermordkonvention fallen, erinnert das Gericht daran, dass Südafrika Israel für die Begehung von Völkermord in Gaza und für das Versäumnis, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen, verantwortlich ist.
Völkermord zu verhindern und zu bestrafen. Südafrika behauptet, dass Israel auch gegen andere Verpflichtungen aus der
Völkermordkonvention verletzt habe, einschließlich derjenigen, die sich auf “Verschwörung zum Völkermord, direkte und öffentliche
Aufstachelung zum Völkermord, versuchter Völkermord und Beihilfe zum Völkermord”.
Nach Ansicht des Gerichtshofs scheinen zumindest einige der von Südafrika behaupteten Handlungen und Unterlassungen, die Israel in Gaza begangen haben soll, unter die Bestimmungen der Konvention zu fallen.

Schlussfolgerung hinsichtlich der prima facie Zuständigkeit (Abs. 31-32)

In Anbetracht der obigen Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass er prima facie zuständig ist gemäß Artikel IX der Völkermordkonvention für die Entscheidung des Falles zuständig ist und dass er folglich dem Antrag Israels Antrag Israels, den Fall von der allgemeinen Liste zu streichen, nicht stattgeben kann.

Der Gerichtshof stellt fest, dass Israel die Klagebefugnis Südafrikas im vorliegenden Verfahren nicht angefochten hat.
Er erinnert daran, dass alle Vertragsstaaten der Völkermordkonvention ein gemeinsames Interesse daran haben die Verhütung, Unterdrückung und Bestrafung von Völkermord sicherzustellen, indem sie sich zur Erfüllung der in der Konvention enthaltenen Verpflichtungen verpflichten. Daraus folgt, dass jeder Vertragsstaat der Völkermordkonvention die Verantwortlichkeit eines anderen Vertragsstaates geltend machen kann, auch durch die Einleitung eines Verfahren vor dem Gerichtshof, um die angebliche Nichterfüllung seiner Verpflichtungen erga omnes partes nach der Konvention festzustellen und diesem Versäumnis ein Ende zu setzen.

Der Gerichtshof kommt prima facie zu dem Schluss, dass Südafrika befugt ist, ihm den Rechtsstreit mit Israel wegen angeblicher Verletzungen der Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention vorzubringen.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass seine Befugnis zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen gemäß Artikel 41 des Statuts die Wahrung der von den Parteien in einer Rechtssache geltend gemachten Rechte bezweckt, bis zur der Gerichtshof in der Hauptsache etnscieden hat. Daraus folgt, dass es dem Gerichtshof darum gehen muss, durch solche Maßnahmen die Rechte zu wahren, die er später einer der Parteien zuerkennen kann. Daher kann der Gerichtshof von dieser Befugnis nur Gebrauch machen, wenn er sich vergewissert hat, dass die von der antragstellenden Partei geltend gemachten Rechte zumindest plausibel sind. Außerdem muss ein Zusammenhang bestehen zwischen den Rechten, deren Schutz und den beantragten einstweiligen Maßnahmen.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass sich nach Artikel I der Konvention alle Vertragsstaaten der Konvention verpflichtet haben, das Verbrechen des Völkermordes zu verhüten und zu bestrafen, d. h. jede der folgenden Handlungen Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten: die Tötung von Mitgliedern der Gruppe (Artikel II, Absatz (a)); die Verursachung eines schweren körperlichen oder geistigen Schadens der Gruppe (Artikel II, Absatz (b)); vorsätzliche Zufügung von Bedingungen für die Gruppe (Artikel II, Absatz (b)); die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die körperliche Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen (Artikel II, Absatz c)); die Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern (Artikel II, Absatz d); die gewaltsame Verbringung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe (Artikel II, Absatz (e)).

Gemäß Artikel III der Völkermordkonvention sind auch folgende Handlungen durch die Konvention verboten:

  • Verschwörung zur Völkermordes (Artikel III, Abs. (b)),
  • die unmittelbare und öffentliche Aufforderung zur Begehung eines Völkermordes (Artikel III, Abs. (c)),
  • der Versuch, Völkermord zu begehen (Artikel III, Abs. (d)) und die Beihilfe zum Völkermord (Artikel III,
    Abs. (e)).

