NATO übt Einsatz von Atomraketen

Autor: Benedikt Hopmann, 04.11.2022

Für den 22. Oktober 2022 rief die Initiative „Ohne Rüstung leben“ zur Demonstration in Nörvenich auf. Nörvenich liegt 30 Kilometer von Köln entfernt. Die Demonstration richtete sich gegen das NATO-Manöver „Steadfast Noon“, das im Oktober 2022 den Atombombeneinsatz übt. In der Presse, etwa bei t-online, wurde über das geplante Manöver berichtet.[1]Der Bericht von t-online über das Manöver „steadfast Noon“: … Continue reading Danach wird wohl auch Russland eine solche Übung durchführen.

Es wird gesagt, dass diese Übungen in jedem Jahr stattfinden. Aber vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine bergen solche Manöver zusätzliche Gefahren in sich.

t-online blickt im Zusammenhang mit der NATO-Übung im Oktober zum Einsatz von Atomwaffen zurück in das Jahr 1983:

„Bei manchen Beobachtern dürfte „Steadfast Noon“ auch schlechte Erinnerungen an den Herbst 1983 wecken. Unter dem Decknamen „Able Archer“ (Fähiger Schütze) simulierten im November des Jahres die Staats- und Militärchefs der Nato einen Atomkrieg. Die strenge Geheimhaltung und der hohe Realitätsgrad der Übung lösten in Moskau große Nervosität aus. Die Führung im Kreml hegte den Verdacht, dass es sich statt einer Übung um die Vorbereitung eines tatsächlichen Atomangriffs handelte und versetzte seine atomwaffenfähigen Bombergeschwader in Alarmbereitschaft. Diese Information erreichte über Doppelagenten auch die Nato-Verantwortlichen, die ihre Übung daraufhin vorzeitig abbrachen. US-Präsident Ronald Reagan ließ sich schließlich von einem Fernsehteam auf seine Ranch begleiten, um dem Kreml zu signalisieren: alles ruhig im Westen, kein Grund zur Panik“[2]Der Bericht von t-online über das Manöver „steadfast Noon“: … Continue reading.

References

References
1 Der Bericht von t-online über das Manöver „steadfast Noon“: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/militaer-verteidigung/id_100064804/nato-atomuebung-das-passiert-bei-steadfast-noon-.html, abgerufen am 15.10.2022 15:15 Uhr
2 Der Bericht von t-online über das Manöver „steadfast Noon“: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/militaer-verteidigung/id_100064804/nato-atomuebung-das-passiert-bei-steadfast-noon-.html, abgerufen am 15.10.2022 15:15 Uhr

„Unsere europäischen Werte“: 1,21 Euro Mindestlohn in der Ukraine

Autor: Werner Rügemer; 01.11.2022

Foto: Werner Rügemer

Die Ukraine ist korrupt – wissen wir, macht nichts, ist ja für die gute Sache. Aber die Ukraine hat auch die ärmste und kränkeste Bevölkerung, ist Drehscheibe der europaweiten Niedrigstlöhnerei und des Zigarettenschmuggels, Weltspitze beim Handel mit dem weiblichen Körper – und hat mehr Soldaten als jeder europäische NATO-Staat.

Von Werner Rügemer.[1]Werner Rügemer: BlackRock & Co enteignen! Auf den Spuren einer unbekannten Weltmacht. Nomen Verlag Frankfurt/Main 2021, 179 Seiten, 12 Euro. Blackrock in der Obama- und Biden-Regierung. … Continue reading, [2]www.werner-ruegemer.de

Bei der ersten Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in der Ukraine, im Jahre 2015, betrug er 0,34 Euro, also 34 Cent pro Stunde. Danach wurde er erhöht: 2017 betrug er 68 Cent, 2019 betrug er 10 Cent mehr, also immerhin 78 Cent, und seit 2021 liegt er bei 1,21 Euro. Schon mal gehört?

Selbst dieser Niedrigstlohn wird nicht immer bezahlt

Das bedeutet natürlich nicht, dass dieser Mindestlohn in diesem Staat tatsächlich korrekt bezahlt wird. Bei einer vollen Arbeitswoche im Jahre 2017 betrug so der monatliche Mindestlohn 96 Euro. Aber zum Beispiel in der Textil- und Lederindustrie kam dieser Mindestlohn bei einem Drittel der meist weiblichen Beschäftigten nur durch erzwungene und nicht eigens bezahlte Überstunden zustande. Auch Bezahlung nach Stücklohn ist verbreitet – die bestimmte Zahl an Hemden muss in einer Stunde fertiggenäht sein; wenn das nicht klappt, muss unbezahlt nachgearbeitet werden.

Wenn keine Aufträge vorlagen, wurde unbezahlter Urlaub angeordnet. Der gesetzlich zustehende Jahresurlaub wurde vielfach nicht gewährt bzw. nicht bezahlt. Die Unternehmensleitung verhinderte die Wahl von Belegschaftsvertretungen. Mit diesem Mindestlohn lagen die Menschen weit unterhalb des offiziellen Existenzminimums: Es betrug im besagten Jahr 166 Euro.

Die Hungerlohn-Kette aus der Ukraine in die EU-Nachbarstaaten

Es gibt etwa 2.800 offiziell registrierte Textilunternehmen, aber auch eine vermutlich ebenso hohe Zahl an nicht registrierten Kleinunternehmen. Sie bilden seit Jahrzehnten eine ganz normale Schattenwirtschaft, oft in Kleinstädten und Dörfern.

Dabei rangieren die meisten dieser Unternehmen nur als Zweitklasse-Zulieferer für die international besser vernetzten Billigproduzenten in den benachbarten EU-Staaten, vor allem in Polen, aber auch in Rumänien und Ungarn.

So gehen 41 Prozent der Schuhe als Hungerlohn-Halbfertigware aus der Ukraine erstmal in die Niedriglohnfabriken Rumäniens, Ungarns und Italiens: Dort kriegen sie dann das unschuldige und schöne Etikett „Made in EU“.

Textilbeschäftigte selbst können sich nur Second-hand-Importe aus Deutschland leisten

Die Mehrheit der etwa 220.000 Textilbeschäftigten sind ältere Frauen. Sie halten sich nur durch eigene Subsistenzwirtschaft über Wasser, etwa durch einen eigenen Garten mit Hühnerstall. Krankheiten wegen Mangelernährung sind verbreitet.

Ihre eigenen Kleider kaufen die Textilarbeiterinnen meist aus Second-hand-Importen: Die kommen vor allem aus Deutschland, Polen, Belgien, der Schweiz und den USA. Die Ukraine importiert nämlich viel mehr Textilien als sie exportiert.

Die teuren, in der Ukraine vorproduzierten Importe von Boss und Esprit aus dem reichen EU-Westen sind für die reiche Elite und die NGO-Blase in Kiew bestimmt – während die Mehrzahl der Importe billigste Second-hand-Textilien sind. Die Textilarbeiterinnen, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung können sich nur die fast kostenlosen Wegwerf-Textilien aus den reichen Staaten leisten.[1]

Aber westliche Gewerkschaften und „Menschenrechtler“ blicken immer noch nach Asien und Bangladesh, wenn es um menschenrechtswidrige Niedriglöhnerei in der Textilindustrie geht. Obwohl die Niedriglöhne in der Ukraine viel niedriger sind. Auch bei den aktuellen Diskussionen in der EU und im Deutschen Bundestag über ein Lieferkettengesetz: Da geht der Blick weit hinaus, global, nach Asien, während die EU-ukrainische Armutskette verleugnet wird.

Hier sitzt sie, die Korruption: C&A, Hugo Boss, Adidas, Marks&Spencer, New Balance, Esprit, Zara, Mexx sind die profitierenden Endabnehmer. Sie leben von der menschenrechtswidrigen Ausbeutung. Hier in den reichen EU-Staaten sitzen die wichtigsten Akteure der Korruption. Klammheimlich begrüßen sie freudig die nicht vorhandene bzw. komplizenhafte Arbeitsaufsicht des ukrainischen Staates, und die EU deckt das systemische Arbeitsunrecht ebenfalls, mit rituell-heuchlerischer und folgenloser Anmahnung der Korruption in der Ukraine.[2]

Autozulieferer, Pharma, Maschinenbau

So ähnlich wie in der Textil- und Lederindustrie läuft es auch in anderen Bereichen. Die Ukraine war ein Schwerpunkt industrieller Produktion in der Sowjetunion. Nach der Selbstständigkeit 1991 übernahmen Oligarchen die Firmen, holten Gewinne raus, steckten nichts in die Innovation. Für westliche Firmen standen Millionen gut qualifizierter Beschäftigter bereit – zu Niedrigstlöhnen.

Tausende Unternehmen vor allem aus den USA und EU-Staaten – allein aus Deutschland etwa 2.000 – vergeben Zuliefer-Aufträge für eher einfachere Teile: Porsche, VW, BMW, Schaeffler, Bosch und Leoni etwa für Autokabel; Pharma-Konzerne wie Bayer, BASF, Henkel, Ratiopharm und Wella lassen ihre Produkte abfüllen und verpacken; Arcelor Mittal, Siemens, Demag, Vaillant, Viessmann unterhalten Montage- und Verkaufsfilialen. Hier werden durchaus Löhne von zwei bis drei Euro gezahlt, also mehr als der Mindestlohn, aber eben noch niedriger als in den angrenzenden EU-Staaten Ungarn, Polen, Rumänien.

Deshalb sind die ukrainischen Standorte mit den Standorten derselben Unternehmen in diesen benachbarten EU-Staaten eng vernetzt, wo die gesetzlichen Mindestlöhne über 3 Euro und unter 4 Euro liegen. Die Vernetzung gilt aber genauso mit den noch ärmeren Nachbarstaaten Moldau, Georgien und Armenien, die nicht EU-Mitglieder sind. Hier werden ebenfalls Filialen betrieben. Im Zuge der „Östlichen Nachbarschaft“, organisiert von der EU, werden alle Unterschiede der Qualifikation, der noch niedrigeren Bezahlung ausgenutzt – mit der Ukraine als Drehtür.

Millionenfache Arbeits-Migration

Diese selektive Ausnutzung von Standortvorteilen durch westliche Kapitalisten hat nicht zur volkswirtschaftlichen Entwicklung geführt, im Gegenteil. Die Ukraine wurde volkswirtschaftlich verarmt. Die Bevölkerungsmehrheit wurde ärmer und kränker gemacht. Eine massenhafte Reaktion ist die Arbeitsmigration.

Sie setzte schon früh ein. Bis Ende der 1990er Jahre wanderten mehrere hunderttausend Ukrainer nach Russland aus. Die Löhne waren zwar nicht viel höher, aber in Russland schlagen nicht die exzessive Verwestlichung des Lebensstils und die Verteuerung der Lebenshaltungskosten für Nahrung, Mieten, Gesundheit und staatliche Gebühren durch.

Seit den 2000er Jahren und beschleunigt durch die Folgen des Maidan-Putsches 2014 sind etwa 5 Millionen UkrainerInnen als Arbeitsmigranten unterwegs – etwa zwei Millionen mehr oder weniger dauerhaft im Ausland, etwa drei Millionen pendeln in die Nachbarstaaten. Insbesondere der polnische Staat, der ohnehin Ansprüche auf westliche Teile der Ukraine erhebt, fördert die Arbeitsmigration aus der Ukraine. Etwa zwei Millionen UkrainerInnen verdingen sich in Polen vor allem in niedrigen Diensten als Putzkräfte, Haushaltshilfen, Kellner, Altenbetreuer, LkW-Fahrer.[3] In Polen blüht auch das Geschäft von Vermittlungsagenturen: Die erklären Ukrainer zu polnischen Staatsangehörigen und vermitteln sie etwa als häusliche Pflegekräfte nach Deutschland und in die Schweiz: Da wird dann schon mal der dortige Mindestlohn bezahlt, für eine 40-Stunden-Woche, aber in Wirklichkeit müssen die Pflegekräfte 24 Stunden in Bereitschaft sein, so steht es im Vertrag mit der polnischen Agentur.

Hunderttausende UkrainerInnen verdingen sich zudem dauerhaft, auf Zeit oder hin- und herpendelnd in Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Tschechien, mit Mindestlöhnen zwischen 3,10 Euro und 3,76 Euro. Da freuen sich die UkrainerInnen, auch wenn sie ein bisschen unter diese Mindestlöhne gedrückt werden – das ist immer noch viel besser als in ihrer Heimat, und die Arbeitsaufsicht sagt nichts und die EU sagt auch nichts.

Studierende aus der Ukraine sind gern engagierte Saisonkräfte in der EU-Landwirtschaft. Allein in Niedersachsen sind es jährlich etwa 7.000 Studierende, die freilich nicht unbedingt studieren, sondern mit gefälschten Immatrikulationspapieren einreisen. Weder in der Ukraine noch in Deutschland wird kontrolliert, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab.[4]

Mindestlohn in Litauen: 2015 betrug er 1,82 Euro, also fünf mal höher als damals in der Ukraine; 2020 betrug er 3,72 Euro. Die EU fördert den Ausbau Litauens zur europäischen Speditions-Zentrale: Mithilfe Künstlicher Intelligenz werden billige und willige LkW-Fahrer aus Drittstaaten wie Ukraine, Moldau, aber auch von weiter her wie von den Philippinen quer durch Europa gelenkt. Sie brauchen keine Sprache zu lernen, sie bekommen ihre Anweisungen über Smartphone und Navigator. So fehlten mit Beginn des Krieges in der Ukraine den Speditionen in Litauen und Polen plötzlich über 100.000 LkW-Fahrer – aus der Ukraine, sie durften wegen des Militärdienstes nicht mehr ausreisen.[5]

Frauen-Armut I: Es blüht die verbotene Prostitution

Der patriarchale Oligarchenstaat Ukraine hat die Ungleichheit zwischen Mann und Frau extrem vertieft. Mit 32 Prozent gender pay gap stehen ukrainische Frauen an der allerletzten Stelle in Europa: Im Durchschnitt bekommen sie ein Drittel weniger Lohn und Gehalt als ihre männlichen Kollegen, im Bereich Finanzen und Versicherung sind es bei gleicher Arbeit sogar 40 Prozent[6] – der EU-Durchschnitt ist 14 Prozent. Wegen der patriarchalen Stereotype werden Frauen zudem besonders häufig in prekäre Teilzeitjobs abgedrängt, sogar noch weit mehr als in Merkel-Deutschland, das bei der Benachteiligung von Frauen unter den EU-Staaten mit an vorletzter Stelle steht.

