Buchenwald: Befreiung durch die bewaffneten Häftlinge selbst

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Im Folgenden geben wir aus der Broschüre „Buchenwald. Ein Tatasachenbericht zur Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung“ (Dokumente des Bösen, Band 2) das Kapitel „Die Befreiung“ wieder. Autor ist der Kommunist Robert Leibbrand, inhaftiert in Buchenwald („Schutzhäftling Nr. 6613“). Leibbrand erklärt auf der ersten Seite seiner Broschüre: „Der vorliegende Bericht … enthält nichts, was ich nicht selbst erlebt habe oder von Augenzeugen weiß, die ich aus jahrelangem Zusammenleben als glaubwürdig und zuverlässig kenne.“ In dem Text heißt es : „Die amerikanischen Panzer waren im Anrollen, schon waren in der Ferne ihre Schnellfeuergeschütze und Maschinengewehre zu hören … Als der erste amerikanische Panzer vor dem Lagertor auffuhr, wehte auf diesem schon die weiße Fahne. Die Türme waren schon mit bewaffneten Häftlingen besetzt.“ Daraus ergibt sich: Die bewaffneten Häftlinge befreiten sich selbst.

Es soll in keiner Weise die historische Tatsache geleugnet werden, dass das „Anrollen amerikanischer Panzer“ und Soldaten eine wichtige Voraussetzung für die Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald war. Die Beachtung dieser Voraussetzung darf aber nicht umgekehrt dazu führen, die Selbstbefreiung der KZ-Häftlinge zu leugnen ode kleinzureden. Diese Selbstbefreiung muss vielmehr als ein Fanal angesehen werden, dass zeigt, dass es möglich ist, sich selbst aus schlimmster Unterdrückung zu befreien, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist (in Buchenwald: das „Anrollen der amerikanischen Panzer“) und vorher auch die notwendigen ‚inneren‘ Voraussetzungen geschaffen wurden (in Buchenwald: Bildung eines internationale Lagekomitees im KZ und Sammlung von Waffen).

Lehrreich ist ein Vergleich der damaligen Politik der USA als Teil der Antihitlerkoalition, die den Faschismus besiegte, mit der gegenwärtigen Politik der USA. Ein solcher Vergleich ergibt, dass die gegenwärtige Politik der USA das genaue Gegenteil der damaligen Politik darstellt: Die damalige Politik der Antihitlerkoalition war auf die Niederschlagung des Hitlerfaschismus und die Beendigung des 2. Weltkrieges gerichtet. Dagegen ist unübersehbar, dass die Politik der USA heute an erster Stelle auf die Zurückdrängung des großen Weltmarktkonkurrenten China gerichtet ist. Das war schon das Hauptziel der USA unter der Biden-Regierung und ist das Hauptziel unter der Trump-Regierung geblieben: Die USA wollen sich den großen Konkurrenten China ‚vom Halse schaffen‘, auch um den Preis eines 3. Weltkrieges. In diesem Zusammenhang müssen auch die Bemühungender USA gesehen werden, den Krieg in der Ukraine – gegen den Widerstand Europas – zu beenden. Es ermöglicht, alle US-amerkanischen Kräfte gegen China zu konzentrieren. Dabei muss den USA daran gelegen sein, einen Keil in das Bündnis zwischen Russland und China zu treiben. Es kann nicht die Aufgabe der Friedensbewegung und Antifaschisten sein, sich daran zu beteiligen und sich im Intersse der USA dafür einzusetzen, dass Europa und in Europa an vorderster Front Deutschland gegen China und Russland in Stellung gebracht werden oder, wie es zur Zeit zu geschehen scheint, dass sich Europa und Deutschland selbst gegen China und Russland positionieren, um sich auf diese Weise Zug um Zug als dritte Weltmacht zu profilieren und damit gleichzeitig den USA den Krieg gegen China zu erleichtern. Stattdessen muss unser Ziel sein, Kriege zu beenden und neue Krieg zu verhindern – von Lissabon über Wladiwostok bis Peking.

Wir möchten auch auf die Erklärung der KPF in der Partei DIE LINKE zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald hinweisen, die diesen 80. Jahrestag in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang stellt und an die Rolle der damaligen Sowjetunion erinnert als diejenige Kraft, die die meisten Opfer im Kampf gegen den Faschismus gebracht hatte.