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Bestimmungen der Konvention darauf abzielen, die Mitglieder einer einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe vor Völkermord oder anderen strafbaren Handlungen, die in Artikel III aufgezählt sind, zu schützen. Er ist der Auffassung, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Rechten der Mitglieder von Gruppen, die durch die Völkermordkonvention geschützt sind, den Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus dieser Konvention und dem Recht eines jeden Vertragsstaates, die Einhaltung der Konvention durch einen anderen Vertragsstaat zu verlangen. Nach Ansicht des Gerichtshofs scheinen die Palästinenser eine eigenständige “nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe” zu sein, und damit eine geschützte Gruppe im Sinne von Artikel II der Völkermordkonvention.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die militärische Operation, die Israel nach dem Angriff vom 7. Oktober 2023 einleitete, zu einer großen Zahl von Toten und Verletzten geführt hat, sowie zur Zerstörung von Häusern, die gewaltsame Vertreibung der großen Mehrheit der Bevölkerung und umfangreiche Schäden an der zivilen Infrastruktur.

Zwar können die Zahlen für den Gazastreifen nicht unabhängig überprüft werden, aber nach jüngsten Informationen wurden 25.700 Palästinenser getötet, über 63.000 verletzt über 360.000 Wohneinheiten zerstört oder teilweise beschädigt worden sind und ca. 1,7 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben. Die Palästinenser im Gaza-Streifen haben keinen Zugang zu Wasser, Lebensmitteln, Brennstoff, Strom und anderen lebenswichtigen Gütern sowie zu Versorgung und medizinischen Gütern.

In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof Kenntnis von einer Erklärung des Untergeneralsekretärs der Vereinten Nationen des Untergeneralsekretärs der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator vom 5. Januar 2024, einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation vom 21. Dezember 2023 nach einer Mission nach Nord-Gaza und eine Erklärung des Generalkommissars des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) vom 13. Januar 2024. Der Gerichtshof verweist auch auf die Erklärung des UNRWA-Generalkommissars, dass die Krise in Gaza “durch eine entmenschlichende Sprache verschärft wird”. In diesem Zusammenhang hat der Hof Kenntnis genommen von einer eine Reihe von Erklärungen hoher israelischer Beamter zur Kenntnis genommen. Er weist insbesondere auf folgende Beispiele hin:

Erklärungen des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant vom 9. und 10. Oktober
2023,

des israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog am 12. Oktober 2023 und

von Israel Katz, dem damaligen Minister für Energie und Infrastruktur Israels, am 13. Oktober 2023.

Der Gerichtshof nimmt auch Kenntnis von einer Pressemitteilung vom 16. November 2023, in der 37 Sonderberichterstatter, unabhängige Experten und
Mitglieder der Arbeitsgruppen der Sonderverfahren des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen Alarm schlagen über “erkennbar völkermörderische und entmenschlichende Rhetorik von israelischen Regierungsvertretern”. Besorgnis äußerte am 27. Oktober 2023 auch der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Rassendiskriminierung über “die starke Zunahme von rassistischer Hassreden und Entmenschlichung gegenüber Palästinensern seit dem 7. Oktober”.
Nach Ansicht des Gerichtshofs reichen die oben genannten Tatsachen und Umstände aus, um zu dem Schluss zu kommen, dass zumindest einige der von Südafrika geltend gemachten Rechte, für die es Schutz begehrt, plausibel sind.

Dies gilt für das Recht der Palästinenser im Gazastreifen, geschützt zu werden vor vor Völkermord und damit zusammenhängenden verbotenen Handlungen, die in Artikel III aufgeführt sind, und das Recht Südafrikas, von Israel die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus der Konvention zu verlangen. Der Gerichtshof wendet sich dann dem Zusammenhang zwischen den von Südafrika geltend gemachten Rechten und den beantragten einstweiligen Massnahmen zu.

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass zumindest einige der von Südafrika beantragten einstweiligen Maßnahmen ihrem Wesen nach plausibel auf die Wahrung der Rechte abzielen, die sie auf der Grundlage der Völkermordkonvention geltend macht, nämlich das Recht der Palästinenser in Gaza auf Schutz vor Völkermord und damit zusammenhängenden verbotenen Handlungen, die in Artikel III erwähnt werden, und das Recht Südafrikas, von Israel die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus der Konvention zu verlangen. Daher besteht eine Verbindung zwischen den von Südafrika geltend gemachten Rechten, die der Gerichtshof für plausibel hält, und zumindest einigen der beantragten vorläufigen Maßnahmen.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 41 seiner Satzung befugt ist, vorläufige Maßnahmen anzuordnen, wenn ein nicht wieder gutzumachender Schaden für Rechte entstehen könnte, die Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sind, oder wenn die behauptete Missachtung dieser Rechte nicht wiedergutzumachende Folgen haben kann. Diese Befugnis wird jedoch nur ausgeübt, wenn Dringlichkeit in dem Sinne besteht, dass die tatsächliche und unmittelbare Gefahr besteht, dass den geltend gemachten Rechten ein nicht wieder gutzumachender Schaden zugefügt wird, bevor der Gericht seine endgültige Entscheidung trifft.