Zu dieser patriarchalen Frauen-Armut gehört das Verbot der Prostitution, die aber genau unter diesen Bedingungen besonders blüht. Auch Grundschullehrerinnen, die mit ihren 120 Euro im Monat nicht auskommen, zählen zu den geschätzten 180.000 Frauen, die in der Ukraine als Prostituierte arbeiten, geschiedene alleinstehende Frauen mit Kind, Arbeitslose.

Weil die Prostitution verboten ist, verdienen Bordellbetreiber ebenso mit wie Polizisten und Taxifahrer, weil sie durch Schweigen gute Einnahmen haben. Auch Privatwohnungen werden genutzt, wie die Bordelle in bester Lage in der Hauptstadt Kiew. Touristen werden angelockt – mit 80 Euro sind sie dabei. Acht Dienstleistungen pro Nacht – keine Seltenheit. Etwas weniger als die Hälfte der Einnahmen bleibt bei den Frauen. So manche hoffen auf eine Übergangszeit von einem Jahr, zwei oder auch drei Jahren. Oft vergeblich. Ein Drittel wird drogensüchtig, ein Drittel gilt als HIV-positiv.[7]

Nach der „Liberalisierung“ der Sexualdienste durch die Bundesregierung aus Schröder/SPD und Fischer/Grünen wurde Deutschland zum „Bordell Europas“. Die bundeseigene Entwicklungsgesellschaft GTZ warb in ihrem „Deutschland-Reiseführer für Frauen“ um Ukrainerinnen, die jetzt gute Aussichten im Sex-Geschäft hätten. Viele kamen. Merkel-Deutschland wurde zum europäischen Zentrum für gewerbliche Prostitution, mehrheitlich zudem illegal und behördlich geduldet – günstige Bedingungen für Frauen, die nicht aus einem EU-Mitgliedsstaat kommen. So liegt es nahe, dass Zuhälter jetzt im Jahre 2022 flüchtende ukrainische Frauen schon an der Grenze anzuwerben versuchen.[8]

Frauen-Armut II: Der weibliche Körper als Nutzungsmaterial

Die Ukraine ist für westliche Unternehmen ein gefälliger Standort für Praktiken, die sonst verboten sind, ein tausendfach genutzter Standort für die US-geführte Globalisierung. Das gilt auch für die gewerbliche Nutzung des weiblichen Körpers, weit über illegale Prostitution hinaus.

Die Ukraine ist der globale hot spot für industrielle Leihmutterschaft, mit weitergehender „Liberalisierung“ als sonst. Die weit verbreitete Frauen-Armut bietet ein unerschöpfliches Reservoir.

Vittoria Vita, La Vita Nova, Delivering Dreams oder etwas prosaischer BioTex – unter solchen Namen preisen in Kiew und Charkiw Agenturen für Leihmutterschaft ihre Dienste bzw. ihre Frauen an. In Katalogen werden, für zahlungskräftige Ausländer, hübsche gesunde Ukrainerinnen angeboten. Zwischen 39.900 und 64.900 Euro liegen die Preise für ein gesund abgeliefertes Baby. Aus den USA, Kanada, Westeuropa, China kommen die Wunschkind-Touristen.[9]

Das Wunscheltern-Paar liefert in einer der Dutzend Spezialkliniken Ei und Samen ab. Die werden in der Retorte befruchtet. Dann wird das fremde Embryo der Leihmutter eingepflanzt. Diese trägt ein genetisch fremdes Kind aus. Das wurde in den USA entwickelt, ist aber viel teurer: Zwischen 110.000 und 240.000 Euro. In der Ukraine ist es weniger reguliert. Die austragende Frau darf genetisch nichts mit dem Kind zu tun haben, sie ist nur ein fremdes Werkzeug, das nach Benutzung sofort vergessen werden soll, gar nicht mehr existiert – und für die nächste Nutzung für ein ganz anderes fremdes Paar bereitsteht.

Die Preise unterscheiden sich je nachdem, ob die Wunscheltern für ihr bestelltes Baby ein bestimmtes Geschlecht haben wollen oder nicht: Ohne Geschlechtswahl kostet es bei BioTex 39.900 Euro, mit zweimaligem Versuch auf das gewünschte Geschlecht kostet es 49.900 Euro, und bei zahlenmäßig unbegrenzten Versuchen kostet es 64.900 Euro. Zu diesen Angeboten gehört die Hotel-Unterbringung, die Ausstellung der Geburtsurkunde und des Reisepasses im deutschen Konsulat. Bisher wurden mehr als 10.000 solcher Babys weltweit ausgeliefert.

Die Leih- oder Surrogatmutter – eine Leihmutterfirma trägt den dazu passenden Namen: Surrogacy Ukraine – bekommt während der Schwangerschaft eine monatliche Prämie zwischen 300 und 400 Euro, nach gelungener Ablieferung des Produkts wird die Erfolgsprämie auf 15.000 Euro aufgestockt. Wenn es eine Fehlgeburt gibt, das Kind behindert ist oder dessen Annahme verweigert wird, bekommen die Leihmütter nichts. Deren seelische Verfassung bleibt unbeachtet, gegen gesundheitliche Schäden besteht keine soziale Absicherung. Untersuchungen über Langzeitfolgen werden nicht angestellt.

Null-Stunden-Verträge, Enteignung der Gewerkschaften

Die Selensky-Regierung erhöhte zwar den Mindestlohn auf 1,21 Euro, schwächt und zerstört aber gleichzeitig die ohnehin schon seit der Unabhängigkeit immer mehr geschwächten Gewerkschaften. Das Arbeitsgesetz vom Dezember 2019 ist der bisherige Höhepunkt des extremen Arbeitsunrechts:

*Der Null-Stunden-Arbeitsvertrag ist zulässig: Arbeit auf Abruf. Wenn der Unternehmer Arbeit zu vergeben hat, holt er sich kurzfristig den Beschäftigten. Da kann die Zahl der Arbeitsstunden und das Arbeitseinkommen auch mal Null betragen.

*Entlassungen müssen nicht mehr begründet werden.

*Die individuelle Aushandlung der Arbeitsverträge wird gefördert – „Aushandlung“ ist natürlich ein beschönigender Begriff für alternativlose Angebote, was bei der hohen Arbeitslosigkeit kein Problem ist. In Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten – das sind über 95 Prozent der Unternehmen – können Tarifverhandlungen ausgesetzt werden. Die davon profitierenden Unternehmen sind insbesondere staatliche, dann die Agrar- sowie Nahrungsmittel- und Tabakkonzerne wie Nestle und Philip Morris.

Außerdem sollen die Gewerkschaften enteignet, das Vermögen soll eingezogen werden. Auch wenn sie geschwächt sind, so haben sie aus sowjetischer Zeit noch Grundstücke und teilweise große Häuser, und zwar in den Zentren der Städte. Für Selensky sind das „russische Überreste“ – also enteignen!

Hunderttausende Ukrainer protestierten gegen das neue Gesetz – darüber berichtete keine westliche Tagesschau. In einem gemeinsamen Brief vom 9. September 2021 haben die Internationale Gewerkschafts-Föderation und die Europäische Gewerkschafts-Föderation – ITUC, CSI, IGB – die ukrainische Regierung und das mit der Integration der Ukraine beauftragte EU-Komittee darauf hingewiesen: Die Ukraine verletzt mit dem neuen Arbeitsgesetz nicht nur alle Arbeitsrechte der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, sondern auch die niedrigen Standards der EU – keine Reaktion.[10]

Enteignung und Verarmung der Bauern

Nach der Selbstständigkeit bekamen die etwa 7 Millionen Bauern aus ihren Kollektivfarmen im Durchschnitt etwa vier Hektar Land als Eigentum zugeteilt. Das ist zu wenig, um eine eigenständige Landwirtschaft zu betreiben. Deshalb verpachten die Bauern bisher ihr kleines Land an in- und ausländische Oligarchen für eine niedrige Pachtgebühr, gegenwärtig im Durchschnitt für 150 Dollar pro Jahr, 2008 waren es noch 80 Dollar.

So hat etwa der Oligarch Andry Werewsky mit dem Konzern Kernel 570.000 Hektar Pachtland zusammengerafft, der Oligarch Oleg Bachmatjuk schaffte es mit UkrLandFarming auf 500.000 Hektar, der US-„Heuschrecken“-Investor NCH Capital aus New York brachte es auf 400.000 Hektar, der Oligarch Juriy Kosuk für MHP auf 370.000 Hektar, der Oligarch Rinat Achmetov für seine Agro-Holding auf 220.000 Hektar, während die Continental Farmers Group aus Saudi-Arabien „nur“ 195.000 Hektar pachtet. Schwedische und niederländische Pensionsfonds mischen mit. Aus Bayern kommen Klein-Oligarchen wie Dietrich Treis und Hans Wenzel, die zuhause 60 Hektar haben, in der Ukraine aber unvergleichlich günstig gepachtete 4.500 Hektar bewirtschaften.[11] Alexander Wolters aus Sachsen hat sich 4.200 Hektar zusammengepachtet, für 60 Euro pro Hektar im Jahr.[12]

Sie alle sind voll in die EU und den westlichen Weltmarkt integriert:

*Die rechtlichen und Steuersitze sind vorzugsweise in den EU-üblichen Finanzoasen Zypern, Luxemburg und der Schweiz, die ukrainischen Regierungen brachten Steuererlasse und Subventionen bei.

*Sie erhalten immer wieder hohe Kredite der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und der Europäischen Investitionsbank (EIB).

*Die Samen-, Düngemittel-, Pestizid- und Landtechnik ist v.a. in den Händen von US- und deutschen Konzernen wie Cargill, Archer Daniels, John Deere, Corteva, Bayer und BASF.

Hochbezahlte Manager führen die Geschäfte. Einige wenige der Bauern können zum Mindestlohn Hilfsdienste in diesem großflächig organisierten Agrobusiness ausführen. Ein bisschen nicht-verpachtetes Land ermöglicht ihnen kümmerliches Überleben.[13]

Doch die Selensky-Regierung hat die Pacht-Praxis beendet: Seit 1. Juli 2021 können die Bauern ihr Land verkaufen, zunächst nur an Käufer mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Dafür richtet die Regierung ein Auktionsportal ein, in dem auch anonym geboten werden kann. Die Freigabe des Verkaufs der höchst fruchtbaren ukrainischen Schwarzerde wurde nicht nur von oligarchischen land grabbern verlangt, sondern auch vom Internationalen Währungsfonds IWF, der der hochverschuldeten Ukraine für einen neuen 5-Milliarden-Kredit u.a. diese Auflage machte: Land darf verkauft werden, das führt zu wirtschaftlichem Aufschwung! Ein späteres Referendum 2024 soll dann den nächsten Schritt einleiten: Verkauf des Bodens auch an Ausländer. Die weitere Verarmung der Bauernfamilien ist eine der Folgen, die unter diesen Bedingungen eingeleitet wird. Deshalb protestierten viele Bauern gegen diese „Landreform“ – ohne Wirkung.

Schmuggelzentrale Ukraine: Seit 30 Jahren

Ab 1992 kauften die größten Zigarettenkonzerne Philip Morris, R.J. Reynolds, Britisch American Tobacco und Japan Tobacco die Zigarettenfabriken in der Ukraine. Teilweise blieb der Staat ein paar Jahre als Minderheitsgesellschafter dabei.

Die Produktion mit guten, aber nun schlechter bezahlten Fachkräften galt zum wenigsten für den ukrainischen Markt. Das große Spektrum der Luxusmarken wie Marlboro und Chesterfield bis hinunter zu Billigstmarken wurde für den Export produziert. Dafür senkte die komplizenhafte Regierung die Tabaksteuer auf ein international konkurrenzloses Niveau, weniger als die Hälfte der in Europa sonst geltenden Steuer. Gleichzeitig blieben die Zollkontrollen auf niedrigstem Niveau.

Ende der 1990er Jahre erkannte die Europäische Kommission: Philip Morris & Co produzieren in der Ukraine mehr als 90 Prozent für den Export, einschließlich mit den Billigzigaretten für den globalen Schmuggel in arme Staaten, aber auch in die reichen EU-Staaten. Durch den Schmuggel würden die EU-Staaten jährlich um 4 Mrd. Euro geschädigt. Die EU klagte gegen Philip Morris und Reynolds auf Schadenersatz. Das Gericht in New York wies die Klage 2001 ab. Drei Jahre später willigte Philip Morris ein, an die EU 1,3 Mrd. Dollar zu zahlen, um den Kampf gegen Schmuggel und gefälschte Etiketten zu unterstützen.

Morris zahlte aber erstmal nicht, 2010 wurde das Abkommen erneuert. Morris hat sich verpflichtet, die Summe, auf 12 Jahre verteilt, an Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien zu bezahlen. Diese Staaten haben das Abkommen unterzeichnet – aber alle osteuropäischen EU-Staaten nicht. Gleichzeitig blühte hinter den Kulissen die Komplizenschaft: Michel Petite, von 2001 bis 2007 Generaldirektor des Juristischen Dienstes der EU-Kommission, wechselte 2008 zur US-Kanzlei Clifford Chance, übernahm dort den Mandanten Philip Morris und wurde auch noch Vorsitzender des „Ethik-Komitees“ der EU.[14]

In der Ukraine kostet eine Schachtel Marlboro-Zigaretten trotz inzwischen etwas erhöhter Tabaksteuer 2,50 Euro und im Kosovo 1,65 (Stand 2021) – während die Schachtel in Deutschland 7 Euro kostet, in Belgien 6,20, in Frankreich 10, in Italien 6 usw. Deshalb gehen natürlich der Export und der Schmuggel aus der Ukraine weiter. Deshalb wird rituell-ergebnislos verhandelt, so auch beim 21. Gipfeltreffen EU-Ukraine. „Die Ukraine ist zu einer weltweiten Drehscheibe für die Lieferung illegaler Zigaretten nach Europa geworden“, so gestand der Vizechef des ukrainischen Präsidentenamtes, Alexej Hontscharuk. Präsident Zelensky hat natürlich wieder zugesagt, dass die Ukraine den Tabakschmuggel noch heftiger bekämpfen wird als bisher.[15]

Ukraine: Höchste Militärausgaben in Europa

Durch den von westlichen Akteuren – NATO, Horizon Capital, Swedbank, National Endowment for Democracy, Black See Trust, Soros Foundation – organisierten Maidan-Putsch 2014 wurde der kleine Banker Arsenij Jazeniuk ins Amt des ukrainischen Ministerpräsidenten gehievt.[16] Die Boykotte gegen Russland führten zum Verlust mehrerer hunderttausend Arbeitsplätze in der Ukraine – allein für deutsche Unternehmen wie den Autozulieferer Leoni waren es etwa 40.000.

