Offener Brief zu Martin Borowsky’s Beitrag „Die NS-Belastung des Bundesarbeitsgerichts“ in der Kritischen Justiz

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Im 4. Quartal 2022 veröffentlichte die „Kritische Justiz“ (4/2022, S. 399-411) einen Aufsatz von Martin Borowsky. Martin Borowsky war wissenschaftlicher Mitarbeiter am BAG und ist dort auf die sogenannte „Ahnengalerie“ gestoßen. Dort finden sich auch die ersten Richter und Richterinnen nach der Zerschlagung des Nazifaschismus. So z.B. Hans Gustav Joachim ein überzeugter Anhänger des Naziregimes (YouTube: „Nazi-Richter am Bundesarbeitsgericht„). Der folgende Beitrag war ein Versuch einen kritischen Beitrag zur Reflektion über die Kriterien der Belastung von Juristen in der NS-Zeit zu leisten. Besteht doch immer noch das Problem vorschnell „einen Persilschein“ zu erteilen. Die Kritische Justiz hat die Veröffentlichung des Beitrags kommentarlos abgelehnt. Es geht insbesondere um die Verharmlosung der Rolle, die Hans-Carl Nipperdey im Faschismus gespielt hat. Dieser Beitrag wurde erstmals auf labournet veröffentlicht. Wir veröffentlichen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Autorin (Vorsitzende der VDJ):

Juristen als Teil der Funktionselite des NS-Regimes Eine kritische Anmerkung zum Beitrag „Die NS-Belastung des Bundesarbeitsgerichts“ von Martin Borowsky in der KJ 2022, S. 399 ff.

Martin Borowsky ist es endlich 70 Jahre nach der Zerschlagung des NS-Regimes gelungen eine Auseinandersetzung über die personellen Kontinuitäten von Richtern und Richterinnen des Bundesarbeitsgerichts nach 1945 anzustoßen. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Biografien der ersten 24 Richter des Bundesarbeitsgerichts zu erforschen und ihre Verflechtung mit dem NS-Regime offenzulegen. Eine Arbeit, die längst überfällig ist und durch die Erforschung, inwiefern eine inhaltliche Kontinuität der Rechtsprechung des höchsten Arbeitsgerichts nach 1945 gegeben ist, ergänzt werden muss.

Der Artikel von Martin Borowsky stellt wichtiges und bisher nicht erschlossenes Material für die Erforschung der personellen Kontinuitäten bereit.

Der NS-Staat und seine Justiz waren verbrecherisch. Martin Borowsky stellt sich die Frage: „Waren Juristinnen und Juristen meiner Untersuchungsgruppe nach dem Krieg aus der Sicht vernünftiger Demokraten qualifiziert, eine rechtstaatliche Justiz aufzubauen?“

Um diese Frage wirklich beantworten zu können ist es jedoch notwendig eine Gesamteinschätzung der Justiz im NS-Regime als Teil eines verbrecherischen Staatsapparats voranzustellen. Sein Artikel lässt diese Gesamteinschätzung vermissen. Sie ist aber eine notwendige theoretische Voraussetzung, um Einzelstudien und Biografien einzelner Personen des NS-Justizapparats einordnen zu können. Nur so kann die von Borowsky gestellte Frage beantwortet werden. Dieser Blick auf die Justiz zwischen 1933 und 1945 fehlt
bei Borowsky. Nur so ist es erklärlich, dass der Autor von „unvertretbaren Todesurteilen“ spricht. Es ist aber nicht vorstellbar, dass zwischen 1933 und 1945 in NS-Deutschland „vertretbare Todesurteile“ verhängt wurden. Dies gilt unabhängig davon, welche Ansicht der Autor zur Todesstrafe vertritt.

So wird in dem Artikel auch nicht klar, welche Kriterien bei den Bundesrichtern vorliegen müssen, um „für den Wiederaufbau einer rechtstaatlichen Justiz“ qualifiziert oder disqualifiziert zu sein. Die Einschätzung, dass von 25 Personen 11 qualifiziert gewesen seien
eine rechtstaatliche Justiz aufzubauen, setzt voraus, die Kriterien sehr niedrig anzusetzen.

Brorowsky teilt die Richter des BAG in die Kriterien „unbelastet, unerheblich belastet, erheblich belastet und schwer belastet“ ein. Er vertritt die Auffassung, dass ein „nur“ unerheblich belasteter Richter geeignet sei, den Richterposten am BAG ohne weiteres auszuüben.