In Anbetracht der Grundwerte, die durch die Völkermordkonvention geschützt werden sollen, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die in diesem Verfahren in Frage stehenden Rechte, nämlich das Recht der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen, vor Völkermord und damit zusammenhängenden verbotenen Handlungen geschützt zu werden, und das Recht Südafrikas, von Israel die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus der Konvention aufzufordern, von solcher Art sind, dass eine Beeinträchtigung einen nicht wieder gutzumachenden Schaden verursachen können.

Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Zivilbevölkerung im Gazastreifen weiterhin extrem verwundbar ist. Er erinnert daran, dass die von Israel seit dem 7. Oktober 2023 durchgeführte Militäroperation Zehntausende von Toten und Verletzten und die Zerstörung von Häusern, Schulen, medizinischen Einrichtungen und anderer lebenswichtiger Infrastrukturen sowie zu massiven Vertreibungen geführt hat. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Operation andauert und dass der israelische Premierminister am 18. Januar 2024 ankündigte, dass der Krieg “noch viele lange Monate dauern wird”. Zurzeit haben viele Palästinenser im Gazastreifen keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln, Trinkwasser, Strom, lebenswichtigen Medikamenten oder Heizung. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass bei 15 Prozent der Frauen, die im Gazastreifen entbinden, mit Komplikationen zu rechnen ist, und weist darauf hin, dass Todesfälle bei Müttern und Neugeborenen aufgrund des fehlenden Zugangs zu medizinischer Versorgung zu erwarten sind. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die katastrophale humanitäre Lage im Gaza-Streifen ernsthaft Gefahr läuft, sich noch weiter zu verschlechtern, bevor der Gerichtshof sein endgültiges Urteil verkündet.

Der Gerichtshof nimmt die Erklärung Israels zur Kenntnis, dass es bestimmte Schritte unternommen hat, um die Bedingungen, mit denen die Bevölkerung im Gazastreifen konfrontiert ist, zu verbessern und zu lindern.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Generalstaatsanwalt Israels kürzlich erklärt hat, dass ein Aufruf zur vorsätzlichen Schädigung von Zivilisten eine Straftat darstellen kann, einschließlich des Straftatbestands der Aufwiegelung, darstellen kann, und dass mehrere derartige Fälle von den israelischen Vollzugsbehörden geprüft werden. Nach Ansicht des Gerichtshofs sind solche Schritte zwar zu begrüßen, sie reichen jedoch nicht aus, um die Gefahr eines nicht wieder gutzumachenden Schadens zu beseitigen, bevor das Gericht seine endgültigen Entscheidung in der Rechtssache getroffen hat.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist das Gericht der Ansicht, dass eine reale und unmittelbare Gefahr eines nicht wieder gutzumachenden Schadens für die von Südafrika geltend gemachten plausiblen Rechte besteht.

Der Gerichtshof kommt auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen zu dem Schluss, dass die in der Satzung des Gerichtshofs vorgesehenen Voraussetzungen für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen erfüllt sind. Es ist daher erforderlich, bis zu seiner endgültigen Entscheidung bestimmte Maßnahmen zum Schutz der von Südafrika geltend gemachten Rechte anzuordnen, die der Gerichtshof für plausibel hält. Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof nach Prüfung des Inhalts der von Südafrika beantragten einstweiligen Maßnahmen und den Umstände des Falles festgestellt, dass die beschlossenen Maßnahmen nicht mit den beantragten Maßnahmen identisch sein müssen.

Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass Israel in der oben beschriebenen Situation in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention in Bezug auf die Palästinenser in Gaza alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen muss, um die Begehung aller Handlungen zu verhindern, die in den Anwendungsbereich von Artikel II dieser Konvention fallen, insbesondere:

(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

(b) die Verursachung schwerer körperlicher oder die Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden an Mitgliedern der Gruppe;

(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen für die Gruppe die darauf abzielen, die Gruppe ganz oder teilweise körperlich zu vernichten, und

(d) die Verhängung von Maßnahmen die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass diese Handlungen in den Anwendungsbereich von Artikel II der Konvention fallen, wenn sie in der Absicht begangen werden, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass Israel mit sofortiger Wirkung sicherstellen muss, dass seine Streitkräfte keine der oben beschriebenen Handlungen begehen.

Der Gerichtshof ist auch der Ansicht, dass Israel alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen muss, um die direkte und öffentliche Aufforderung zum Völkermord an den Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen zu verhindern und zu bestrafen.

Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass Israel sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen muss, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe für die Palästinenser im Gaza-Streifen zu verbessern.

Israel muss auch wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Zerstörung von Beweismaterial zu verhindern und dessen Erhaltung sicherzustellen. Es geht um Beweise im Zusammenhang mit den Anschuldigungen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und III der Völkermordkonvention fallen und gegen Mitglieder der palästinensischen Gruppe im Gaza-Streifen gerichtet sind.

Schließlich verpflichtet der Gerichtshof in Anbetracht der von ihm beschlossenen spezifischen vorläufigen Maßnahmen Israel, dem Gerichtshof innerhalb eines Monats nach dem Erlass dieses Beschlusses einen Bericht über alle Maßnahmen vorzulegen, die zur Umsetzung dieses Beschlusses getroffen wurden.
Der vorgelegte Bericht wird dann Südafrika übermittelt werden, das die Möglichkeit erhält, dem Gerichtshof seine Bemerkungen dazu abzugeben.

Der Gerichtshof hält es für notwendig zu betonen, dass alle am Konflikt im Gazastreifen beteiligten Parteien an das humanitäre Völkerrecht gebunden sind. Er ist zutiefst besorgt über das Schicksal der Geiseln, die während des Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 entführt wurden und seither von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen festgehalten werden, und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.

Der vollständige Wortlaut der operativen Klausel des Beschlusses lautet wie folgt:
“Aus diesen Gründen, ordnet DER GERICHTSHOF die folgenden vorläufigen Maßnahmen an:

(1) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel wird in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, in Bezug auf die Palästinenser in Gaza alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Begehung aller Handlungen zu verhindern, die in den die in den Anwendungsbereich von Artikel II dieser Konvention fallen, insbesondere:
(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die deren physische Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen, und
(d) die Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;
FÜR den Antrag: Präsident Donoghue, Vizepräsident Gevorgian, Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant; Ad-hoc-Richter Moseneke;
GEGEN den Antrag: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak;

(2) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel stellt mit sofortiger Wirkung sicher, dass sein Militär keine keine der in Punkt 1 beschriebenen Handlungen begeht;
DAFÜR: Präsident Donoghue; Vizepräsident Gevorgian; Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth,
Brant; Ad-hoc-Richter Moseneke;
DAGEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak;

(3) Mit sechzehn Stimmen gegen eine Stimme,
Der Staat Israel ergreift alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, um die direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord an den Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gaza-Streifen zu verhindern und zu bestrafen;
DAFÜR: Präsident Donoghue, Vizepräsidentin Gevorgian, Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth,
Brant; Ad-hoc-Richter Barak, Moseneke;
DAGEGEN: Richterin Sebutinde;

(4) Mit sechzehn gegen eine Stimme,
Der Staat Israel ergreift sofortige und wirksame Maßnahmen zur Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe, um die Lebensbedingungen der Palästinenser im Gaza-Streifen zu verbessern;
DAFÜR: Präsident Donoghue, Vizepräsidentin Gevorgian, Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth,
Brant; Ad-hoc-Richter Barak, Moseneke;
DAGEGEN die Richterin Sebutinde;

(5) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel ergreift wirksame Maßnahmen, um die Zerstörung von Beweisen zu verhindern, die sich auf Anschuldigungen beziehen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und III des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes an Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen fallen;
DAFÜR: Präsident Donoghue, Vizepräsident Gevorgian, Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth,
Brant; Ad-hoc-Richter Moseneke;
DAGEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak;

(6) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel legt dem Gerichtshof innerhalb eines Monats ab dem Datum dieses Beschlusses einen Bericht über alle Maßnahmen zur Durchführung dieses Beschlusses vor.
DAFÜR: Präsident Donoghue, Vizepräsident Gevorgian, Richter Tomka, Abraham,Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth,
Brant; Ad-hoc-Richter Moseneke;
DAGEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak
.”
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Richterin XUE fügt dem Beschluss des Gerichts eine Erklärung bei; Richter SEBUTINDE fügt dem Beschluss des Gerichtshofes eine abweichende Stellungnahme bei; die Richter BHANDARI und NOLTE fügen dem Beschluss des Gerichtshofes Erklärungen bei. Die Richterin BARAK fügt dem Beschluss des Gerichtshofes eine gesonderte Stellungnahme bei.


