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12. Darf ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen aufgrund der Pläne in den Streik treten?

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Ein Streik gegen die Ausschreibung und die damit drohenden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen wäre wohl ein politischer Streik. Wird er nur für eine kurze Zeit durchgeführt, wäre das ein politischer Demonstrationsstreik. Wenn es um den politischen Demonstrationsstreik geht, dann haben die Befürworter des Verbots von politischen Streiks ganz schlechte Karten[1]Däubler- Wroblewski a.a.O. § 17; Berg/Kocher/Schumann – Berg Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 6. Auflg. Frankf. a.M. 2018 Teil 3 Rn. 188 ff.; handelt es sich um einen Streik, der die … Continue reading). Das gilt vor allem dann, wenn es sich um einen Streik handelt, der die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum Ziel hat[2] Däubler- Wroblewski a.a.O. § 17 Rn. 183 ff.. Aber auch diese Voraussetzung wäre erfüllt, wenn sich ein Streik der S-Bahner gegen die drohende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen aufgrund der Ausschreibung richten würde.

Die Mehrheit der Juristen hält zwar tapfer an der Rechtswidrigkeit auch von politischen Demonstrationsstreiks fest, aber sie bewegen sich auf sehr dünnem Eis. Das Bundesarbeitsgericht hat im Jahr 2007 ausdrücklich offen gelassen, ob „reine Demonstrationsstreiks, mit denen ohne Bezug auf einen um einen Tarifvertrag geführten Arbeitskampf lediglich Protest oder Sympathie  – etwa für oder gegen Entscheidungen des Gesetzgebers – zum Ausdruck gebracht werden soll“ zulässig sind[3] BAG v. 19.06.2007 1 AZR 396/06 juris Rn. 13. Dem Gericht lag seitdem kein Fall vor, an dem es neu hätte entscheiden können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dieser Frage noch nie beschäftigt.

Es ist ganz unverständlich, dass dem Bundesarbeitsgericht immer noch kein Fall vorliegt, der ihm die Gelegenheit gibt, seine Rechtsprechung zu ändern. Streikrecht ist Richterrecht. Nur wenn die Gerichte über einen politischen Demonstrationsstreik zu entscheiden haben, können sie ihre Rechtsprechung überprüfen. Notwendig ist ein politscher Demonstrationsstreik, den man – im Vorgriff auf die zu erwartende Änderung der Rechtsprechung und auch als Ausdruck der Ablehnung der bisherigen Rechtsprechung – als vollständig legales Verhalten betrachten kann, wie es die Gewerkschaften schon 1986 getan haben.

Dagegen wird von gewerkschaftlicher Seite immer das Haftungsrisiko ins Feld geführt; denn eine hundertprozentige Sicherheit gebe es nicht, dass das Bundesarbeitsgericht den politischen Demonstrationsstreik erlauben werde. Doch das Haftungsrisiko ist kalkulierbar: Wenn die S-Bahn für 15 Minuten stillsteht und das vorher angekündigt wird, so dass die Menschen sich darauf einstellen können oder wenn auf einer S-Bahn Strecke für eine kürzere Zeit der S-Bahn Verkehr eingestellt wird, was für ein Schaden soll dann entstehen? Das Haftungsrisiko ist abschätzbar. Zum Beispiel wäre ein solcher Streik im Zusammenhang mit dem nächsten Klimastreik von Fridays-for-Future möglich. 

Aber an diesem Tag wäre auch eine Arbeitsniederlegung ohne Aufruf der Gewerkschaften denkbar. 2007 kam es ohne Aufruf der Gewerkschaften zu Streiks gegen die Rente mit 67. Obwohl sie  nicht offiziell dazu aufgerufen hatten, waren den Gewerkschaften diese Streiks dermaßen willkommen, dass viele glaubten, die Gewerkschaften selbst hätten dazu aufgerufen, was sie aber nicht hatten. Bei diesen Demonstrationsstreiks gegen die Änderung des Renteneintrittsalters war es offiziell nicht die Gewerkschaft, sondern es waren die gewerkschaftlichen Vertrauensleute, die die Dinge in der Hand  hatten. Der Begriff spontaner Streik trifft also die Sache nicht, der Begriff „wilder“ ist unzulässig abwertend. Besser sollte man von verbandsfreien Streiks sprechen. Da die Gewerkschaften offiziell nicht Träger des Streiks waren, konnten sie auch nicht für eventuelle Schäden in Haftung genommen werden.

Es stellt sich die einfache Frage: Wie lange wollen wir uns noch von einem Nazi-Juristen Hans Carl Nipperdey vorschreiben lassen, für welche Ziele wir streiken dürfen?

Zusätzlich zu dem Streikziel, das sich gegen die Ausschreibung und die damit verbundenen Verschlechterungen richtet, könnte noch ein Sozialtarifvertrag für den Fall gefordert werden, dass nicht die S-Bahn GmbH den Zuschlag bekommt. Um der Friedenspflicht zu entgehen, müssten in diesem Sozialtarifvertrag Forderungen aufgestellt werden, die bisher noch nicht in Tarifverträgen der GdL und der EVG enthalten sind. Der Streik für einen Sozialtarifvertrag ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zulässig. Hintergrund für diesen Vorschlag, die Forderung für den Abbruch der Ausschreibung mit der Forderung nach einem Sozialtarifvertrag zu kombinieren, ist die  Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Danach ist ein Streik auch dann rechtmäßig, wenn eine Forderung zulässig, andere Forderungen aber unzulässig sind[4] EGMR 27.11.2014, Nr. 36701/09 – Hrvatski Lijecnicki Sindikat (HLS) ./. Kroatien; Klaus Lörcher AuR 4/2015 S. 126, 129; siehe auch Däubler-Lörcher 4. Auflg. § 10 Rn. 85. Das Bundesarbeitsgericht urteilt  genau umgekehrt. Das Bundesarbeitsgericht kann sich aber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht entziehen[5] Das angegriffene innerstaatliche Urteil muss auf der Verletzung der Konvention beruhen; dann  innerstaatlich ein Restitutionsverfahren möglich, § 580 Nr. 8 ZPO.

Weitere Einzelheiten zum Streikrecht:


References

References
1 Däubler- Wroblewski a.a.O. § 17; Berg/Kocher/Schumann – Berg Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 6. Auflg. Frankf. a.M. 2018 Teil 3 Rn. 188 ff.; handelt es sich um einen Streik, der die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingen zum Ziel hat, wird dieser Streik durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, auch wenn es ein politischer Streik ist; geht es nicht um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, schützen Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs.1 GG (vgl. Däubler- Wroblewski a.a.O. § 17 Rn. 157 f
2 Däubler- Wroblewski a.a.O. § 17 Rn. 183 ff.
3 BAG v. 19.06.2007 1 AZR 396/06 juris Rn. 13
4 EGMR 27.11.2014, Nr. 36701/09 – Hrvatski Lijecnicki Sindikat (HLS) ./. Kroatien; Klaus Lörcher AuR 4/2015 S. 126, 129; siehe auch Däubler-Lörcher 4. Auflg. § 10 Rn. 85
5 Das angegriffene innerstaatliche Urteil muss auf der Verletzung der Konvention beruhen; dann  innerstaatlich ein Restitutionsverfahren möglich, § 580 Nr. 8 ZPO