Die folgenden sechs Thesen sind eine Zusammenfassung eines Textes von Jürgen Horn
- Judenfeindschaft überhaupt ist ein altes Phänomen. Es fällt auf, dass mindestens im europäischen Mittelalter religiös intendierte Judenfeindlichkeit immer dann gewaltsam eskaliert, wenn sie auf wirtschaftliche Interessen oder wenn sie auf soziale Spannungen oder auf Katastrophen trifft. Sie wird in den Formen gedacht, die dieser Gesellschaft entsprechen – eben religiös.
- Der Übergang von religiös untersetzter Judenfeindlichkeit zu einer antisemitischen Weltanschauung, die letztendlich zu einem inneren Moment der Machtorganisation des Hitlerfaschismus wird, vollzieht sich erst mit der Stabilisierung des Kapitalismus und seinem beginnenden Übergang zum Imperialismus.
- Das ist gleichzeitig auch eine Zeit des Erwachens jüdischen nationalen Selbstbewusstseins, eine Zeit der Erforschung des Judentums und seiner Geschichte durch Juden und Nichtjuden.[1] Es wird national, kulturell und historisch sichtbar.
- „Antisemitisch“ als Adjektiv wird zum ersten Mal in einer Rezension von Chajm Heymann Steinthal (1823 – 1899) in Band 1 der von ihm herausgegebenen “Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft” von 1860 verwendet[2]. Sicher ist, dass das Wort „Antisemitismus“ schon um 1879 im Gebrauch ist und von Wilhelm Marr, wohl als erstem offiziell und nicht nur gelegentlich, in seinen „Antisemitischen Blättern“ und der von ihm 1879 gegründeten „Antisemiten-Liga“ verwendet worden ist[3]. Der Antisemitismus geht in seiner rassistischen Art und Weise der Zuwendung zur Nation („verkommene“ Semiten/Juden kontra „gesundes“ Germanentum[4]), weit über ökonomische Bezüge hinaus. Er präsentiert sich als Weltanschauung, die dann in der Verschwörungstheorie von der jüdischen (die Protokolle der Weisen von Zion) und später in einer Phase des vollständigen Antisemitismus als „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ seine Konsequenz findet[5].
- „Jüdisch-Bolschewistische Weltverschwörung“, „jüdisch-bolschewistische Untermenschen“; es hat einen Grund, dass Judenfeindlichkeit mit der Bekämpfung von Kommunisten in Verbindung gebracht und in dieser Verbindung als Antisemitismus Teil des Hitlerfaschismus wird. Schon in der Wortwahl wird deutlich, dass es nicht nur gegen das Jüdische, sondern immer auch gegen die kommunistischen und sozialistischen gesellschaftlichen Kräfte geht, die den Kapitalismus als Gesellschaftsordnung bekämpfen. Den verbrecherischen Abschluss dieser Entwicklung von Antisemitismus bildet die physische Vernichtung nicht nur aller Juden, sondern auch von Kommunisten, Gewerkschaftern und Demokraten.
- Darin, eben als Weltanschauung und als Machtpraxis liegt die Wirksamkeit des Antisemitismus. Aus diesem Verständnis heraus kann und muss man ihn bekämpfen. Für Antifaschismus, der sich dem Schwur von Buchenwald und damit der „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“ verpflichtet fühlt, ist damit der Kampf gegen Antisemitismus auch immer Kampf gegen Faschismus.
[1] Die religiöse Poesie der Juden in Spanien. Zum zweiten Male mit biographischer Einleitung und ergenzenden Anmerkungen hrsg. von S. Bernfeld Berlin 1901 Vorwort S.: V https://archive.org/details/diereligisepoe00sachuoft
[2] Zu dem von Steinschneider verwendeten Adjektiv „antisemitisch“ sind zwei Dinge anzumerken. Zum Ersten: Alex Bein verweist in: Die Judenfrage: Biographie eines Weltproblems, Band II. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1980, S. 164 f zwar zutreffend darauf, dass hier erstmalig das Adjektiv „antisemitisch“ verwendet. Es stimmt zwar, dass das Wort in „Hebraeische Bibliographie. Blätter für neuere und ältere Literatur des Judentums Redigiert von M. Steinschneider Zugleich eine Ergänzung zu allen Organen des Buchhandels. Nebst einem Specialindex der bibliographischen Artikel über alle drei Bände. Band III Berlin 1860“ https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/download/pdf/7176707.pdf S.: 16 vorkommt. Es ist aber eigentlich davon auszugehen, dass es sich hierbei um die Übernahme einer Rezension von Chajm Heymann Steinthal (1823 – 1899) in Band 1 der “Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft” von 1860 handelt. Zum Zweiten: Wenn man sich andere Arbeiten, jetzt wirklich von Steinthal anschaut, dann kann man sehen, dass er „Semiten“ und „Juden“ nicht unbedingt deckungsgleich verwendet. Vielmehr denkt er in dem für die damalige Zeit nicht unüblichem Dreiklang von Rasse, Volk, Nation. Vgl. dazu: „Drittens aber kann die Frage nicht unbeachtet bleiben: gehören denn alle Völker mit semitischen Sprachen auch einer und derselben, der semitischen Rasse an?“ H. Steinthal: „Charakter der Semiten“ in: Über Juden und Judentum. Vorträge und Aufsätze von H. Steinthal. Hrsg. von Gustav Karpeles Berlin 1906 S.: 90. Die Herkunft des Wortes wird unterschiedlich bestimmt. Das Substantiv Antisemiten taucht in Marrs Schriften auf, nicht aber Antisemitismus: Diese Neuschöpfung erschien erstmals in einem Zeitungsbericht über die Gründung der Antisemitenliga vom Dezember 1879.