Erklärung von Richterin Xue

Richterin Xue stimmt mit ihren Kollegen darin überein, dass Südafrika auf einer prima-facie-Basis berechtigt ist Klage gegen Israel wegen Verletzung seiner Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention zu erheben.
Zur Erläuterung ihres Standpunkts weist sie darauf hin, dass die Palästina-Frage seit der Gründung der Vereinten Nationen auf der auf der Tagesordnung steht und dass das palästinensische Volk einschließlich der Palästinenser im Gaza-Streifen, noch nicht in der Lage ist, ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben. Sie verweist auf die einschlägigen Resolutionen der Vereinten Nationen, in denen es heißt, dass “die Vereinten Nationen eine ständige Verantwortung für die Palästinafrage haben, bis die Frage in all ihren Aspekten auf zufriedenstellende Weise im Einklang mit der internationalen Legitimität gelöst ist”. Nach Ansicht von Richterin Xue erfordert diese Verantwortung, dass die Vereinten Nationen, einschließlich ihres wichtigsten Rechtsorgans sicherstellen, dass das palästinensische Volk durch das Völkerrecht geschützt wird, insbesondere vor dem schwersten Verbrechen  Völkermord.
Angesichts der humanitären Katastrophe in Gaza in den vergangenen einhundertneun Tagen, bringt Richterin Xue ihre tiefe Besorgnis über die humanitäre Lage in Gaza zum Ausdruck. Sie ist der Ansicht, dass infolge der israelischen Militäraktionen die Existenz des palästinensischen Volkes in Gaza auf dem Spiel steht, was die elementarsten Grundsätze der Menschlichkeit und Moral in Frage stellt. Richterin Xue erinnert daran, dass vor über sechzig Jahren, als Äthiopien und Liberia vor dem Gerichtshof ein Verfahren gegen Südafrika wegen Verletzung seiner Verpflichtungen als Mandatsmacht in Südwestafrika einleiteten, der Gerichtshof die Klagebefugnis dieser Kläger mangels Rechtsschutzinteresse abwies. Dies gab Anlass zu starker Empörung der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gegen den Gerichtshof und schadete seinem Ruf erheblich. In der Rechtssache Barcelona Traction erkannte der Gerichtshof an, dass es bestimmte internationale rechtliche Verpflichtungen gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft bestehen, an deren Schutz aufgrund ihrer Bedeutung alle Staaten ein rechtliches Interesse haben. Sie werden als Verpflichtungen erga omnes angesehen. Der Gerichtshof hat sich in diesem Urteil jedoch nicht mit der Frage der Klagebefugnis befasst. Recht und Praxis sind zwar noch in der Entwicklung begriffen, aber für eine geschützte Gruppe wie das palästinensische Volk hält es Richter Xue am wenigsten umstritten, dass die internationale Gemeinschaft ein gemeinsames Interesse an ihrem Schutz hat. Ihrer Ansicht nach ist dies genau die Art von Fällen, in denen der Gerichtshof die Klagebefugnis eines Vertragsstaates der Völkermordkonvention anerkennen sollte, um die Verantwortung eines anderen Vertragsstaates für die Verletzung seiner Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention geltend zu machen.
In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und aus den im Beschluss des Gerichtshofs enthaltenen Gründen, stimmt Richter Xue zu, dass die in diesem Beschluss genannten vorläufigen Maßnahmen unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt sind.