Die ukrainische Regierung orientierte sich nun an der EU und führte 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn ein: 34 Cent pro Arbeitsstunde. Das war eine deutliche Ansage, auf welchem Niveau sich die Arbeitseinkommen bewegten. Die Beschäftigten wie in der Textilindustrie und im Agrobusiness freuen sich, wenn der Mindestlohn wirklich gezahlt wird. Andere Beschäftigte freuen sich, wenn der Stundenlohn in die Nähe von drei Euro kommt. Die Arbeitsmigration Richtung Ausland beschleunigte sich, wurde und wird von den nicht so stark verarmten osteuropäischen Nachbarstaaten gern genutzt. Die Ukraine wurde endgültig zur „Lieferantin billiger Arbeitskräfte in die EU-Länder.“[17]

Der hinsichtlich der Bevölkerungsmehrheit allerärmste Staat in Europa rüstete mithilfe der NATO, insbesondere der USA und Großbritanniens, ab 2016 noch schneller auf, von 2,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für das Militär innerhalb eines halben Jahrzehnts auf das Doppelte bis 2020, also schon vor dem Krieg: auf 5,9 Prozent – hochprozentigster Musterknabe für die Forderung von US-Präsident Obama, die Militärbudgets auf 2 Prozent zu erhöhen. Damit steht die Ukraine nach Saudi-Arabien weltweit an 2. Stelle, noch vor dem zweitbesten US-Musterknaben, dem hochgerüsteten Israel.[18]

Das Nicht-NATO-Mitglied Ukraine mit jetzt 41 Millionen Einwohnern hat mit seinen 292.000 Soldaten mehr Militärs als die anderen und auch größeren NATO-Mitglieder (USA natürlich ausgenommen), also mehr Soldaten als Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Griechenland, Spanien, Polen, Rumänien… Der Staat mit der allerärmsten Bevölkerungsmehrheit in Europa leistete sich bzw. seinen Herren und Damen in Washington, Brüssel, London, Paris und Berlin zugleich die weitaus höchsten Militärausgaben, vielleicht zur Vorbereitung eines Krieges, oder wofür?

Die ärmste und kränkeste Bevölkerung Europas

Der IWF vergab dem „korruptesten Staat Europas“ (Transparency International) Kredite mit Auflagen für Sozial- und Rentenkürzungen, für Erhöhung der Kommunalgebühren (Wasser, Abwasser, Müll) und der staatlichen Energiepreise sowie für weitere Privatisierungen. Der IWF war auch Kriegstreiber: Der Verlust des Donbass würde sich negativ auf die Höhe der westlichen Kredite auswirken, ließ er verlautbaren.[19]

Die Staatsverschuldung wurde 2020 auf optisch hübsche 60 Prozent herabgedrückt – hervorragend für einen Beitritt zur EU. Begleitfolge: Die Bevölkerungsmehrheit ist noch ärmer, die Lebenshaltungskosten, Nahrungsmittel, Kommunalabgaben, Mieten, Gesundheits- und Energiekosten sind gestiegen – sind nur noch teilweise bezahlbar oder eben gar nicht mehr. Die Durchschnittsrente betrug 2013, vor dem Maidan-Putsch, noch 140 Euro, das war der Höhepunkt in der Geschichte der unabhängigen Ukraine. Seit 2017 beträgt die Durchschnittsrente 55 Euro. Immer mehr RenterInnen müssen weiterarbeiten.[20]

Seit der westlich orientierten Unabhängigkeit schrumpfte die Bevölkerung der Ukraine von 51 Millionen Einwohnern auf jetzt 41 Millionen. Schon vor dem jetzigen Krieg prognostizierte die Internationale Organisation für Migration (IOM) für das Jahr 2050 eine weitere Schrumpfung: 32 Millionen Einwohner, und die würden dann noch mehr im Durchschnitt noch älter sein als jetzt schon.

Die ärmste Bevölkerung Europas ist auch die kränkeste: Die Ukraine steht in Europa an erster Stelle der Todesfälle wegen Mangelernährung.[21]

Wie lobte doch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Frau von der Leyen, so überschwenglich: „Die Ukraine verteidigt beeindruckend unsere europäischen Werte!“ Deshalb soll die Ukraine EU-Mitglied werden. Die Präsidentin fügte hinzu: „Die Ukraine verdient diesen Status, denn sie ist bereit, für den europäischen Traum zu sterben.“[22]

Die christlich lackierte Politikerin hat mehr recht, als sie glaubt.

Titelbild: Protasov AN / shuttestock

References

References
1

Werner Rügemer: BlackRock & Co enteignen! Auf den Spuren einer

unbekannten Weltmacht. Nomen Verlag Frankfurt/Main 2021, 179 Seiten, 12

Euro. Blackrock in der Obama- und Biden-Regierung. Lobby in Washington,

Brüssel, Paris, Berlin, Mexiko. BlackRock im Wirecard-Betrugssystem.

Warum Friedrich Merz als Lobbyist ausgewählt wurde – und sein Nachfolger

unbekannt bleibt. Die zivile Privatarmee der Berater. ArbeitsUnrecht,

Niedriglöhnerei, Gewerkschaftshass. ETF: Die private Aktienrente für die

Verarmten und auch für die Spekulanten. BlackRock als größter Eigentümer

von Wohnungen in Deutschland: Mieten und Nebenkosten rauf! Führender

Investor der Rüstungs- und der Fracking-Industrie: BlackRock führt die

Greenwasher an. Roboterisierte Finanzdatenmaschine Aladdin, e-Mobilität,

Digitalisierung: zusätzlicher Rohstoff- und Energieverbrauch für die

neue Fossil-Wirtschaft.

2 www.werner-ruegemer.de

16.10.2022: „Eine Brücke nach Rojava” Filmpremiere

Im Rahmen des diesjährigen 12. Kurdischen Filmfestivals in Berlin findet u.a. die Premiere des Dokumentarfilms „Eine Brücke nach Rojava“ des kurdischen Filmemachers Ekrem Heydo statt.

Zeit: Sonntag den 16. Oktober 2022 – 14 Uhr

Ort: Kino Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, 10178 Berlin

Eintritt: 8,00 €

Der Film „Eine Brücke nach Rojava“ des Berliner kurdischen Dokumentarfilmers Ekrem Heydo handelt von der Entstehung und Entwicklung unseres Städtepartnerschaftsvereins und seiner Projekte. Er zeigt auch den Alltag der Menschen in Nord- und Nordostsyrien und die allgegenwärtige Bedrohung durch die türkische Armee und ihre islamistischen Hilfstruppen.

Der Film begleitet Elke und Günter, Mitbegründer:innen des Städtepartnerschaftsvereins, 2018 auf einer Reise in den kurdisch geprägten Norden Syriens, auch Rojava genannt. Um die Unterzeichnung der ersten Städtepartnerschaft Deutschlands mit einer nordostsyrischen Stadt für den multikulturellen Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg vorzubereiten, treffen sie die Bürgermeister:innen der Stadt Dêrik, die aus der Doppelspitze des Bürgermeisters Feremez Hammo und der Co-Bürgermeisterin Rojin Ceto besteht. Anhand der Arbeit des Städtepartnerschaftsvereins und der Reise der Berliner Delegation nach Syrien zeichnet der Film ein Bild der Situation in Nordostsyrien und zeigt anschaulich die aktuellen Herausforderungen der Menschen vor Ort.

Mit der filmischen Begleitung der Reise von Elke und Günter entsteht ein lebendiges Bild von einem Land im Umbruch und wir bekommen ein Gespür für die Menschen und das Leben in Rojava.

Hintergründe und Lösungsperspektiven des Ukraine-Krieges

Der Bundesausschuss Friedensratschlag formulierte im Juni 2022 ein Positionspapier zum Ukraine-Krieg, das auch noch im August aktuell ist. Es lohnt, sich etwas Zeit zu nehmen und diesen Beitrag zu lesen. Wir veröffentlichen ihn daher hier noch einmal in voller Länge und an hervorgehobener Stelle.

Die Hoffnungen vieler nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine friedlichere Welt haben sich nicht erfüllt. Durchgängig herrschte in den letzten Jahren in über 30 Ländern weltweit Krieg. Wirtschaftliche Erpressungspolitik, Blockaden und Handelskriege zerstören weltweit ökonomische und ökologische Existenzgrundlagen. Immer mehr Menschen sind wegen Krieg, Armut und Umweltzerstörung auf der Flucht. Mit der Ukraine kam ein weiterer Krieg hinzu, mit dramatischen Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt.

Um diese verhängnisvolle Entwicklung zu wenden, müssen wir zurück zu den friedenspolitischen Ansätzen der 1970er und 1980er Jahre und den mit konkreten Abkommen verbundenen Bestrebungen in den 1990er Jahren nach Ende des Kalten Krieges, die durch die Expansionspolitik der NATO zu Grabe getragen wurden. Eine Entspannungspolitik und Sicherheitsarchitektur, die die Sicherheitsinteressen aller Konfliktparteien berücksichtigt, ist alternativlos. Angesichts gigantischer globaler Probleme – Hunger und
Elend, soziale Ungleichheit, Erderwärmung und Artensterben, Verseuchung von Böden, Flüssen und Meeren – sind Krieg und Aufrüstung unverantwortlich. Ohne internationale Zusammenarbeit und die Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel sind die globalen Probleme nicht zu lösen.

Sicherheit für uns Menschen kann nicht durch Hochrüstung und militärische Interventionen erreicht werden, sondern nur durch eine gerechte Politik und nachhaltiges, vorausschauendes Handeln. Ein Streben nach Dominanz, unfaire Handelsbeziehungen und die
politisch geschaffene immer größere Kluft zwischen Arm und Reich stehen dem diametral entgegen.

Wir sind für eine neue Politik der Zusammenarbeit statt Konfrontation, für eine Friedenspolitik der vertrauensbildenden Maßnahmen, die zu Entspannung und Abrüstung führt, zu einem System gemeinsamer Sicherheit und kontrollierter Abrüstung in Europa und weltweit, für eine Friedenspolitik, wie sie 1990 mit der Charta von Paris und folgenden Abkommen angestrebt worden war.

Statt der Berufung auf eine westlich definierte regelbasierte Ordnung fordern wir die Beachtung des Völkerrechts von allen Seiten und ein Ende der Doppelmoral.

KRIEG ZWISCHEN NATO UND RUSSLAND

Krieg als Mittel der Politik lehnen wir grundsätzlich ab. Wir haben uns stets entschieden dafür eingesetzt, Krieg als Mittel der Politik zu verhindern, auch bei dem Konflikt zwischen NATO, Ukraine und Russland. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist daher ein
Rückschlag für alle, die sich für Frieden engagiert haben – und gleichzeitig eine Herausforderung für die Friedensbewegung, ihre Bemühungen für zivile Lösungen zu intensivieren. Nicht zu viel Entspannungspolitik ist das Problem gewesen, sondern zu wenig.

Als Bürger:innen eines NATO-Staates richten wir unsere Kritik in erster Linie an die NATO-Staaten. Denn der Krieg hätte verhindert werden können und müssen. An eindringlichen Warnungen, auch von zahlreichen führenden westlichen Außenpolitikern und Experten, dass die Missachtung essentieller Sicherheitsinteressen Russlands eine solche Reaktion provozieren könnte, hat es nicht gefehlt. Wir weisen zudem die Doppelmoral zurück, mit der ausgerechnet die Regierungen der USA und ihrer Verbündeten den
russischen Einmarsch als Völkerrechtsbruch anprangern, sich als Richter aufspielen und härteste Sanktionen verhängen, nachdem sie selbst verheerende Angriffskriege geführt und Völkerrecht gebrochen haben.

Dieser Krieg in Europa ist wie alle anderen zuvor eine Katastrophe, vor allem für die direkt Betroffenen. Die Regierung der Russischen Föderation hat damit eine Zäsur in ihren Beziehungen zum Westen vollzogen. Statt sich weiter auf diplomatischem Wege um einen Abbau der Spannungen und um Sicherheitsvereinbarungen zu bemühen, verschärfte sie nun durch ihr militärisches Vorgehen selbst die Konfrontation. Die NATO-Staaten halten frontal dagegen und eskalieren sie durch ihre massive militärische und propagan-
distische Unterstützung Kiews und einen umfassenden Wirtschaftskrieg weiter. Auf diese Weise handelt es sich nicht nur um einen
Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sondern ‒ wie Reaktionen der NATO-Staaten auf den Krieg klar erkennen lassen ‒ um einen hybriden Krieg der NATO gegen Russland. Die Stellungnahmen ihrer führenden Politiker:innen lassen auch keinen Zweifel am Ziel, den geopolitischen Rivalen entscheidend und dauerhaft zu schwächen, zu ruinieren, wie es u.a. Außenministerin Baerbock ausdrückte.

Die USA und ihre Verbündeten würden daher den Wirtschaftskrieg vermutlich auch dann nicht beenden, wenn sich die russischen Streitkräfte aus den seit 24. Februar besetzten ukrainischen Gebieten zurückziehen würden, sondern gemäß US-Außenminister Blinken
und seiner britischen Kollegin Liz Truss erst, wenn garantiert sei, dass Russland zukünftig keine solche Offensive mehr unternehmen kann.