Er benennt sieben Personen als völlig unbelastet, aber seine Begründung dazu überzeugt nicht. Er belegt seine Einschätzung nicht mit Fakten oder schließt z.B. aus Schikanen durch das NS Regime auf eine distanzierte Haltung gegen das Regime. Als Argumente für eine nur unerhebliche Belastung werden etwa eine jüdische Großmutter oder vereinzelte Hilfeleistungen für Verfolgte angeführt, die aber nicht genau belegt werden. Auch die Mitgliedschaft in „oppositionellen kirchennahen Kreisen“ ist nicht geeignet das Kriterium
„unbelastet“ zu begründen. Die Frage müsste so gestellt werden: Inwieweit hat eine Unterstützung des Nazi-Regimes durch diese Personen stattgefunden. Oder anders gesagt, was haben diese Personen von 1933 bis 1945 tatsächlich getan?

Borowskys Forderung „nicht den Gestus der Verurteilung“ einzunehmen, kann nicht gefolgt werden. Eine nachträgliche und notwendige Verurteilung von Personen, die Unrecht begangen oder unterstützt haben, steht der Wahrheitssuche nicht entgegen. Der Verzicht auf eine Verurteilung, auch wenn sie nur moralisch ist, widerspricht der Gerechtigkeit für die vom NS-Regime ihrer wirtschaftlichen Existenz, ihrer Freiheit beraubten und ermordeten Personen. Eine wertfreie Analyse der Verbrechen der NS-Zeit ist nicht „wissenschaftlich“, sondern unmöglich.

Verharmlosung des Wirkens Hans Nipperdeys Dass Borowsky vorschnell „Unbedenklichkeitsbescheinigungen“ erteilt, zeigt sich anschaulich am Beispiel Hans Nipperdey. Es muss einer deutlichen und scharfen Kritik unterzogen werden, wenn sich Juristen verbrecherischen Systemen zur Verfügung stellen und diese durch ihre Tätigkeit stützen und unterstützen. Die Vorstellung, dass Juristen nur das Recht anwenden und deshalb für die Auswirkungen und das daraus entstehende Unrecht nicht verantwortlich sind, steht einer ehrlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit entgegen.

Jeder Arbeitsrichter musste z. B. auf Grund der bestehenden Gesetzeslage davon ausgehen, dass „polnische Beschäftigte, Ostarbeiter, Juden und Zigeuner“ nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen und deshalb entrechtet waren (Siehe Rn. 22 zu § 1 Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit, Kommentar von Hueck, Nipperdey und Dietz, 4. Auflage Berlin 1943). Dies war die Gesetzeslage seit Inkrafttreten des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ ab 1934. Die Teilnahme an einem solchen Unrecht disqualifiziert für den Aufbau der rechtstaatlichen Justiz.

Hans Nipperdey war noch kein Arbeitsrichter. Er wurde Mitglied der Akademie für deutsches Recht, die am 26.6.1933 gegründet wurde. Sie war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und ihre Aufgabe war „die Neugestaltung des deutschen Rechtslebens zu fördern und in Verbindung mit den für die Gesetzgebung zuständigen Stellen das nationalsozialistische Programm auf dem gesamten Gebiet des Rechts zu verwirklichen“ (Zitat aus dem Gesetzestext § 2 des Gesetzes über die Akademie für deutsches Recht).

Er war als Akademiemitglied an der Ausarbeitung des Entwurfs eines Gesetzes über das Arbeitsverhältnis an prominenter Stelle beteiligt. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit trat am 20.1.1934 in Kraft. Jenes Gesetz, das, wie gerade beschrieben, Personen bestimmter Herkunft das Recht einen Arbeitsvertrag zu schließen schlicht absprach. Dieses Gesetz kommentierte Nipperdey gemeinsam mit anderen über vier Auflagen hinweg. Mit diesem Gesetz wurden die letzten demokratischen Rechte in den Betrieben beseitigt und auch dort das sogenannte Führerprinzip verankert. Das Gesetz wurde 1942 ergänzt durch eine „Verordnung über die Besteuerung und arbeitsrechtliche Behandlung der Arbeitskräfte aus den neu besetzten Gebieten“, den Zwangsarbeitern, die in das deutsche Reich verschleppt und unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet worden sind. Auch dies war Teil des „Arbeitsrechts“ zwischen 1933 und 1945. Ein Gesetz das „Polen, Ostarbeiter, Juden und Zigeuner“ nicht würdig befand der „Betriebsgemeinschaft“ anzugehören.