Abweichende Meinung des Richters Sebutinde

Richter Sebutinde widerspricht respektvoll der Mehrheit in diesem Beschluss und argumentiert, dass der Streit zwischen dem Staat Israel und dem Volk von Palästina im Wesentlichen und historisch gesehen ein politischer Streit ist, der eine diplomatische oder verhandelte Lösung und die Umsetzung aller relevanten Resolutionen des Sicherheitsrates durch alle betroffenen Parteien in gutem Glauben erfordert.
Ihrer Meinung nach ist dies kein ein Rechtsstreit, der vom Gerichtshof entschieden werden kann. Richterin Sebutinde argumentiert auch, dass einige der Voraussetzungen für die Verhängung vorläufiger Maßnahmen nicht erfüllt sind – Südafrika hat nicht einmal prima facie nachgewiesen, dass die Handlungen, die angeblich von Israel begangen wurden und über die sich der Kläger beschwert, mit der notwendigen völkermörderischen Absicht begangen wurden und dass sie folglich in den Anwendungsbereich der Völkermordkonvention fallen können.

Darüber hinaus macht sie geltend, dass die von Südafrika geltend gemachten Rechte nach der Völkermordkonvention nicht plausibel seien.
Richterin Sebutinde ist der Ansicht, dass die vom Gericht in der Verfügung angegebenen vorläufigen Maßnahmen Anordnung nicht gerechtfertigt sind.

Erklärung des Richters Bhandari

In seiner Erklärung stellt Richter Bhandari fest, dass die Angriffe auf Zivilisten in Israel am 7. Oktober 2023 verurteilt werden müssen, stellt aber fest, dass die israelische Militäraktion als Reaktion auf diese Angriffe zu einer humanitären Katastrophe in Gaza geführt hat.
Richter Bhandari erinnert daran, dass die Rechtssache noch nicht vollständig verhandelt wurde und dass dem Gericht kein vollständiges Tatsachenprotokoll vorliegt. Richter Bhandari erklärt, dass der Gerichtshof bei der Abwägung der Plausibilität der von Südafrika geltend gemachten Rechte, die Südafrika geltend macht, die ihm in diesem Stadium vorliegenden Beweise berücksichtigen muss. Es muss berücksichtigen die weitreichenden Zerstörungen in Gaza und die Verluste an Menschenleben, die die Bevölkerung von Gaza bisher ertragen hat. Bei der Feststellung der Plausibilität dieser Rechte im Stadium der vorläufigen Maßnahmen muss der Gerichtshof keine endgültige Entscheidung über das Vorliegen eines Vorsatzes nach Artikel II des Übereinkommens über über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes treffen. Nach Ansicht von Richter Bhandari sind die Militäraktion in Gaza sowie die Verluste an Menschenleben, Verletzungen, Zerstörungen und humanitären Bedürfnisse, die sich daraus ergeben, für sich genommen geeignet, eine Plausibilitätsfeststellung in Bezug hinsichtliche der Rechte nach Artikel II. zu treffen. Der Gerichtshof hat zu Recht vorläufige Maßnahmen angeordnet.
Schließlich stellt Richter Bhandari fest, dass alle Konfliktbeteiligten sicherstellen müssen, dass alle Kämpfe und Feindseligkeiten sofort eingestellt werden und dass die verbleibenden Geiseln, die am 7. Oktober 2023 gefangen genommen wurden bedingungslos freigelassen werden.

Erklärung des Richters Nolte

Richter Nolte legt eine Erklärung vor, in der er die Gründe für sein Einverständnis mit der Entscheidung des Gerichtshofs darlegt, vorläufige Maßnahmen in Bezug auf das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes anzuordnen. Seiner Ansicht nach beruhen die angezeigten Maßnahmen in erster Linie auf der
plausiblen Behauptung Südafrikas, dass bestimmte Äußerungen von israelischen Staatsbeamten, einschließlich Mitgliedern des israelischen Staates, einschließlich Mitgliedern des israelischen Militärs, eine reale und unmittelbare Gefahr einer nicht wiedergutzumachenden Beeinträchtigung der Rechte der Palästinenser gemäß der Völkermordkonvention.