[3] Wer über zuviel Lebenszeit verfügt und darüber hinaus auch noch in der Lage ist seine Ekelschwelle enorm zu senken, der kann es nachlesen. Es ist eine Linie, die sich von Wilhelm Marr (Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum https://archive.org/details/dersiegdesjuden01marrgoog), Theodor Fritsch (Antisemiten-Katechismus https://archive.org/details/Fritsch-Theodor-Antisemiten-Katechismus) und Otto Glagau (Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin) https://archive.org/details/derbrsenundgr00glaguoft/page/n7/mode/2up) zu den dann schon faschistischen wirtschaftstheoretischen Überlegungen von Gottfried Feder (Kampf Gegen die Hochfinanz https://archive.org/details/gottfriedfederkampfgegendiehochfinanz19352003384s.scanfraktur, Das Manifest Zur Brechung Der Zinsknechtschaft des Geldes https://archive.org/details/gottfriedfederdasmanifestzurbrechungderzinsknechtschaftdesgeldes191962s.text) und der Programmatik und Propaganda der NSDAP (Gottfried Feder Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken https://archive.org/details/gottfriedfederdasprogrammdernsdapundseineweltanschaulichengrundgedanken193565s.text, Das kleine ABC des Nationalsozialisten https://archive.org/details/kleines_abc, und Das Programm Der NSDAP 1928 https://archive.org/details/das-programm-der-nsdap-1928/page/n3/mode/2up) zieht.
[4] Das muss man sehen wegen der Frage der Entstehung von Antisemitismus und der Frage nach dem Punkt, an dem er vollständig ausgebildet ist. Er taucht früher auf, eben mit der Entwicklung des Imperialismus. Vollständig ist er aber erst dort, wo er antikommunistische Reaktion auf die revolutionäre Formierung des Proletariats wird.
Zur Funktion des Antisemitismus, als „Begründung“ für die wirtschaftliche Krise des „Gründerkrachs“ 1873 herangezogen zu werden, und zu dem Wandel von einer religiösen zu einer rassistischen „Begründung“, siehe Reinhard Opitz: „Im Jahr 1973, exakt im Jahr des „Gründerkrachs“, findet in Deutschland die von Wilhem Marr verfasste Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ Massenverbreitung, in der Deutschland als das „abendländische Neu-Palästina“ dargestellte wird, in dem sich die Juden des den Franzosen vom siegreichen Deutschland abverlangten Goldtributs bemächtigt und an die Spitze des „corrumpierenden Gründerthums nach dem Kriege“ gesetzt hätten und in dem mittels ihrer Emanzipation „das Handwerk“ der Großindustrie geopfert worden sei …“ (zitiert nach Reinhard Opitz, Faschismus und Neofaschismus, 1984, Frankf. a.M., S. 23 f.). Es werden also als Ursache für den „Gründerkrach“, der auf den „Gründerboom“ nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 folgte, nicht ökonomische Gründe, sondern der „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ genannt. Reinhard Opitz dazu: „Solche Umlenkung des in der gesamten langen Depressionszeit der siebziger und achtziger Jahre anhaltenden Unmuts der mittelständisch -kleinbürgerlichen und bäuerlichen Wählerschichten, an die diese Schriften ausdrücklich adressiert waren, … vermochten freilich nur noch zu funtionieren …, wenn die funktionsnotwendigerweise zu behauptende Verabscheuungswürdigkeit und Gefährlichkeit der Juden nicht mehr aus ihrer – im Zeitalter der sich druchsetzenden religiösen Indifferenz und Toleranz gleichgültig werdenden – Konfessionszugehörigkeit aus einer dem Geist des Jahrhunderts entsprechenden, einer „naturwissenschaftlichen“ Begründung hergeleitet war. Wilhelm Marr, der … zum Gründer der ersten antsemitischen „Bewegung“ in Deutschland, der „Antisemiten-Liga, wird, … ist der erste, der daher nun programmatisch den Rassismus zur einzig zulässigen Begründungsgrundlage des Antisemitismus erklärt und folglich in seinen zahllosen Schriften nichts mehr immer wieder betont, als dass die Frage der Zugehörigkeit zum Judentum keine Frage der Releigion, sondern der „Rasse“ und des aus ihr resultierenden „Rassencharakters“ und „Rassengeistes“ sei, worein er nun rasch von Eugen Dürig bis Chamberlain, Nachsprecher findet“ (Reinhard Opitz, a.a.O. S. 24 f.). Diese Zitate aus dem Buch von Reinhard Opitz wurden von B. Hopmann hinzugefügt.
[5] siehe Reinhard Opitz a.a.O. , unter IV., S. 192 ff.