In der Auseinandersetzung in und um die Ukraine überlagern sich zwei zentrale Konfliktfelder – zum einen das Konfliktpotential, das durch den chaotischen Zerfall der Sowjetunion entstand, wodurch territoriale und Minderheitenfragen ungelöst blieben, und zum
anderen der Kampf der USA und ihrer Verbündeten um den Erhalt der Dominanz des Westens in der Welt, die sie seit 500 Jahren auf unterschiedliche Weise ausüben.

Dieser Krieg wird nicht nur auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung geführt, sondern faktisch auf dem Rücken der ganzen Welt, insbesondere auf dem der ärmeren Länder und Bevölkerungsgruppen. Er ist militärisch aktuell weitgehend noch auf das
Territorium der Ukraine und auf konventionelle Waffen beschränkt, auf wirtschaftlicher Ebene tobt er jedoch unbegrenzt. Es ist zunehmend auch ein kultureller Medien- und Informationskrieg, der alle Aspekte unseres täglichen Lebens betrifft.

DER WEG IN DEN KRIEG

Im Westen wurde von Beginn des russischen Einmarschs an seine Vorgeschichte medial ausgeblendet: das herrschende Narrativ heißt, Putin strebe nach Wiederherstellung des Zarenreichs oder der Sowjetunion.

Wer Frieden will, und wer Opfern helfen und neues Leid vermeiden will, der sollte die Genesis von Konflikten und Kriegen zur Kenntnis nehmen.

Tatsächlich ist der Krieg Russlands eine Antwort auf die von der Friedensbewegung seit langem kritisierte
NATO-Osterweiterung und westliche Aufrüstungs- und Konfrontationspolitik, von der sich Russland zunehmend existenziell bedroht fühlt. Sie begann bereits in den 1990er Jahren mit der Ausweitung der NATO ‒ entgegen klarer, verbindlicher Zusagen gegenüber Moskau, das Militärbündnis keinen Zoll nach Osten auszuweiten, und entgegen rechtlich bindender Vereinbarungen wie dem Vertrag zur Deutschen Einheit, in der zukünftigen Friedensordnung die Sicherheitsinteressen eines jeden beidseitig zu berücksichtigen.
Die Ostexpansion ging einher mit der Missachtung und Kündigung von Abkommen zur Rüstungs- und Stationierungskontrolle durch die USA und NATO und wurde von einer Reihe Farb-Revolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken begleitet, in denen pro-russische
oder zu unabhängige Regierungen mit westlicher Unterstützung gestürzt wurden. Nach dem Umsturz in Jugoslawien im Jahr 2000, der als Blaupause diente, folgten Georgien (2003), Ukraine (2004) und Kirgisien (2005).

1999 hatte die NATO militärische Interventionen ohne UN-Mandat zum festen Bestandteil ihres strategischen Konzepts gemacht. Und schließlich unterstrichen die USA und ihre Verbündeten mit ihren Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen ihre Bereitschaft, sich in der Verfolgung ihrer geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen skrupellos über UN-Charta und Völkerrecht hinwegzusetzen.

Die von den Herrschenden der USA damit verfolgte Strategie wurde bereits 1992, in einer an die New York Times durchgestochenen Version der Verteidigungsrichtlinien des Pentagons (Defense Planning Guidance) so zusammengefasst: Jede in Frage kommende feindliche Macht muss daran gehindert werden, in einer Region dominant zu werden, die für unsere Interessen von ausschlaggebender Bedeutung ist.[1]Excerpts From Pentagon’s Plan: ‚Prevent the Re-Emergence of a New
Rival‘, NYT, 8.3.1992
Sie blieb Bestandteil aller nachfolgenden Strategiepapiere und richtet sich nun verstärkt auch gegen China. Wir sind in einem Wettstreit um den Sieg im 21. Jahrhundert, so US-Präsident Biden auf dem G7-Treffen im Juni 2021, und der Startschuss ist gefallen.

Mittlerweile sind im westlichen Militärbündnis fast alle europäischen Staaten vereint. Russland und seinen wenigen Verbündeten stehen nun insgesamt 30 Länder gegenüber, einige in direkter Nachbarschaft. Immer mehr NATO-Truppen sind in ehemaligen
Sowjetrepubliken stationiert, viele unweit der russischen Grenzen. In riesigen Land- und Marinemanövern wird Jahr für Jahr der Krieg gegen Russland geprobt.

Bereits 2002 trat Washington aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen aus, um wieder weltweit solche Systeme errichten zu können. Diese Maßnahme destabilisierte die globale strategische Sicherheitsarchitektur. 2016
stellten die USA in Rumänien und 2018 in Polen Raketenabwehrsysteme auf, die auch als Angriffswaffen einsetzbar sind und aus russischer Sicht daher den INF-Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen in Europa verletzen. 2019 kündigten
die USA unter Präsident Donald Trump diesen Vertrag und forcieren seither die Entwicklung moderner Mittelstreckenraketen. Die ersten sollen ab 2023 in Europa stationiert werden. Besonders gefährlich ist die Hyperschall-Rakete des Typs Dark Eagle, einer Enthauptungsschlagwaffe, die nicht abzufangen ist und von Wiesbaden aus kommandiert werden wird. Insgesamt erhöhten die NATO-Staaten ihre Militärausgaben bis 2021 auf das 18-fache des russischen Militäretats.

Die Bedrohung wuchs aus russischer Sicht massiv, als 2008 die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf die Agenda gesetzt und ihre faktische militärische Integration in die NATO sukzessive vorangetrieben wurde. Der Konflikt wurde heiß, als die Ukraine durch
den Putsch 2014 unter westliche Vorherrschaft kam.

Die maßgeblichen Kräfte bei dem von den USA und der EU geförderten verfassungswidrigen Sturz des amtierenden Präsidenten, Wiktor Janukowytsch, waren extrem nationalistische, russophobe bis faschistische Kräfte – darunter der NPD-Partner Swoboda –
sowohl ideologisch als auch praktisch auf der Straße, in den Sicherheitskräften und den Institutionen. Sie gewannen in der Folge einen dominierenden Einfluss, Der Staatsstreich stieß auf Widerstand in der Bevölkerung, vor allem bei der russischen.

Während die als Reaktion darauf erfolgte Abspaltung der Krim nahezu gewaltfrei verlief, kam es in den anderen überwiegend russischsprachigen Provinzen zu bewaffneten Aufständen. Sie gingen in einen Bürgerkrieg über, der zwischen Kiew und den Volksrepubliken Donezk und Luhansk bis zum russischen Einmarsch andauerte und mehr als 14.000 Menschenleben forderte.

Obwohl die ukrainische Regierung das völkerrechtlich bindende Abkommen Minsk II unterschrieben hatte, das einen besonderen Autonomiestatus für die abtrünnigen Provinzen innerhalb der Ukraine vorsah, boykottierte sie die Umsetzung – mit westlicher
Duldung und Unterstützung. Die ukrainische Armee wurde fortan von den USA und Großbritannien massiv aufgerüstet und nach NATO-Standard ausgebildet.

Für alle Seiten war klar, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland eine rote Linie bedeutet ‒ und dies unabhängig davon, wer in Moskau regiert. Bedrohlich sind bereits die NATO-Truppen im Baltikum, von wo aus St. Petersburg schon mit Kurzstreckenraketen erreicht werden kann. Mit der Ukraine würde die NATO an eine weitere, 2000 km lange direkte Grenze zu Russland vorrücken. Die Vorwarnzeit für Enthauptungsschläge auf russische Zentren würde durch dort stationierte Mittelstreckenraketen auf wenige Minuten sinken, während der potentielle Angreifer USA aus 10.000 Kilometer Entfernung vom Kriegsgeschehen agieren kann.

Am 10. November 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine eine neue, offensiv gegen Russland gerichtete Charta der strategischen Partnerschaft, die u.a. den NATO-Beitritt der Ukraine und die Rückeroberung der Krim als Ziel formuliert. Diese Charta überzeugte Russland davon, so Henri Guaino, führender Berater Nicolas Sarkozy in dessen Zeit als französischer Präsident, dass es angreifen muss oder angegriffen wird.

Moskau unternahm im Dezember 2021 einen letzten Versuch, die Bedrohungslage durch vertragliche Vereinbarungen zu entspannen. Die russischen Vertragsvorschläge enthielten die fünf Kernforderungen:

• Keine weitere Erweiterung der NATO nach Osten
• Rückbau der militärischen NATO-Präsenz auf den Stand der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation (NATO-Russland-Grundakte) von 1997
• Truppenreduzierung beiderseits der Grenze in einer gemeinsam festzulegenden Breite
• Keine Stationierung von Atomwaffen außerhalb der nationalen Territorien (also auch keine nukleare Teilhabe)
• Keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa

Diese Forderungen sind aus friedenspolitischer Sicht unterstützenswert. Sie wurden aber von den USA und der NATO Anfang Februar brüsk und ohne jegliche Diskussion darüber abgelehnt. Die russische Regierung zeigte sich trotzdem verhandlungsbereit, kündigte in
ihrer Antwort vom 17. Februar 2022 allerdings unmissverständlich an, sich bei Ausbleiben von Sicherheitsgarantien genötigt zu sehen, auch mit militärtechnischen Maßnahmen zu reagieren.

Gleichzeitig nahmen laut OSZE Angriffe der ukrainischen Armee, die bereits ihre Hauptstreitmacht im westlichen Donbass für eine Offensive konzentriert hatte, auf die Donbass-Republiken massiv zu, sodass diese damit begannen, Menschen nach Russland zu
evakuieren.

Am 21. Februar erkannte Moskau die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken an. Drei Tage später begann die russische Armee gemeinsam mit den Truppen der Volksrepubliken ihre Offensive gegen die ukrainischen Truppen im Donbass und darüber hinaus entlang der Schwarzmeerküste und im Nordosten der Ukraine, um so die Offensive der ukrainischen Armee zurückzuschlagen.
Die russische Regierung rechtfertigt ihren Krieg u.a. als kollektive Selbstverteidigung gegen den bevorstehenden Angriff der ukrainischen Truppen auf die DonbassRepubliken, mit denen sie sofort nach ihrer Anerkennung ein entsprechendes Hilfsabkommen unterzeichnet hatte.

Diese Argumentation ist völkerrechtlich nicht haltbar, weil ein Ruf einer Volksgruppe nach militärischer Hilfe von außerhalb – so verständlich er auch sein mag – keinen Staat zum militärischen Eingreifen berechtigt. Dies könnte nur der UN-Sicherheitsrat autorisieren.

Bei der völkerrechtlichen Argumentation darf aber nicht vergessen werden, dass dem russischen Völkerrechtsbruch andere vorrausgingen, wie die Verletzung der ukrainischen Souveränität durch die Förderung des Putsches 2014, die eklatante Missachtung des verbindlichen Minsker Abkommens und die Stationierung von NATO-Truppen an den russischen Grenzen.

Der russische Präsident begründete den Einmarsch ins Nachbarland auch mit der Bedrohung durch künftige ukrainische Atomwaffen. Dies ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Ukraine hat sich im Budapester Memorandum 1994 gemeinsam mit Weißrussland und Kasachstan verpflichtet, die auf seinem Territorium lagernden Atomwaffen an Russland abzugeben und in Zukunft keine anzuschaffen oder zu stationieren. Im Gegenzug erhielten sie von Russland, den USA und Großbritannien Sicherheitsgarantien.
2000 hat das ukrainische Parlament aber ein Gesetz verabschiedet und 2015 konkretisiert, das anderen Staaten zeitlich begrenzt die Stationierung von nuklearen Waffen unter gewissen Voraussetzungen erlaubt.

Die Ukraine produziert zudem bereits in ihren AKWs waffenfähiges Material. Allein im AKW Saporoschje sammelte sie laut besorgten Aussagen des Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Rafael Grossi, 40 kg Uran und 30 kg Plutonium an.[2]Louise Guillot, Atomic energy chief: Ukraines’s nuclear safety situation ‘far from being resolves’, Politico, 10.5.2022, LaurenceNorman, U.N. Atomic Agency Chief Presses for Access to … Continue reading Seit März 2021 weigert sich Kiew, diese nach Russland zur Wiederaufarbeitung auszuführen und verweigert der IAEA die Aufsicht darüber. Dadurch ist unklar, ob sich dieses nukleare Material noch dort befindet oder ob etwas zum Verkaufen oder zum Bau einer schmutzigen Bombe abgezweigt wurde.

Präsident Selenskij hat schließlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 seine Forderung nach einem klaren Zeitrahmen für den NATO-Beitritt der Ukraine mit der Drohung der Kündigung des Budapester Memorandums verbunden.
Einige namhafte Experten, wie der Politologe Robert Wade von der London School of Economics, vermuten, dass diese Rede der letzte Anlass für das Umschwenken der russischen Führung auf einen Kriegskurs gewesen sei.[3]Robert H. Wade, A ‘Diplomatic Solution’ to the Ukraine Crisis”, Global Policy Journal, 1.3.2022 Bei der Erläuterung der Gründe geht es nicht um eine Rechtfertigung des Krieges, sondern darum, seine Hintergründe und seine Entstehung möglichst genau aufzuzeigen. Aus ihnen lassen sich realistische Ansätze für eine politische Lösung des Konfliktes ableiten.

DEUTSCHLAND IM KRIEG

Mit der Lieferung von Waffen sind Deutschland und seine NATO-Verbündeten recht schnell in den Krieg eingetreten. Die NATO eskaliert den Krieg seither immer weiter, angeführt von den USA und Großbritannien. So rief die US-Regierung Ende April die Minister aus 40 Ländern zu einem Kriegsrat auf ihrer Air Base Ramstein in der Pfalz zusammen, um die Verbündeten auf noch stärkere militärische Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte einzuschwören.