Gesonderte Stellungnahme des Ad-hoc-Richters Barak

  1. In seiner Stellungnahme erklärt Ad-hoc-Richter Barak, dass der Gerichtshof das Hauptargument Südafrikas, das die Aussetzung der militärischen Operationen im Gazastreifen betrifft, zurückgewiesen hat. Stattdessen hat der Gerichtshof Maßnahmen angeordnet, die an die bestehenden Verpflichtungen Israels im Rahmen der Völkermordkonvention erinnern. Seiner Ansicht nach hat der Gerichtshof das Recht Israels bekräftigt, seine Bürger zu verteidigen, und die Bedeutung hervorgehoben, humanitäre Hilfe für die Bevölkerung von Gaza zu leisten. Ad-hoc-Richter Barak erklärt, dass die vorläufigen Maßnahmen von wesentlich geringerer Tragweite sind als die von Südafrika beantragten.
  2. Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof betont, dass “alle Parteien des Konflikts im Gaza Streifen durch das humanitäre Völkerrecht gebunden sind”, was auch die Hamas einschließt. Der Gerichtshof hat auch erklärt dass er “zutiefst besorgt über das Schicksal der Geiseln ist, die während des Angriffs auf Israel am 2. Oktober 2023 entführt wurden und seither von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen festgehalten werden, und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung”.
  3. Der Ad-hoc-Richter Barak erinnert daran, dass die Völkermordkonvention einen ganz besonderen Platz im Herzen und in der Geschichte des jüdischen Volkes einnimmt, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Staates Israel. Anhand einer autobiografische Bemerkung erklärt er, dass Völkermord für ihn mehr als nur ein Wort ist; es steht für kalkulierte Zerstörung und menschliches Verhalten in seiner schlimmsten Form. Es ist die schwerstmögliche Anschuldigung und ist tief mit seiner Lebenserfahrung verwoben.
  4. Nach Ansicht des Ad-hoc-Richters Barak ist Israel eine Demokratie mit einem starken Rechtssystem und einer unabhängigen Justizsystem. Seiner Ansicht nach müssen bei Spannungen zwischen nationaler Sicherheit und Menschenrechten die ersteren erreicht werden, ohne den Schutz der letzteren zu gefährden. Er erklärt weiter, dass das Völkerrecht ein integraler Bestandteil des Verhaltens des israelischen Staates und der israelischen Armee ist, und dass die Urteile des israelischen Obersten Gerichtshofs ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit und zum menschlichen Leben sind.
  5. Im Hinblick auf die prima facie-Zuständigkeit des Gerichts bezweifelt Ad-hoc-Richter Barak, dass Südafrika diesen Streit in gutem Glauben vorgebracht hat. Nachdem Südafrika am 21. Dezember 2023 eine Verbalnote an Israel über die Situation in Gaza geschickt hatte, antwortete Israel mit einem Angebot, Konsultationen bei der frühestmöglichen Gelegenheit aufzunehmen. Anstatt dieses Angebot anzunehmen, das zu fruchtbaren diplomatischen Gesprächen hätte führen können, beschloss Südafrika, ein Verfahren gegen Israel vor diesem Gerichtshof einzuleiten. Er bedauert, dass Israels Versuch, einen Dialog zu eröffnen, mit der Einreichung einer Klage beantwortet wurde.
  6. Nach Ansicht des Ad-hoc-Richters Barak weist der vorliegende Fall eine zusätzliche Schwierigkeit auf, weil der andere Kriegsteilnehmer des bewaffneten Konflikts, die Hamas, keine Partei in diesem Verfahren ist. Dies hindert den Gerichtshof zwar nicht daran, seine Zuständigkeit auszuüben, ist aber ein wesentlicher Gesichtspunkt, der bei der Bestimmung der geeigneten Maßnahmen oder Rechtsbehelfe in dieser Rechtssache zu berücksichtigen ist.
  7. Der Ad-hoc-Richter Barak ist der Ansicht, dass das Gericht den unmittelbaren Kontext, in dem die vorliegende Rechtssache angesiedelt ist, nicht vollständig dargelegt hat. Er erinnert daran, dass am 7. Oktober 2023 über 3.000 Hamas-Terroristen auf dem Land-, Luft- und Seeweg in israelisches Gebiet eindrangen. Er erinnert ferner daran, dass über 1.200 unschuldige Zivilisten, darunter Kleinkinder und ältere Menschen, ermordet wurden.
    Richter Barak erklärt auch, dass die Hamas ihren Militärapparat innerhalb und unterhalb der der zivilen Infrastruktur unterbringt, um sie zu immunisieren, und damit ihre eigene Bevölkerung absichtlich in Gefahr bringt. Außerdem verweist er auf das Schicksal der Geiseln, eine seit über 100 Tagen andauernde Qual.