Die Universität Köln hatte als einzige Universität ein auf das Arbeitsrecht spezialisiertes Forschungsinstitut. Hans Nipperdey war einer der Institutsleiter, neben H. Lehmann und H. Planitz. Nachdem die von H. Sinzheimer gegründete einzige kritische Arbeitsrechtschule in Frankfurt geschlossen werden musste, Sinzheimer musste sich in die Emigration begeben, kann man festhalten, dass fast der gesamte arbeitsrechtliche juristische Nachwuchs zwischen 1933 und 1945 schwerpunktmäßig in Köln ausgebildet wurde. Es liegt auf der Hand, dass dieses Institut eine Schlüsselstellung in arbeitsrechtlicher Hinsicht einnahm. Ein Arbeitsrecht, das geprägt war von der nazifaschistischen Ideologie, wodurch die Beschäftigten als „Gefolgschaft“ zum unbedingten Gehorsam verpflichtet wurden. Roderich
Wahsner charakterisierte das Arbeitsrecht als „Instrument des faschistischen Terrors und der Legitimation von Unternehmenswillkür“ (Arbeitsrecht unter´m Hakenkreuz, Baden Baden 1994)

Die verharmlosende Darstellung dieses Instituts und der Rolle von Hans Nipperdey im Artikel von Martin Borowsky ist nicht nachvollziehbar. Hans Nipperdey kann nicht als „nicht gänzlich unbelastet gelten“, wie Borowsky meint. Nipperdey war Teil der Funktionselite des Nazifaschismus, ohne die das Unrechtsregime nicht hätte funktionieren können, das gesteht auch Borowsky zu. Ihn als „unerheblich belastet“ und damit als qualifiziert eine rechtstaatliche Justiz aufzubauen anzusehen kann nur als Fehleinschätzung bewertet werden.

Dem NS-Regime nicht nahe gestanden?

Martin Borowsky stellt zu Beginn seines Artikels klar und richtig fest, dass für die Bewertung „objektive, d.h. intersubjektive nachprüfbar festgestellt Mitgliedschaften, Tätigkeiten, Handlungen und Taten“ entscheidend sein sollen. Die innere Haltung zum NS-Regime sei oftmals nicht mit Sicherheit nachprüfbar. Er hält seine Kriterien aber selbst nicht durch, wenn er Nipperdey bestätigt, dass der dem „Nationalsozialismus … innerlich nicht nahegestanden haben“ dürfte. Dafür fehlt jeder Beleg, nahezu sein gesamtes Handeln
zwischen 1933 und 1945 verweist auf das Gegenteil.

Zuzugestehen ist, dass für die Beurteilung, wie stark eine Person belastet ist, die Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund für sich alleine gesehen noch nicht ausreicht um für den Aufbau einer rechtstaatlichen Justiz als disqualifiziert zu gelten. Aber hier gilt es weiter zu forschen, welche Aktivitäten innerhalb der Organisation entwickelt worden sind, gibt es belastende Publikationen etc. Gleiches gilt für die Nationalistische Volkswohlfahrt. Denn das Argument, dass den Vereinigungen fast alle Jurist:innen angehörten, ist nicht überzeugend. Auch hier gilt: Was haben diese Personen von 1933 bis 1945 getan?

Fazit

Es ist zu begrüßen, dass diese seit langem überfällige Untersuchung endlich begonnen hat. Uwe Wesel hat 1993 (!) die Hoffnung geäußert, dass die „Kollegenschwelle“ niedriger wird. Da die „noch mächtigen Überlebenden, Richter und Professoren und andere Juristen aus dieser Zeit, denen man nicht zu nahe treten wollte oder konnte“ aussterben. So sollte endlich eine Aufarbeitung dieser Zeit möglich sein (Uwe Wesel, Juristische Weltkunde Frankfurt am Main 1993, S. 145). Das von Wesel geforderte Gesamtbild über das „Recht im Faschismus“ liegt noch immer nicht vor. Die Kollegenschwelle wirkt offenbar noch immer fort, wie die (personell vollständige) Ahnengalerie des Bundesarbeitsgerichts zeigt. Es darf nicht der Fehler begangen werden durch vorschnelle Unbedenklichkeitsbescheinigungen die Aufarbeitung der Kontinuitäten in der deutschen Justiz, hier in der arbeitsrechtlichen,
weiterhin zu behindern. Es wird endlich Zeit die Fakten offen und ungeschminkt auf den Tisch zu legen und auch unbequemen Wahrheiten der Nachkriegsgeschichte ins Auge zu schauen. Regina Steiner, Vorsitzende der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen

13.2.2023

Siehe zum Hintergrund im LabourNet Germany das Dossier: Bundesarbeitsgericht: Richter mit NS-Vergangenheit