Auch die deutsche Regierung ließ sich nun zur Lieferung von schweren Waffen verpflichten. Eine patriotische Mehrheit im Bundestag hat dies umgehend, zusammen mit der Ankündigung eines gigantischen Aufrüstungsprogramms, abgesegnet ‒ nur drei Tage nachdem Kanzler Scholz seine Befürchtung geäußert hatte, schwere Waffen würden die Gefahr eines dritten Weltkrieges erhöhen.
Damit, und durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten an modernen Waffen, wurde ‒ wie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags bestätigen – Deutschland eindeutig auch im völkerrechtlichen Sinne zur Kriegspartei. 81 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden wieder deutsche Panzer russischen gegenüberstehen – ein historischer Tabubruch, der nicht im Einklang mit dem Grundgesetz und seinem Friedensgebot steht. Die Kriegshysterie erinnert an 1914.

GEFAHR EINES GROßEN KRIEGES

Die Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen führen nur zur Verlängerung des Krieges, zu mehr Opfern und zu größeren Zerstörungen.

Moskau muss um jeden Preis besiegt werden, so die Parole, und mit der massiven militärischen Unterstützung feuert man die ukrainische Regierung an, keinerlei Zugeständnisse bei Verhandlungen über eine Feuerpause und einen Waffenstillstand zu machen.

Auch wenn der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte bisher stärker war als erwartet, werden diese jedoch nach Ansicht der meisten hochrangigen NATO-Militärs und -Experten auch mit neuen und effektiveren Waffen die russischen Truppen nicht zurückschlagen können.[4]So bezeichnet Avril Haines, Chefin aller 18 US-Geheimdienste, die Annahme, die ukrainische Armee könne an Russland verlorene Gebiete militärisch zurückgewinnen, für abwegig.(The War in Ukraine Is … Continue reading Sie könnten aber ‒ so das tatsächliche westliche Kalkül ‒ Russland eventuell in einen längeren zermürbenden Krieg verwickeln.

NATO-Falken verweisen dabei gerne auf das Beispiel Afghanistan. Dies wäre ein Horrorszenario nicht allein für die Ukraine, sondern auch für das übrige Europa. Je länger der Krieg dauert, desto mehr wächst auch die Gefahr einer Ausweitung des Krieges hin zu einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation, bei der sich Atommächte gegenüberstehen. Unkalkulierbare, existenzielle Risiken für ganz Europa bergen zudem auch die 15 Atomreaktoren, die in der Ukraine am Netz sind.

VERHANDLUNGSLÖSUNG VOM WESTEN BLOCKIERT

Wenn die Ursachen des Krieges zur Kenntnis genommen werden, liegen die zentralen Ansätze für ein rasches Ende des Blutvergießens und für eine längerfristige politische Lösung des Konflikts auf der Hand.

Bei den Verhandlungen in Ankara lag das, was Moskau verlangte und das, worüber Selenskij sich bereit erklärt hatte zu reden, schon nahe beieinander. Die im März anfänglich von Präsident Selenskij ins Gespräch gebrachten Angebote ‒ Neutralität, Einigung über die
Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ schienen eine reelle Chance für politische Lösungen und eine baldige Waffenruhe zu bieten.

Doch Washington und London blockierten.[5]s. Überblick von Sevim Dagdelen, Wie ein Verhandlungsfrieden im
Ukraine-Krieg torpediert wird, NachDenkSeiten, 16.5.2022
Sie drängten Kiew offen, keinerlei Kompromisse einzugehen und verstärkten gleichzeitig ihre militärische Unterstützung. Auch die EU arbeitete faktisch gegen eine Verständigung Kiews mit Moskau.

Als Selenskij am 25.2. seine Bereitschaft erklärte, mit Russland über einen Neutralitätsstatus und über Sicherheitsgarantien zu verhandeln, reagierte Brüssel mit der Zusage von Waffenlieferungen für 450 Millionen Euro, und als er Russland in öffentlichen Ankündigungen noch deutlicher entgegenkam, wurden der Ukraine weitere Waffen im Wert von 500 Millionen Euro angedient.
Aber selbst wenn die ukrainische Regierung wollte, ohne aktive Unterstützung des Westens ist ihr innenpolitischer Spielraum gegenüber den dominierenden rechtsextremen Kräften gering. Sie bedrohen offen jeden mit dem Tod, der sich zu Zugeständnissen bereit erklärt. [6]Im Mai 2019 drohte Dmytro Jarosch, Chef der Miliz Rechter Sektor und Berater des Oberbefehlshabers der Armee, Selenskij im ukrainischen Medium Obozrewatel offen mit dem Tod, falls er sich mit … Continue reading

Auch in diesem Krieg wird die Berichterstattung von Kriegspropaganda dominiert. Berichte über Gräuel und mutmaßliche Kriegsverbrechen kommen von beiden Seiten ‒ wahrgenommen werden jeweils aber nur die Meldungen über die Verbrechen der anderen Seite.

Verifizieren lassen sie sich in der Regel nicht, wirklich glaubwürdige, unabhängige Untersuchungen blieben bisher aus. Vorsicht ist stets angesagt, da es starke Kräfte in der Ukraine und im Westen gibt, die ein direkteres Eingreifen der NATO erwirken wollen.
Gräueltaten werden mit Sicherheit begangen, von beiden Seiten ‒ das gehört zum Wesen eines Krieges.

Der einzige Weg sie zu verhindern ist, alles zu tun, um die Kampfhandlungen so schnell wie möglich zu stoppen.

SCHRITTE ZUR DEESKALATION UND ZUM FRIEDEN

Allein mit Appellen an Moskau, seine Truppen zurückzuziehen, wird man ein Ende der Kämpfe nicht erreichen. Wer sie konträr zu jeglicher Konfliktlösungslogik zur Vorbedingung für Verhandlungen macht, will nicht verhandeln. Die Führung der Atommacht Russland hat die enormen Kosten des Einmarschs nicht in Kauf genommen, um ihre Erfolge in einem Konflikt, bei dem es ihrer Sicht nach um existenzielle Interessen geht, ohne substantielle Zugeständnisse preiszugeben.

Man muss den Krieg vom Ende her denken, stellte der ehemalige militärische Berater von Angela Merkel, Brigadegeneral a.D. Erich Vad, Mitte April treffend fest. Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.

Er warnte zudem davor, den russischen Präsidenten Wladimir Putin als krankhaften Despoten abzustempeln, mit dem man nicht mehr reden könne. So völkerrechtswidrig und furchtbar der Ukraine-Krieg sei, er stehe doch in einer Kette vergleichbarer Kriege jüngeren Datums. Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan – so neu ist das alles nicht.[7]Ukraine-Krieg: Ex-Merkel-Berater Vad warnt vor Lieferung von schweren Waffen, Stern, 12.04.2022

Schließlich muss der Westen beginnen, über den Krieg hinaus zu schauen, um eine Beziehung zu Russland zu retten, die die Tür für ein Mindestmaß an Zusammenarbeit offen hält, so Prof. Charles Kupchan vom einflussreichen US-amerikanischen Council on Foreign Relations (CfR). Selbst wenn sich ein neuer Kalter Krieg anbahnt, wird der Dialog noch wichtiger sein als während des Kalten Krieges. In einer stärker voneinander abhängigen und globalisierten Welt wird der Westen zumindest ein gewisses Maß an pragmatischer Zusammenarbeit mit Moskau benötigen, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, z. B. Verhandlungen über die Rüstungskontrolle, die Eindämmung des Klimawandels, die Verwaltung der Cybersphäre und die Förderung der globalen Gesundheit. Zu diesem Zweck ist eine rasche Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung bei weitem besser als ein Krieg, der sich in die die Länge zieht, oder ein neuer eingefrorener Konflikt, der in einer feindlichen Pattsituation endet.[8]Charles Kupchan, Ukraine’s Way Out. The Atlantic, 18.5.2022, 11 Italien legt Friedensplan für Ukraine vor, Tagesspiegel, 21.05.2022 12 Siehe z.B. Henry Kissinger: Ukraine must give Russia, The … Continue reading

Zunächst muss über substantielle Verhandlungsangebote ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht werden, um Zeit für Verhandlungen zu schaffen. Folgerichtig sehen die italienischen Vorschläge vom Mai als Erstes Vereinbarungen über lokale Kampfpausen vor, danach über einen dauerhaften Waffenstillstand und Entmilitarisierung der Frontlinie.

Diesen soll dann eine internationale Konferenz über einen zukünftigen neutralen, durch Schutzgarantien abzusichernden Status der Ukraine folgen.

An einer Verpflichtung zur strikten Neutralität der Ukraine, wie sie zwischen 1991 und 2014 in der ukrainischen Verfassung verankert war, führt kein Weg vorbei. So bitter dies angesichts militärischer Gewalt auch für Kiew sein mag, eine neutrale Ukraine war schon immer im Interesse aller, die Frieden in Europa anstreben. Die ukrainische Regierung hat prinzipiell auch schon ihre Bereitschaft dazu erklärt.

Strittig ist aber noch, wie weit vertraglich vereinbarte Sicherheiten gehen und von welchen Staaten sie garantiert werden. Die ukrainische Neutralität muss Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitsabkommens zwischen dem Westen und Russland werden.

Selbst führende Vertreter des geopolitischen Establishments raten Kiew zudem, auch die Abspaltung der Krim zu akzeptieren. Da diese unstrittig dem Willen der Mehrheit ihrer Bewohner:innen entspricht, könnte sie ohnehin nur mit Gewalt, um den Preis eines neuen Bürgerkrieges, revidiert werden.

Vermutlich erst im letzten Schritt könnten die Verhandlungen über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken und anderer mehrheitlich russisch-sprachiger Gebiete folgen und damit auch über den Rückzug russischer Truppen. Eine Lösung könnte eine sehr weitgehende Autonomie innerhalb der Ukraine sein, mit eigenen Sicherheitskräften und Russland als offizieller Schutzmacht, ähnlich wie Österreich für Südtirol. Ob am Ende die Autonomie einiger Provinzen stehen wird oder ihre Abspaltung, wird von Zugeständnissen der NATO bzgl. berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands abhängen.

Italiens Friedensplan sieht daher auch ein multilaterales Abkommen über Frieden und Sicherheit in Europa vor.

Waffenstillstand und Verhandlungsfortschritte müssten mit der Aufhebung westlicher Embargomaßnahmen einhergehen.

Die Redaktionskommission (Editorial Board) der New York Times empfahl in ihrem viel beachteten Leitartikel vom 19. Mai den USA und ihren Verbündeten, der ukrainischen Regierung die Grenzen ihrer Unterstützung aufzuzeigen und sie zu einer realistischen Einschätzung ihrer Mittel zu drängen: Die Konfrontation mit dieser Realität mag schmerzhaft sein, aber sie bedeutet keine Beschwichtigungspolitik. Dies ist die Pflicht der Regierungen, und nicht einem illusorischen ‚Sieg‘ hinterherzujagen.

NEIN ZU WIRTSCHAFTSBLOCKADEN

Mit den Embargomaßnahmen von beispiellosem Umfang, die die NATO-Staaten und ihre engsten Verbündeten gegen Russland verhängten, wird internationales Recht weiter beschädigt. Umfassende Wirtschaftsblockaden treffen immer zuallererst die ärmeren
Bevölkerungsschichten, nicht nur die in Russland, sondern in der ganzen Welt. Sie haben noch nie einen Krieg beendet, aber schon zig Millionen Menschen in vielen Ländern ins Elend gestürzt.

Vor allem im Nahen Osten sowie in großen Teilen Afrikas drohen demzufolge neue Hungersnöte, die nach UN-Angaben das Leben von Millionen Menschen gefährden. Auch in Europa sind es in erster Linie die sozial Benachteiligten, die unter den steigenden
Kosten für Energie und Lebensmittel leiden. Während Rüstungskonzerne und westliche Lieferanten mit fossiler Energie Milliardengeschäfte machen, werden die Kosten den unterprivilegierten Menschen aufgebürdet, die mit erheblichen Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie fertig werden sollen.

Die meisten nichtwestlichen Staaten verurteilen zwar den russischen Einmarsch in der Ukraine, lehnen den Wirtschaftskrieg aber entschieden ab. Sie verweisen auf die Kriege und eklatanten Völkerrechtsverletzungen der USA und NATO, die noch nie zu solchen
Reaktionen führten. Sie protestieren dagegen, dass die USA und die EU keine Anstrengungen unternehmen, den Krieg in Europa zu stoppen, der zusammen mit den Blockaden ihre Länder in Mitleidenschaft zieht.

Die Wirtschafts- und Finanzblockaden gegen Russland könnten für das westliche Europa zum Bumerang werden. Es zeigt sich, dass ein so mächtiges Land mit so großen Ressourcen kaum effektiv blockiert werden kann. Während Russland aufgrund der gestiegenen
Preise für Öl und Gas trotz geringerer Exportmengen aktuell höhere Einnahmen als zuvor erzielt und die negativen Auswirkungen auf Währung und Wirtschaft bisher in Grenzen halten konnte, leidet die Wirtschaft der anderen europäischen Staaten immer stärker
unter den Embargomaßnahmen.

Wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Staaten haben grundsätzlich eine gewisse friedenserhaltende Wirkung, da sich alle Beteiligten durch die Eskalation eines Konflikts selbst schaden. Im Kalten Krieg waren die Wirtschaftsbeziehungen Westeuropas zur Sowjetunion faktisch die materielle Basis der friedlichen Koexistenz. Russland nun wirtschaftlich vom Westen völlig abzukoppeln, ist daher eine für die zukünftige Stabilität Europas gefährliche Blockbildung.

NEUE BLOCKBILDUNG

Der russische Einmarsch brachte eine einheitliche Front des Westens gegen Russland zusammen, wie sie Washington seit langem anstrebt. Auch offiziell neutrale europäische Länder, wie die Schweiz und Österreich, beteiligen sich an den Wirtschaftsblockaden. Die Regierungen Finnlands und Schwedens nutzen die Hysterie, um auch formal Mitglied der NATO zu werden.

Die außenpolitische Isolierung Russlands ist jedoch bisher gescheitert. Stattdessen kristallisiert sich eine neue Blockbildung heraus. Die vom Westen zum Feind erklärten Länder wie Russland, China, Iran, Kuba und Venezuela rücken enger zusammen, und parallel dazu entsteht ein weiterer bedeutender Block von Staaten ‒ von Indien über die Golfstaaten und Südafrika bis Brasilien und Mexiko ‒, die dem Westen die Gefolgschaft verweigern und ihre Zusammenarbeit mit Russland fortführen. Sie kritisieren mit Verweis auf die
US- und NATO-Kriege die westliche Doppelmoral, beteiligen sich nicht an den Wirtschaftsblockaden, prangern den Missbrauch des internationalen Finanzsystems an und wollen nun gemeinsam mit China und Russland die Abhängigkeit vom Dollar verringern.