Im Folgenden der Text aus der Broschüre von Rober Leibbrand über die Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ-Buchenwald in vollem Wortlaut:

„Mit fiebernder Ungeduld hatten wir die militärische Entwicklung verfolgt. Dem grossen Vorstoss der Roten Armee von der Weichsel bis an die Oder folgte die anglo-amerikanische Offensive im Westen. War es die letzte, die entscheidende? Oder würde es dem Hitler-Regime gelingen, um den Preis neuer grosser Opfer seine wankende Herrschaft noch um einige Wochen zu retten? Regte sich nicht endlich der Widerstand im deutschen Volke? Waren denn wirklich alle aktiven Gegner des Nazisystems ermordet oder hinter dem elektrischen Draht? Wir hatten in Buchenwald unsere Pflicht getan und als Lohn aller Opfer war es uns doch gelungen, den Kern der Politischen durch 12 Jahre faschistischen Terror ungebrochen und ungebeugt zu erhalten. Wir konnten tausenden ausländischen Kameraden das Leben retten.

Aber nun war die Situation fast unhaltbar geworden. In den Pferdeställen im kleinen Lager, in den elenden Hütten im Zeltlager, starben täglich Hunderte. Mit all unseren bisherigen Mitteln und Methoden konnten wir es nicht verhindern. Waren wir da nicht verpflichtet, von der versteckten Sabotage zum offenen Widerstand überzugehen? Aber wie lange noch konnten wir überhaupt auch nur die bisherige, versteckte Sabotage durchführen? Sicher ahnte die SS schon lange, was im Lager gespielt wurde. Aber wieviel wusste sie, und welche Vorbereitungen hatte sie getroffen zu einem letzten Schlag? Wenn die alliierten Truppen vor den Toren standen, und die Existenz des Lagers doch nur noch eine Frage von Tagen war, dann waren die Funktionskräfte nicht mehr unentbehrlich, und der einzige Grund zur Rücksichtnahme für die SS war gefallen.

Wir gingen der letzten und entscheidenden Bewährungsprobe entgegen. Würden die amerikanischen Truppen rechtzeitig genug kommen? Oder mussten wir auch diese letzte Prüfung nur auf uns allein gestellt bestehen? Das waren die Gedanken, die uns in den Märztagen 1945 bewegten.

In den ersten Apriltagen standen die amerikanischen Panzerspitzen in Eisenach, 70 Kilometer westlich von Buchenwald. Die Lagerkommandantur zog die Aussenkommandos in der Umgebung ein. Die Arbeit in den Betrieben wurde eingestellt und alle Häftlinge hinter den elektrischen Zaun des Gefangenenlagers zurückgezogen. Die Verbindungen zur Aussenwelt waren abgeschnitten. Die Wachen auf den Maschinengewehrtürmen wurden verstärkt.

Jetzt galt es. Wir wussten aus den Erfahrungen der andern Lager, dass die SS versuchen würde, das Lager vor den herannahenden alliierten Truppen zu evakuieren. Und was diese Evakuierung bedeutete, das sagten uns deutlich die Erzählungen der Kameraden, die nun täglich von den weiter im Westen gelegenen Aussenkommandos zurückkamen. Endlose Fussmärsche ohne Verpflegung, ohne Nachtquartier, umringt von der Meute der SS-Posten. Jeder den die Kräfte verliessen, der nicht mehr Schritt halten konnte und liegen blieb, erhielt den Genickschuss. Weggeworfene Gepäck- und Bekleidungsstücke und die Leichen Ermordeter bezeichneten den Weg der Häftlingstransporte.