  8. Nach Ansicht des Ad-hoc-Richters Barak ist der geeignete rechtliche Rahmen für die Analyse der Situation in Gaza das humanitäre Völkerrecht und nicht die Völkermordkonvention.
  9. In Bezug auf die Völkermordkonvention erklärt Ad-hoc-Richter Barak, dass das zentrale Element des Verbrechens des Völkermordes das Element des Vorsatzes ist, nämlich die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Seiner Ansicht nach ist dieser Vorsatz nicht gegeben. Nicht einmal unter dem Plausibilitätsstandard, der für die Anordnung vorläufiger Maßnahmen erforderlich ist. Aus diesem Grund, ist der Ad-hoc-Richter Barak mit dem Ansatz des Gerichtshofs bezüglich der Plausibilität von Rechten nicht einverstanden,
    Er vergleicht den vorliegenden Fall mit der Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechen des Völkermordes (Gambia gegen Myanmar). Seiner Ansicht nach sind die von Südafrika vorgelegten Beweise Afrika vorgelegten Beweise nicht mit denen vergleichbar, die dem Gericht im Fall Gambia zur Verfügung standen. Er erinnert daran, dass Israel mehrere Maßnahmen ergriffen habe, um die Auswirkungen der Feindseligkeiten auf die Zivilbevölkerung zu minimieren. Seiner Ansicht nach ist es überraschend, dass der Gerichtshof die Erklärungen Israels zur Kenntnis genommen hat, in denen es die Schritte erläutert, die es unternommen hat, um die Bedingungen für die Bevölkerung im Gazastreifen zu verbessern, dann aber bei der Prüfung der
    Schlussfolgerungen aus diesen Erklärungen zu ziehen, wenn es um die Prüfung des Vorliegens von Vorsatz geht. Es ist sogar noch überraschender, dass das Gericht keine dieser Maßnahmen und Erklärungen als ausreichend ansah, um das Vorliegen eines plausiblen Vorsatzes auszuschließen.
  10. Ad-hoc-Richter Barak erinnert auch daran, dass der Gerichtshof keine Feststellungen in Bezug auf Ansprüche Südafrikas nach der Völkermordkonvention getroffen hat. Die Schlussfolgerungen des Gwrichtshofs in dieser vorläufigen Phase präjudizieren in keiner Weise die Ansprüche Südafrikas, die seiner Ansicht nach
    gänzlich unbewiesen bleiben.
  11. In Bezug auf die vom Gerichtshof genannten spezifischen Maßnahmen erklärt Ad-hoc-Richter Barak, dass er gegen die erste und die zweite vorläufige Maßnahme gestimmt hat, weil er von den Argumenten Südafrikas zur Plausibilität nicht überzeugt war. Dennoch weist er darauf hin, dass die erste und
    zweiten Maßnahmen lediglich die Verpflichtungen wiederholen, die Israel bereits unter Artikel I und II der Völkermordkonventiontreffen.
  12. Was die dritte Maßnahme betrifft, die sich auf öffentliche Aufwiegelung bezieht, so hat er dafür gestimmt in der Hoffnung, dass die Maßnahme dazu beitragen wird, Spannungen abzubauen und schädliche Rhetorik zu verhindern. Er nimmt die besorgniserregenden Äußerungen einiger Behörden zur Kenntnis.
    Für die vierte Maßnahme hat er aus tiefer humanitärer Überzeugung gestimmt und in der Hoffnung, dass dadurch die Folgen des bewaffneten Konflikts für die Schwächsten gemildert werden.
    Seiner Meinung nach erinnert der Gerichtshof Israel mit dieser Maßnahme an die Verpflichtungen, die sich aus dem humanitären Völkerrecht ergeben, die bereits in der DNA des israelischen Militärs vorhanden sind.
  13. Nach Ansicht des Ad-hoc-Richters Barak ist es bedauerlich, dass der Gerichtshof Südafrika nicht anweisen konnte, Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte der Geiseln zu schützen und ihre Freilassung durch die Hamas zu erleichtern.
    Seiner Ansicht nach beruhen diese Maßnahmen auf dem humanitären Völkerrecht, ebenso wie die Maßnahmen, die humanitäre Hilfe zu leisten. Außerdem ist das Schicksal der Geiseln ein integraler Bestandteil der militärischen Operation in Gaza. Durch die Ergreifung von Maßnahmen, die die Freilassung der Geiseln erleichtern, könnte Südafrika eine positive Rolle bei der Beendigung des Konflikts spielen.
  14. In Bezug auf die fünfte vorläufige Maßnahme erklärt er schließlich, dass er dagegen gestimmt hat, weil Südafrika nicht nachgewiesen hat, dass Israel Beweise zerstört oder unterschlagen hat.

References

References
1, 2 dem ersten Anschein nach oder anders gesagt: nach summarischer Prüfung