NEIN ZU ROT-GELB-GRÜNEN GROßMACHTSPIELEN

Das von der Ampel-Koalition eingeleitete gigantische Aufrüstungsprogramm und der immer lauter werdende Ruf nach Atomwaffen für die EU gießen weiter Öl ins Feuer. Mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden für die Bundeswehr und der Erhöhung der
Rüstungsausgaben auf durchschnittlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung wollen die Herrschenden Deutschland als Militärmacht gewaltig ausbauen und die Bundeswehr für neue Kriege ertüchtigen.

Mit medialem Trommelfeuer wird jetzt der Krieg in der Ukraine genutzt, um jede Opposition gegen Aufrüstung und Krieg zum Schweigen zu bringen. Man ist erinnert an den Beginn des ersten Weltkriegs oder die heißesten Phasen des Kalten Krieges: Bedingungslose Zustimmung wird zur ersten Bürgerpflicht. Das politische Klima wird vergiftet und nach rechts verschoben.
Die Werbung für Hochrüstung und Kriegsbeteiligung ist hochgradig widersprüchlich. So soll die Bereitstellung alter NATO-Panzer die ukrainischen Streitkräfte befähigen können, die russische Armee zu besiegen. Andererseits soll die russische Armee eine derart gewaltige Bedrohung für die NATO-Staaten darstellen, dass diese gezwungen sind, ihre Rüstungsausgaben vom 18-fachen auf das womöglich 25-fache der russischen zu steigern.

Die Propaganda der Ampel-Regierung erweckt den Eindruck, dass der 100 Milliarden Sonderfonds für die Aufrüstung der Bundeswehr und die Steigerung des Militäretats Deutschlands auf über zwei Prozent der Wirtschaftsleistung eine Hilfe für die Ukraine darstellen.

Dieser Täuschung und der damit verbundenen Hoch- und Atomrüstung stellt die Friedensbewegung ihren Widerstand entgegen. Atombomber F 35 für Nuklearschläge, Drohnenbewaffnung, künstliche Intelligenz für den Luftkrieg und weitere High Tech-Rüstungsprojekte untergraben die Aussicht auf eine soziale, friedliche und ökologische Zukunft.


Die Friedensbewegung stellt sich ihrer Verantwortung für die Zukunft und sagt zur Eskalation ‚Nein‘, da es ohne eine Friedensperspektive keine Zukunft gibt.

Von der Bundesregierung fordern wir:

• Keine Waffenlieferungen, weder an die Ukraine noch in andere Länder
• Ernsthaftes diplomatisches Engagement für eine Deeskalation – unilateral sowie in der EU und NATO
• Keine Beteiligung an Wirtschaftsblockaden – Ausstieg aus dem Wirtschaftskrieg gegen Russland
• Aufnahme von Flüchtenden und Desertierenden ungeachtet ihrer Herkunft
• Keine Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen (Dark Eagle) in Europa
• Rückzug der Bundeswehr aus Osteuropa
• Bemühungen um die Wiederaufnahme von umfassenden Rüstungskontrollverhandlungen – gemeinsame Sicherheit statt NATO
• Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags, Abzug der Atomwaffen aus Deutschland, Ende der nuklearen Teilhabe
• Statt horrender Summen für Waffen und Militär mehr Geld für Bildung, Gesundheit, Klima, internationale Entwicklung und ein solidarisches Sozialsystem

ES IST ZEIT FÜR EINE RADIKALE KEHRTWENDE

Aufrüstung und Kriegspolitik stehen im Gegensatz zur solidarischen Kultivierung der Gesellschaft. Gegen 100 Milliarden mehr für die Bundeswehr und die weitere Erhöhung der Rüstungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (pro Jahr durchschnittlich ca. 80 Milliarden Euro), engagieren wir uns verstärkt für eine neue Entspannungspolitik und massive öffentliche Investitionen in eine humane Zukunft. Jetzt erst recht.


V.i.S.d.P.: Bundesausschuss Friedensratschlag,
Germaniastr. 14, 34110 Kassel
Spendenkonto: IBAN: DE77 5205 0353 0217 0012 32
www.friedensratschlag.de

1 Blinken sets a standard for lifting sanctions: an ‚irreversible‘ Russian
withdrawal, NPR, 16.3.2022
U.K.: Russia Sanctions Could ‚Come Off With Full Cease-Fire And
Withdrawal‘ From Ukraine, RFE/RL, 27.3.2022 2 Peter Wahl, Attac AG Globalisierung & Krieg, Der Ukraine-Krieg und
seine geopolitischen Hintergründe, 11 Seiten 18. März 2022,
https://www.attacnetzwerk.de/fileadmin/user_upload/AGs/Globalisierung_und_Krieg/r
eader/20220318_AG_GuK_Ukraine.pdf

References

References
1 Excerpts From Pentagon’s Plan: ‚Prevent the Re-Emergence of a New
Rival‘, NYT, 8.3.1992
2 Louise Guillot, Atomic energy chief: Ukraines’s nuclear safety situation ‘far from being resolves’, Politico, 10.5.2022, Laurence
Norman, U.N. Atomic Agency Chief Presses for Access to Zaporizhzhia Nuclear Plant Wall Street Journal, 25.5.2022
3 Robert H. Wade, A ‘Diplomatic Solution’ to the Ukraine Crisis”, Global Policy Journal, 1.3.2022
4 So bezeichnet Avril Haines, Chefin aller 18 US-Geheimdienste, die Annahme, die ukrainische Armee könne an Russland verlorene Gebiete militärisch zurückgewinnen, für abwegig.(The War in Ukraine Is Getting Complicated, and America Isn’t Ready, The Editorial Board, The New York Times, 19.5.2022) https://www.thepioneer.de/originals/thep ioneer-briefing-business-classedition/briefings/20220523
5 s. Überblick von Sevim Dagdelen, Wie ein Verhandlungsfrieden im
Ukraine-Krieg torpediert wird, NachDenkSeiten, 16.5.2022
6 Im Mai 2019 drohte Dmytro Jarosch, Chef der Miliz Rechter Sektor und Berater des Oberbefehlshabers der Armee, Selenskij im ukrainischen Medium Obozrewatel offen mit dem Tod, falls er sich mit Russland einigt. Wörtlich Jarosch: Wenn Zelensky die Ukraine verrät, wird er nicht sein Amt, sondern sein Leben verlieren, Obozrewatel, 27.05.2019, s.a. Zelensky And The Fascists: He will hang on some tree on Khreshchatyk, Moon of Alabama, 5.3.2022)
7 Ukraine-Krieg: Ex-Merkel-Berater Vad warnt vor Lieferung von schweren Waffen, Stern, 12.04.2022
8 Charles Kupchan, Ukraine’s Way Out. The Atlantic, 18.5.2022, 11 Italien legt Friedensplan für Ukraine vor, Tagesspiegel, 21.05.2022 12 Siehe z.B. Henry Kissinger: Ukraine must give Russia, The Telegraph, 23.5.2022 oder der erwähnte Charles Kupchan in Ukraine’s Way Out The Atlantic, 18.5.2022, sowie zusammen mit Stephen Twitty, ehem. stellvertretender Befehlshaber des U.S.-European Command in Stuttgart, in einer Expertenrunde des Council on Foreign Relations,
Russia’s War in Ukraine: How Does it End?, 31.5.2022

Zwischen Hölle und Vernunft

Von Werner Ruhoff

Jedes Jahr am 6. August, der Tag an dem die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen wurde, findet in Berlin eine eindrucksvolle Gedenkfeier an der Weltfriedensglocke im Friedrichshainer Volkspark statt. Organisiert wird sie von der Friedensglockengesellschaft Berlin e.V., unter Mitwirkung von Organisationen aus der Friedensbewegung und vom Berliner Bezirk Friedrichshain Kreuzberg. Die Friedensglocke, gestiftet von der in Tokio ansässigen World Peace Bell Association, symbolisiert die Erinnerung an die Opfer der Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie die Mahnung, dass solch ein Verbrechen nicht wieder geschieht.

Der Historiker Peter Brandt, ältester Sohn von Willy Brandt, wies auf den Zivilisationsbruch durch den Einsatz der Atombomben in Japan hin. Er bezeichnete die Abwürfe der Bomben, die 300 000 Menschen auf fürchterlichste Weise das Leben auslöschten, als ein schweres Kriegsverbrechen. Das militaristische Japan sei bereits besiegt und zur Kapitulation bereit gewesen, allerdings unter Beibehaltung seines Kaisertums, was die Sieger ihm dann später auch zugestanden. Es ging, wie der Redner es beschrieb, vor allem um eine Machtdemonstration in Richtung des sowjetischen Diktators Stalin und um das Ausprobieren am lebenden Objekt, denn man hätte die Bomben auch auf einer unbewohnten Insel zünden können. Die US-Propaganda begründete den grausamen Massenmord mit der Rettung des Lebens amerikanischer Soldaten. Statt aus dieser Katastrophe die Konsequenz zu ziehen, setzten sich jene durch, die die Bombe als Machtinstrument nutzen wollten.

Ein entfernter Nachfahre des Kernphysikers Klaus Fuchs berichtete über die Bedenken seines Großonkels, der an der Entwicklung der Bombe beteiligt war und seine Kenntnisse an die Sowjetunion weitergab. In der DDR habe sich der Physiker für die Abschaffung dieser Massenvernichtungswaffen eingesetzt. Der Historiker Brandt erinnerte an den Bericht der Palme-Kommission (benannt nach dem ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme) an die 2. UNO-Sonderversammlung für Abrüstung 1982, welche u.a. eine atomwaffenfreie Zone in Europa vorschlug und zitierte Egon Bahr, der an eine gemeinsame Sicherheit für alle Staaten appellierte, weil die überkommene Abschreckungsdoktrin, wer als Erster zündet stirbt als Zweiter, am Ende das zu vernichten droht, was es zu verteidigen gelte. Hinzu kommt heute mehr denn je das Risiko eines ungewollten Atomkrieges. Bereits während der Blockkonfrontation der militärischen Supermächte gab es etliche Unfälle und Beinahkatastrophen. Bekannt ist inzwischen die Verhinderung eines Dritten Weltkrieges mit atomaren Waffen durch den sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow, der 1982 auf den falsch gemeldeten Atomwaffenangriff durch einen Satelliten so besonnen reagierte, dass er einen Gegenangriff verhinderte. Heute gibt es weltweit immer noch mehr als 10 000 Atomsprengköpfe, von denen über 3000 einsatzbereit sind. Dazu gehören Sprengköpfe mit der vielfachen Vernichtungswirkung der Bomben, die von den USA auf Japan abgeworfen wurden.

Ein junger Redner der internationalen Ärzteorganisation gegen einen Atomkrieg wies mit Blick auf den aktuellen Beschuss des Atomkraftwerks in der Ukraine auf den Zusammenhang von ziviler und militärischer Nutzung der Kernenergie hin. Außerdem fehlten die finanziellen Mittel für die Umbaumaßnahmen gegen Umweltzerstörung und Klimawandel wegen der enormen Ausgaben für die militärische und atomare Aufrüstung. Eindrucksvoll schilderte eine sechzehnjährige Schülerin aus der Region Fukushima, welche Konsequenzen die Katastrophe mit dem Kernkraftwerk für sie als Kind hatte; mit dem Verbot draußen zu spielen, mit dem Verlust von Freundinnen und mit der Angst vor der radioaktiven Verseuchung des Essens.

Der Historiker Peter Brandt zitierte den heutigen UNO-Generalsekretär Antonio Guterres mit den Worten: die einzige Garantie dafür, dass ein Atomkrieg verhindert wird, ist die endgültige Abschaffung der Atomwaffen. Seit Januar 2021 ist der UNO-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen durch die Ratifizierung von mehr als 60 Staaten völkerrechtlich gültig, und bereits 1996 urteilte der Internationale Gerichtshof in Den Haag, dass die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen dem Völkerrecht widerspricht. Trotzdem haben die führenden Atomwaffenmächte wieder enorme Summen für eine Modernisierung ihrer atomaren Waffenpotenziale veranschlagt. Auch die Bundesregierung beschloss die Anschaffung neuer taktischer Atomwaffenbomber bei der amerikanischen Rüstungsfirma Lockheed Martin für etliche Milliarden Euro, damit die neuen Atombomben der USA in der Bundeswehrkaserne in Büchel im Rahmen der sogeannten nuklearen Teilhabe den erhöhten Anforderungen entsprechend eingesetzt werden können. Die Manager und Aktionär*innen der Firma Lockheed Martin wird’s freuen. Deren Aktienwerte sind vom Anfang bis zum Ende des Afghanistankrieges laut Angaben von amerikanischen Journalist*innen um mehr als das Dreizehnfache gestiegen.

Die Doomsday Clock (Weltuntergangsuhr) des in Chicago ansässigen Bulletins for Atomic Scientists, die sich mit den Gefahren eines Atomkriegs beschäftigen, übrigens eine Einrichtung, die 1947 von Albert Einstein mit ins Leben gerufen wurde, steht so dicht vor Zwölf wie selbst während des Kalten Krieges und der Kubakrise nicht. Es wird Zeit, auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und auf die Spannungen im Pazifik, dass die anschwellende Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und vor allem auch in das Blick- und Handlungsfeld von Gewerkschaften und sozial-ökologischen Bewegungen kommt. Der Aufschwung einer unüberhörbaren Friedensbewegung wie in den achtziger Jahren lässt auf sich warten, und das laute Schweigen wider besseres Wissen auf den verantwortlichen Ebenen hält an. Ebenfalls zur Mahnung und zum Gedenken gab es in Berlin unter dem Motto Büchel goes Berlin eine viertägige Fastenmahnwache vor den neun Botschaften der Atomwaffenstaaten und vor dem Bundeskanzleramt. Und diese Aktion war Teil einer interntionalen Aktion, die auch in Frankreich und Großbritannien stattfand. Im August 1945 schrieb Albert Camus in der Zeitung Combat, die Menschheit müsse sich zwischen Hölle und Vernunft entscheiden.