Am Nachmittag des 3. April wurden plötzlich alle deutschen Häftlinge in die Kinohalle befohlen. Dort erschien der Lagerkommandant mit seinem Stab von Adjutanten, Lagerführern, Rapportführern. Er sprach in einem Ton, den wir noch nie von ihm gehört hatten. Selbst da nicht, als er versucht hatte, die Politischen als Freiwillige für die Formation Dirlewanger zu ködern. Er versprach, dass das Lager nicht evakuiert werde, und dass er den deutschen Häftlingen die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Lager übertrage. Er liess durchblicken, dass die deutschen Häftlinge von den Ausländern im Lager bedroht seien und freiwillig mit der SS abziehen könnten, wenn das Lager aufgegeben werden müsse. Wir schwiegen. Keine Antwort ist auch eine Antwort. Mit Versprechungen von KZ-Kommandanten hatten wir schon unsere Erfahrungen gemacht. Vielleicht war das Vordringen der Amerikaner so schnell, dass der Kommandant die Evakuierung tatsächlich nicht mehr für möglich hielt. Wie dem auch sei, wir würden auf der Hut sein. In der Nacht nach der verunglückten Kommandanten-Ansprache beschloss die internationale militärische Leitung, im geeigneten Moment auszubrechen und nach Westen zu den alliierten Truppen durchzustossen.

Aber die amerikanischen Panzerspitzen wurden bei Eisenach vorübergehend zurückgeschlagen. Die deutsche Heeresleitung hatte nochmals Verstärkungen zusammengerafft und nach Thüringen geworfen. Auf den Ettersberg wurde eine SS-Division als Verstärkung gelegt. Ein Ausbruch war unter diesen Umständen aussichtslos. Wir mussten weiter abwarten und hinhalten, und eine Evakuierung mit allen geeigneten Mitteln sabotieren und verzögern.

Die SS hatte Zeit gewonnen. Es waren kaum 24 Stunden seit der Erklärung des Lagerkommandanten verflossen, als am 4. April plötzlich durch den Lautsprecher der Befehl kam: «Alle Juden sofort auf dem Appellplatz antreten». Es sollte also doch evakuiert werden. Niemand trat an. Lager- und Blockälteste wurden ans Tor gerufen. Sie erklärten, durch die Überfüllung des Lagers keine Übersicht mehr zu haben und äusser Stande zu sein, den Befehl auszuführen. Am anderen Tage musste das ganze Lager antreten, und die SS suchte selbst die Juden herauszuziehen. Aber es waren keine gelben Winkel mehr zu sehen. Von 8’000 Juden im Lager brachte die SS schliesslich 3’000 zusammen. Die anderen waren «arisiert», in der Masse der anderen Häftlinge untergetaucht. Die bekannteren jüdischen Kameraden wurden versteckt. Die SS durchsuchte die Blocks und fand einen jüdischen Kameraden. Er setzte sich zur Wehr und wurde niedergeschossen. Aber alle anderen konnten trotz allem nicht gefunden werden.

Am nächsten Tage sollten 46 politische Häftlinge, alles Lagerfunktionäre und Führer der illegalen Organisation, am Tor antreten. Der Zweck war klar. Alle 46 waren verschwunden. Wieder wurden Lager- und Blockälteste zum Kommandanten gerufen. Sie gingen jetzt nur noch nach vorheriger Rücksprache mit dem illegalen Lagerkomitee. «Geht keinen Schritt mehr aus dem Lager. Wenn der Kommandant von Euch etwas will, soll er ans Tor kommen. Wenn sie Euch im Lager verhaften wollen, hauen wir Euch heraus.» Wieder erklärten sich die Lagerfunktionäre äusser Stande, die 46 zu finden. Wieder kamen schwer bewaffnete SS-Patrouillien ins Lager und suchten. Sie kamen überfallartig des nachts in einzelne Blocks zur Durchsuchung. Sie fanden keinen, und keiner liess sich provozieren. «Losgeschlagen wird nur auf Befehl», war die Losung.

Dann begann die SS die Baracken des kleinen Lagers zu räumen und die Insassen zum Abtransport auf den Appellplatz zu treiben. Ein grosser Teil von ihnen verschwand in den Baracken des grossen Lagers. Die SS schoss. Noch galt der Befehl: «Nicht provozieren lassen. Hinhalten, Verzögern». Die für den Abtransport Zusammengetriebenen wurden von der SS in die DAW-Baracken gesperrt. Des nachts wurde ein Teil von ihnen vom Lagerschutz wieder herausgeholt. Die SS erklärte den Kranken: «Das ganze Lager wird evakuiert, was an Kranken und Marschunfähigen zurückbleibt, wird zum Schluss liquidiert und das ganze Lager angezündet». Viele der Unorganisierten aus dem kleinen Lager liessen sich dadurch einschüchtern und haben dies mit dem Leben bezahlt. Schon nach wenigen Tagen, ja oft nur Stunden, brachen sie auf dem Marsch zusammen und wurden erschossen. Die polnischen Kameraden beschlossen, geschlossen auf den Marsch zu gehen. Ihre militärischen Kader marschierten in kleinen Gruppen über den ganzen Transport verteilt und sollten die erste beste Gelegenheit benützen, um auszubrechen. Ein Teil von ihnen ist durchgekommen. Über das Schicksal der anderen haben wir noch
nichts genaueres erfahren.