Berlin 9. August 2022

Die bemerkenswerte Rede von Peter Brandt kann hier nachgelesen werden

Dieser Beitrag wurde für die „www.gewerkschaftliche-linke-berlin.de“ geschrieben und wir bedanken uns für die Genehmigung der Veröffentlichung auf unserer HP.

Für eine Rente wie in Österreich

Die Bundesregierung will die Rente in Zukunft zum Teil durch Kapitaldeckung finanzieren. Sie hat einen entsprechenden Gesetzesentwurf mit der Drucksache 20/11898 vom 21. Juni 2024 vorgelegt. Über diesen Gesetzesentwurf wird nun in den folgenden Monaten beraten werden.

In einer Veranstaltung am 7. Oktober 2023 im Dragonareal war eine sehr präzise Kritik an den Plänen dieser kapitalgedeckten Rentenversicherung formuliert worden. Eine Gegenkampagne „Rwenten wie in Österreich! Jetzt!“ wurde schon im Jahr 2022 gestartet.

Inhaltsverzeichnis:

27. September 2024: Erste Lesung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung im Bundestag

21. Juni 2024: Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur kapitalgedeckten Rente

16. Mai 2024: Reiner Heyse: Jetzt amtlich – das Riester Debakle

21. April 2024: IG Metall protestiert „Kein Roullette mit unserer Rente“

Bericht und Dokumentation der Veranstaltung am 7.10.2023: „Unsere Rente: Kein Spielball für Blackrock & Co.

Gegenkampagne „Renten wie in Österreich! Jetzt!“

17. Januar 2023: Hier die Pläne der Bundesregierung über die Einführung einer Aktienrente.


Zur Debatte im Bundestag über den Gesetzesentwurf der Ampelregierung für eine kapitalgedeckte Rente.

Weiterlesen hier


Am 21. Juni 2024 legte die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf für den Aufbau eines privaten Fonds zur Finanzierung der Rente vor.

Weiterlesen hier

Screenshot

as Finanzministerium hat erstmals Daten zu ausgezahlten Riester-Renten veröffentlicht. Amtlich bestätigt wird damit, wie katastrophal niedrig die ausgezahlten Rentenbeträge ausfallen. Nach 20 Jahren „Riestern“ gibt es mittlerweile (2022) eine Million Menschen, die eine Riester-Rente erhalten. Über 400.00 von ihnen bekommen weniger als 60 Euro im Monat – und davon kommen noch Steuerabzüge runter. Zusätzlich bekamen 85.000 Rentnerinnen und Rentner Einmalbeträge ausbezahlt, weil ihre Riester-Rente unter 30 Euro monatlich betragen hätte.

Weiterlesen hier


Metallerinnen und Metaller haben am 21. April vor dem FDP-Bundesparteitag gegen die Pläne von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zur Einführung einer sogenannten Aktienrente protestiert. Unter dem Motto „Kein Roulette mit unserer Rente“ zeigten Gewerkschafter mit einem Roulettetisch und einem Christian-Lindner-Double, wie auf Kosten der Rentenversicherten spekuliert werden soll. Für die IG Metall ist klar: Der Finanzmarkt ist kein sicherer Ort für sozialstaatliche Altersvorsorge.

Weiterlesen


„Rente bekomme ich nicht mehr!“ Diesen Spruch hört man immer wieder von jungen Leuten. Dabei entbehrt er jeder Grundlage. Es gibt eine gesetzliche Rente im Umlageverfahren und die kann es auch in 50 Jahren geben, wenn wir uns nicht einwickeln lassen. Machtvolle Lobby-Organisationen wie Blackrock haben andere Interessen. Aktuell „beraten“ sie die Bundesregierung in der „Fokusgruppe private Altersvorsorge“. Privaten Fondsverwaltungen und Versicherer haben nun im Juli 2023 ihre Pläne vorgelegt, nach denen neben der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente und der Betriebsrente als „Dritte Säule“ erneut die private Altersvorsorge ausgebaut werden soll. Die Baby- Boomer- Generation, also die zwischen 1955 bis 1965 Geborenen, werden in den Medien als die Gefahr für die Rentenkassen dargestellt, obwohl aktuell die Versicherungsbeiträge für die Rente mit 18,6% relativ niedrig sind. Leider trifft dies nicht nur auf die Versicherungsbeiträge zu, sondern auch auf die Höhe der Rentenzahlungen. Der langjährigen Politik der Rentenkürzungen bis hin zur Schröders Agenda 2010 und 2007 Merkels- Rente mit 67 „sei Dank“.

Ein Bericht über die Informations- und Diskussionsveranstaltung am 7. Oktonber 22023 „Unsere Rente: Kein Spielball für BlackRock & Co.! Menschenwürdige Renten für alle – wie in Österreich!“ Die sehr informativen Beiträge können hier angehört werden


6. August 2022. Gastautor Klaus Murawski macht im Folgenden einen Gegenvorschlag für eine Rente wie in Österreich und stellt eine entsprechende Kampagne vor:

Klaus Murawski
Foto: Ingo Müller

„Aufgrund einer Anfrage der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Partei DIE LINKE Sabine Zimmermann an die Bundesregierung wurde bekannt, dass geplant ist, das heutige Rentenniveau von 48% des vorherigen Gehalts erneut zu unterschreiten: auf 43,5 %. Bereits jetzt rangiert die Bundesrepublik auf einem der letzten Plätze innerhalb der OECD-Staaten, was die Quote des Rentenanteils vom vorher bezogenen Einkommen betrifft. In der Konsequenz läuft diese Politik darauf hinaus, dass zukünftig jede(r) zweite Beschäftigte mit Alltagsarmut konfrontiert sein würde. Um das abzuwenden, gibt es jetzt dazu die Kampage „Für eine Rentenversicherung als Bürgerversicherung“, die sich an den österreichischen Erfahrungen orientiert.

Dabei kann sie sich darauf stützen, dass die Gewerkschaften, die Linkspartei und auch einige linke Sozialdemokraten an der Forderung einer Rentenversicherung für alle Beschäftigte festhalten. Als vor 20 Jahren die Schröder- Regierung die Rentenkürzung und Rentenprivatisierung  auf den Weg gebracht hatte, hatte Österreich nach Protesten einen anderen Weg gewählt, den der Bürgerversicherung. Das zahlt sich aus!

In Österreich zahlen jetzt alle in eine „Pensionskasse“ ein und die Rente konnte so sogar erhöht werden. Gutverdienende Beamte und Freiberufler stabilisieren das System gerade jetzt, wo geburtenstarke  Jahrgänge in Rente gehen. Auch der Staat und die Unternehmen beteiligen sich mehr als in Deutschland. Es geht, wenn man will!

Wer für eine Rente wie in Österreich, jetzt ist, sollte deshalb die Kampagne unterstützen.

Die Kampagne ist eine Initiative von RentenZukunft

Dieser Beitrag erschien zuerst in www.gewerkschaftliche-Linke-berlin.de

Recht herzlichen Dank an Klaus Murawski für die zur Verfügung gestellten Infos.

weitere Infos zum Thema:

Infoblatt „Renten wie in Österreich! Jetzt!“, Deutschland ist ein Renten-armes Land.

Rentenvergleich: Österreich – BRD

Renten wie in Österreich! Jetzt! Aufforderung an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages: Unterschriftensammlung


Ein kurzer Bericht der Süddeutschen Zeitung über die Pläne der Ampel-Regierung für eine Aktienerente

weiterlesen hier


Anwaltsvereine für umfassendes Streikrecht

Gemeinsame Stellungnahme
der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) und des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) vom 22.07.2022
zum
Streik der Gorilla-Riders und dem europarechtlichen Streikrecht:
Mehr rechtlichen Schutz für die Gorillas-Beschäftigten: RAV und VDJ fordern Anerkennung des europarechtlich gewährleisteten Streikrechts in Deutschland

Die Fahrer:innen des Berliner Startups Gorillas hatten seit dem 9. Juni 2021 über Monate mehrmals in Berlin und Leipzig für sichere Beschäftigung, höhere Löhne und gesunde Arbeitsbedingungen gestreikt, ohne dass eine Gewerkschaft dazu aufgerufen hatte. Daraufhin wurden rund 30 Fahrer:innen entlassen. Nur kurz darauf versuchte die Geschäftsführung auch die Wahl eines Betriebsrats im Wege der einstweiligen Verfügung zu stoppen. Dieses misslang, der Betriebsrat wurde gegen den Widerstand der Unternehmensführung gewählt. Gegen die Kündigungen haben Fahrer:innen Klage beim Arbeitsgericht Berlin erhoben. Die ersten Urteile hierzu liegen vor. Das Arbeitsgericht Berlin kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen, teilweise sieht es die Kündigungen als zulässig an; teilweise bewertet es die Kündigungen als unrechtmäßig.

Die 20. Kammer des Arbeitsgerichts Berlin wies am 06.04.2022 die Kündigungsschutzklage von drei Fahrer:innen ab, denen aufgrund ihrer Teilnahme an diesem verbandsfreien Streik gekündigt worden war. Das Gericht erachtete zwei der außerordentlichen Kündigungen für wirksam, weil die Teilnahme an einem Streik nur dann rechtmäßig sei, wenn dieser von einer Gewerkschaft getragen werde.[1]Siehe auch die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Berlin Nr. 05/22 vom 06. 04. 2022: https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2022/pressemitteilung.1194236.php; der … Continue reading Dabei lässt es die europarechtlichen Vorgaben zu Unrecht außer Acht.

In einem weiteren Kündigungsschutzprozess vor der 19. Kammer desselben Gerichts hatte ein Rider dagegen Erfolg.[2]Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 07.03.2022, 19 Ca 10127/21, abgerufen am 13.5.2022 unter https://www.arbeitsrecht-berlin.de/urteil-des-arbeitsgerichts-berlin-zum-wilden-streik/ Die 19. Kammer hat der Klage unter anderem mit folgender Begründung stattgegeben:

„Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das Streikrecht nicht kodifiziert ist und somit auch die propagierte Notwendigkeit, dass ein Streik gewerkschaftlich organisiert sein muss, keine gesetzliche Grundlage hat. Dementsprechend vertritt die Literatur (…) auch die Auffassung, dass das ganze Spektrum von Handlungsmöglichkeiten, die Artikel 28 EU-GRC eröffnet, jeder Gewerkschaft, aber auch jeder gemeinsam handelnden Arbeitnehmergruppe zustehe. Artikel 28 EU-GRC schütze daher auch den nicht gewerkschaftlichen „wilden“ Streik. […].

Mithin ist es keineswegs gesichertes Recht, dass ein Aufruf zu einem sogenannten wilden Streik einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstellt. Die Frage, ob die Teilnahme hieran einen Kündigungsgrund darstellt, stellt sich somit heute grundlegend anders als vor dem Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharta (…).“

Die 19. Kammer des Arbeitsgerichts Berlin greift damit im Kern die völker- und europarechtlichen Argumente auf, die kritische Jurist:innen bereits seit Jahrzehnten gegen das durch obergerichtliche Rechtsprechung geprägte restriktive Verständnis des deutschen Streikrechts anführen.

Art. 6 Nr.4 der Europäischen Sozialcharta (ESC)[3]Art. 6 Nr.4 ESC lautet: „Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsstaaten […] das Recht der Arbeitnehmer und der … Continue reading gewährleistet den Arbeitnehmer:innen  das Recht auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts. Eine Beschränkung der Träger:innen des Streikrechts auf tariffähige Gewerkschaften oder eine Beschränkung der Ziele des Streiks auf den Abschluss von Tarifverträgen kennt die ESC hingegen nicht. Die ESC wurde 1965 von der Bundesrepublik ratifiziert. Es handelt sich damit um verbindliches Völkerrecht, welches   nicht nur wie ein einfaches Gesetz zu beachten, sondern maßgeblich auch bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzuziehen ist. Der Sachverständigenausschuss des Ministerkomitees des Europarats, der die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta in den einzelnen Mitgliedsstaaten überwacht, erklärt seit Jahren, dass in Deutschland das „Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“ ein Verstoß gegen die Sozialcharta sei. Das Ministerkomitee selbst sprach deswegen 1998 sogar eine sogenannte „Empfehlung“ aus, die höchste Sanktionsstufe, die ihm zur Verfügung steht.[4]„Empfehlung zur Anwendung der Europäischen Sozialcharta durch Deutschland während des Zeitraums v. 1993-1994 (13. Kontrollzyklus Teil IV), beschlossen v. Ministerkomitee am 3.2.98“ in: … Continue reading  

Der Republikanische Anwältinnen- und Anwaltsverein e.V. und die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. fordern die konsequente Anwendung europäischen Rechts und damit die Anerkennung weitergehender Streikmöglichkeiten als sie die deutsche Rechtsprechung bislang erlaubt. Diese Rechtsprechung wurde maßgeblich von Hans Carl Nipperdey geprägt,[5]Rechtsgutachten vom 2. Januar 1953 von Hans Carl Nipperdey im Auftrag des BDA „Die Ersatzansprüche für Schäden, die durch den von den Gewerkschaften gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz … Continue reading der  während der Zeit des Faschismus in führender Position an der juristischen Umsetzung der Prinzipien des Nationalsozialismus beteiligt war, u.a. als Autor eines Kommentars zum faschistischen Arbeitsrecht AOG.

Mit den vorliegenden europarechtswidrigen, in der Sache arbeitnehmerfeindlichen Zurückweisungen der Kündigungsschutzklagen verstößt die 20. Kammer gegen die Sozialcharta und eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes und perpetuiert sehr unrühmliche, überkommene und demokratiefeindliche Rechtsstandpunkte. Wir vertreten die Auffassung, dass die Entscheidungen der 20. Kammer keinen Bestand haben dürfen und fordern, die betroffenen Beschäftigten mit allen Rechten weiter zu beschäftigen.