Die Spannung war aufs Unerträgliche gestiegen. In der Nacht vom 10. zum 11. April beschloss die militärische Leitung, sich weiteren Evakuierungsmassnahmen offen und gewaltsam zu widersetzen. Die Front war wieder in Bewegung gekommen und seit zwei Nächten funkte ein Geheimsender aus dem Lager Berichte an die alliierten Truppen. Zum andern Tag um 12 Uhr war das Antreten des gesamten Lagers befohlen. Dann musste die Entscheidung fallen. Alle Häftlinge sollten in den Baracken bleiben, die militärischen Gruppen ihre Ausgangsstellungen beziehen. Doch gegen 11 Uhr ertönte die Lagersirene. Ein neues bisher noch nicht gehörtes Signal: «Feind-Gefahr». Die amerikanischen Panzer waren im Anrollen, schon waren in der Ferne ihre Schnellfeuergeschütze und Maschinengewehre zu hören. Während der Gefechtslärm sich näherte, durchbrachen die Kaders den Zaun und stürmten die Maschinengewehrtürme. Von zwei Seiten ins Feuer genommen, leistete die SS nur noch geringen Widerstand. Als der erste amerikanische Panzer vor dem Lagertor auffuhr, wehte auf diesem schon die weisse Fahne. Die Türme waren schon mit bewaffneten Häftlingen besetzt. Von allen Baracken grüssten die Fahnen der vereinten Nationen. Buchenwald war frei.“

Das folgende Kapitel unter der Überschrift „Die Amerikaner helfen“ beginnt mit einem Absatz, der ebenfalls noch zitiert werden soll:

„Die amerikanischen Panzer rollten ohne Aufenthalt weiter. Wenige Kilometer ostwärts hatten sich die deutschen Truppen am Stadtrand von Weimar erneut festgesetzt, im Westen wurde in Erfurt noch erbittert gekämpft. Buchenwald war noch ein umkämpfter Frontvorsprung. Der Verbindungsoffizier des amerikanischen Kommandos hörte den Bericht des internationalen Lagerkomitees und erteilte ihm den Auftrag, selbst die militärische Sicherung und die Verwaltung des Lagers zu übernehmen. Aus den Beständen der SS bewaffnete Häftlinge besetzten SS-Kasernen und Betriebe und durchkämmten die Umgebung des Lagers nach versprengten SS-Leuten. Unter der Führung des internationalen Lagerkomitees und der nationalen Komitees wurden alle notwendigen Massnahmen in voller Ordnung und Disziplin durchgeführt. Erst nach Tagen übernahmen nachfolgende amerikanische Truppen die Verwaltung des Lagers. …“[1]Robert Leibbrand, „Buchenwald. Ein Tatasachenbericht zur Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung“ (Dokumente des Bösen, Band 2), S. 53 ff.. Die Broschüre erschien im Europa-Verlag … Continue reading

References

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1 Robert Leibbrand, „Buchenwald. Ein Tatasachenbericht zur Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung“ (Dokumente des Bösen, Band 2), S. 53 ff.. Die Broschüre erschien im Europa-Verlag Stuttgart mit dem Vermerk: „Herausgegeben mit Genehmigung der Publications Control 6871 st DISC“. Das hier abgedruckte Kapitel findet sich auch im Internet in einem E-Book desselben Autors unter dem Titel „BUCHENWALD. LIEBER STERBEN ALS VERRATEN. ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN WIDERSTANDSBEWEGUNG“, herausgegeben von der „CENTRALE SANITAIRE SUISSE IN ZUSAMMENARBEIT MIT DER BEWEGUNG FREIES DEUTSCHLAND IN DER SCHWEIZ Oktober 1945“, https://ulis-buecherecke.ch/pdf_deutscher_widerstand/widerstand_in_buchenwald.pdf.