Wegen der herausragenden Bedeutung des Streikrechts für die Sicherung unserer Demokratie sollte endlich eine Diskussion über die Überwindung des restriktiven und rückständigen Verständnisses der Rechtsprechung zum Streikrecht in Gang kommen. Diese Diskussion sollte auf die Implementierung eines „umfassendes Streikrecht“ gerichtet sein, wie schon 2012 der Wiesbadener Appell forderte.[6]Wiesbadener Appell: https://politischer-streik.de Dazu gehört auch das Recht auf den politischen Streik, dessen pauschales Verbot ebenfalls mit der Sozialcharta unvereinbar ist.

Presserückfragen an Rechtsanwalt Dr. Andreas Engelmann, Bundessekretär der VDJ, telefonisch unter 069 71163438 oder per E-Mail an bundessekretaer@vdj.de

Dieser Beitrag kann auch auf der homepage der vdj werden unter: https://www.vdj.de/mitteilungen/nachrichten/nachricht/mehr-rechtlichen-schutz-gelesenfuer-die-gorillas-beschaeftigten-rav-und-vdj-fordern-anerkennung-des-europarechtlich-gewaehrleisteten-streikrechts-in-deutschland/

 

References

References
1 Siehe auch die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Berlin Nr. 05/22 vom 06. 04. 2022: https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2022/pressemitteilung.1194236.php; der Volltext liegt bislang nicht vor.
2 Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 07.03.2022, 19 Ca 10127/21, abgerufen am 13.5.2022 unter https://www.arbeitsrecht-berlin.de/urteil-des-arbeitsgerichts-berlin-zum-wilden-streik/
3 Art. 6 Nr.4 ESC lautet: „Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsstaaten […] das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten […] anzuerkennen …“
4 „Empfehlung zur Anwendung der Europäischen Sozialcharta durch Deutschland während des Zeitraums v. 1993-1994 (13. Kontrollzyklus Teil IV), beschlossen v. Ministerkomitee am 3.2.98“ in: AuR 4/1998, S. 156
5 Rechtsgutachten vom 2. Januar 1953 von Hans Carl Nipperdey im Auftrag des BDA „Die Ersatzansprüche für Schäden, die durch den von den Gewerkschaften gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz geführten Zeitungsstreik vom 27.-29. Mai 1952 entstanden sind“.
6 Wiesbadener Appell: https://politischer-streik.de

Der Tod Europas und die Geburt einer neuen Ordnung 

von Augusto Zamora Rodríguez

Übersetzung: Olga Espín

Augusto Zamora Rodríguez ist der Autor von Política y geopolítica para rebeldes, irreverentes y escépticos (3. Auflage, 2018); Réquiem polifónico por Occidente (2018) und Malditos libertadores (2. Auflage 2020); war Professor für Völkerrecht und internationale Beziehungen an der Universidad Autónoma de Madrid sowie Dozent an der Nationalen Autonomen Universität von Nicaragua und Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in Europa und Lateinamerika.

Ehemaliger Botschafter Nicaraguas in Spanien. Von 1979 bis 1990 juristischer Direktor des Außenministeriums und Stabschef des Außenministers. Er gehörte dem nicaraguanischen Verhandlungsteam in den Friedensprozessen von Contadora und Esquipulas an, von Anfang an bis zur Wahlniederlage des Sandinismus. Er vertrat Nicaragua im Verfahren gegen die USA vor dem Internationalen Gerichtshof wegen des Contra-Krieges und nahm an zahlreichen diplomatischen Missionen teil.

I

Zum Glück gibt es keinen Nobelpreis für menschliche Dummheit, denn er wäre bei der Fülle von Kandidaten, angefangen bei den europäischen Herrschern, unmöglich zu vergeben.  

Die Ukraine-Frage (wir weigern uns, das als Invasion oder Krieg zu bezeichnen, obwohl es technisch gesehen beides sein kann) ist  keineswegs das, was die westlichen Medien krampfhaft behaupten. Russland hat weder die Absicht, die Ukraine zu annektieren, noch hat es einen Eroberungskrieg begonnen, und schon gar nicht ist es das Ergebnis eines imperialen Wahns nach verlorener Größe.

Es ist ein geopolitischer Konflikt im wahrsten Sinn des Wortes. Geopolitisch im Verständnis des 19. Jahrhunderts, ein Kampf um Macht und Interessen, denn es gibt keinen Konflikt der Ideologien, keinen Kampf der Systeme, auch wenn die üblichen Söldner und Dummköpfe – die leider keine aussterbende Spezies sind –  davon schwadronieren. Nein, nichts dergleichen.

Es ist der alte Kampf zwischen der Welt, die geboren werden will, und der Welt, die sich weigert zu sterben (wie der Kommunist Antonio Gramsci gesagt haben soll), hervorgerufen durch die Weigerung der Nato, sich nicht weiter Richtung Russland auszudehnen. Denn das und nichts anderes ist der Grund der militärischen Aktion. Sicherheit für Russland zu gewinnen, was die Europäische Union/Nato ablehnt, was darauf schließen lässt, dass sie an ihrer Expansionspolitik festhalten.

Es wird behauptet, wiederholt und immer wieder betont, dass bei Konflikten dieser Größenordnung zuerst die Wahrheit stirbt. Wir sind anderer Meinung. Wir glauben, dass als Erstes die Intelligenz stirbt. Denn man muss schon ignorant, einfältig, verblödet und so weiter sein, um zu glauben, dass Russland die Ukraine wegen Banalitäten wie Größenwahn oder imperialen Liebesaffären angegriffen hat, wie in einem Roman von Corín Tellado (für diejenigen, die sie nicht kennen: die größte Autorin von Liebesgeschichten, bis zu drei pro Woche, an die sich ihre Mütter oder Großmütter mit, ja, jugendlicher Nostalgie erinnern werden). Nichts dergleichen.

Kriege sind teuer, sehr teuer, und ihr Verlauf hängt, wie Thukydides feststellte, von dem Geld ab, das man zur Verfügung hat. Wladimir Putin ist kein hirnloser Mann, wie sie ihn so gerne darstellen wollen. Er ist noch weniger ein Abenteurer wie Crassus, der römische Milliardär, der, um Caesar und Pompeius zu übertrumpfen, einen Krieg gegen die Parther finanzierte, woraufhin die Parther ihn köpften und seine 30.000 Soldaten vernichtend schlugen (daher stammt der Ausdruck „craso error“ großer Fehler).

Die Ukraine ist eine Spielfigur, vor allem auf dem globalen Schachbrett (um einen Ausdruck von Zbigniew Brzezinskis zu gebrauchen[1]The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives ist der Titel eines Buches von Brzezinski aus dem Jahr 2016 ), auf dem die Machtverteilung für die nächsten Jahrzehnte, wenn wir überhaupt dahin kommen, ausgespielt wird.

Wir erklären das. Gegenwärtig gibt es drei große Akteure ‒ Russland, die USA und China ‒ die sich in zwei Lager aufteilen. In der einen Ecke, wie in einem Boxring, die Allianz zwischen China und Russland, in der anderen die USA. Das ist keine Erfindung von uns. Wer das sagt und bis zum Überdruss wiederholt, sind die USA und ihr europäischer Hühnerstall. Da in geostrategischen Fragen nur die Lumpen Konflikte erfinden, zitieren wir offizielle US-Dokumente, zu denen wir zusätzlich den Quellenlink für diejenigen angeben, die ihre Neugierde befriedigen wollen.

Vorab sei gesagt, dass in den USA die Regierung und der Kongress so nett sind, solche Dokumente nach zunächst erfolgter Zensur zu veröffentlichen, und zwar auf eine Weise, dass diejenigen, die es nicht wissen wollen, das gar nicht mitbekommen. Aber sie sind da (natürlich in englischer Sprache) und stehen der Öffentlichkeit, die in der Regel erschreckend klein ist, zur Verfügung. Diese Dokumente machen es heute möglich, einen Tropfen Wahrheit in die Orgie der Manipulation und Desinformation zu bringen, die sich in diesem ignoranten europäischen Hühnerstall abspielt.

Beginnen wir mit dem wichtigsten Dokument, betitelt National Defense Strategy (Nationale Verteidigungsstrategie) von 2018, das bis zum heutigen Tag die Regeln bestimmt.

Darin heißt es: „Der zwischenstaatliche strategische Wettstreit, nicht der Terrorismus, ist jetzt das wichtigste nationale Sicherheitsanliegen der Vereinigten Staaten“.

„Der langfristige strategische Wettstreit mit China und Russland hat für das [Verteidigungs-] Ministerium oberste Priorität und erfordert aufgrund des Ausmaßes der Bedrohungen, die sie gegenwärtig für die Sicherheit und den Wohlstand der Vereinigten Staaten darstellen, und der Möglichkeit, dass diese Bedrohungen in Zukunft zunehmen werden, größere und nachhaltige Investitionen“.

Um diesem „langfristigen strategischen Wettstreit“ zu begegnen, hat das Pentagon neben einer umfassenden Liste von Maßnahmen und Aktionen die folgenden Ziele festgelegt.

In Bezug auf China: „Die Bündnisse und Partnerschaften im Indo-Pazifik stärken, um eine vernetzte Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die in der Lage ist, die Aggression abzuschrecken, die Stabilität zu wahren und den offenen Zugang zu gemeinsamen Gebieten zu gewährleisten“.

Was Russland angeht: „Das transatlantische Bündnis der Nato stärken. Ein starkes und freies Europa, geeint durch die gemeinsamen Prinzipien der Demokratie, der nationalen Souveränität und der Verpflichtung zu Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, ist für unsere Sicherheit unerlässlich“[2]Artikel 5 des Nordatlantikvertrags von 1949 definiert den Bündnisfall.

Zusammenfassend: Seit 2018 arbeiten die USA daran, eine Klammer um Russland und China zu bilden, deren wesentlicher Pfeiler ihre militärischen und politischen Bündnisse sind. Auf diese Weise soll die Nato die Atlantikfront der US-Armee bilden, während die USA mit ihren Verbündeten ‒ allen voran Japan ‒ für die Pazifikfront zuständig sind.

Die gesamte Strategie der USA, wirklich die ganze, beruht auf dem Konzept der zwei Kriegsfronten und folgt ihrer Politik während des Zweiten Weltkriegs, wo die USA sich weigerten, eine Front in Westeuropa zu eröffnen, weil sie ihre gesamte Macht gegen Japan einsetzen wollten (aus diesem Grund musste die Landung in der Normandie bis Juni 1944 warten).

Dieses Konzept ist das Ergebnis einer Tatsache, die in offiziellen US-Dokumenten eingestanden wird. Wie in dem Dokument Providing for the Common Defense (Für die gemeinsame Verteidigung bereitet sein), ebenfalls von 2018, zu lesen ist:

„Die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten ‒ das Rückgrat ihres globalen Einflusses und ihrer nationalen Sicherheit – ist in einem gefährlichen Maße erodiert… Die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten, ihre Partner und ihre eigenen lebenswichtigen Interessen zu verteidigen, ist zunehmend in Frage gestellt. Wenn die Nation nicht schnell handelt, um diese Umstände zu ändern, werden die Folgen schwerwiegend und lang anhaltend sein“.

Das heißt, die USA wissen, dass sie nicht die militärische Kapazität haben, um dem russisch-chinesischen Bündnis die Stirn zu bieten. Aus diesem Grund ist das Rückgrat der Strategie Washingtons, die maximale Anzahl von Bündnissen und Verbündeten zusammenzubringen. Die National Defense Strategy drückt es so aus: „Die Allianzen und Partnerschaften zum gegenseitigen Nutzen sind für unsere Strategie entscheidend, da sie einen dauerhaften, asymmetrischen strategischen Vorteil bieten, bei dem kein Konkurrent oder Rivale mithalten kann“.

„Über unsere Hauptbündnisse hinaus werden wir auch den Aufbau von Kooperationen auf der ganzen Welt forcieren, denn unsere Stärke vervielfacht sich, wenn wir gemeinsame Anstrengungen bündeln, um Kosten zu teilen und den Kreis der Zusammenarbeit zu erweitern. Dabei erkennen wir an, dass unsere vitalen nationalen Interessen eine engere Verbindung mit dem Indo-Pazifik, Europa und der westlichen Hemisphäre verlangen“.

Zusammengefasst: Da sie in den USA wissen, dass sie allein nicht können, werben sie eifrig Länder an, die willens sind, einen beträchtlichen Teil ihres Haushalts dafür aufzuwenden, die Unterlegenheit der USA auszugleichen und, wenn die Zeit gekommen ist, als Kanonenfutter im kommenden Krieg gegen Russland und China zu dienen.

Dies würde die Weigerung erklären, mit Russland über Sicherheitsfragen zu verhandeln, denn es ging nicht um die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine, sondern darum, die Ukraine als Falle zu benutzen, damit der europäische Hühnerstall blindlings und massenhaft seine Rolle als Atlantische Flanke der USA übernimmt.

Das Ziel, wir gestehen es ein, ist erreicht worden, und nun wird der europäische Hühnerstall tun, was die USA wollen: gegen Russland aufrüsten und sich auf den kommenden Krieg vorbereiten. Nur wird dieser Krieg nicht konventionell sein.

Er wird nuklear sein. Jeder, der etwas anderes glaubt, hat keine Ahnung von den Interessen, die hier im Spiel sind.

II

In diesem Rahmen müssen die Schlüssel zum Verständnis der politischen und geopolitischen Bewegungen in der heutigen Welt gesucht werden. Wer ihn sich nicht vorstellt oder ihn nicht kennt, kann nur eine Reihe von Unsinn von sich geben, der in Unwissenheit, Fanatismus und Unverstand, viel Unverstand, kultiviert wird.

Dieser beschriebene Rahmen macht zum Beispiel klar, dass die USA die gesamte Last ‒ politisch, militärisch und wirtschaftlich ‒ der Ukraine-Krise der Atlantikfront überlassen, aus dem einfachen Grund, dass sie keine Ressourcen von ihrer Pazifikfront abziehen wollen, der härtesten, schwierigeren und kostspieligsten. Die EU/Nato wird sich folglich auf ein Wettrüsten gegen Russland einlassen müssen, das hat Donald Trump als US-Präsident schon gefordert.

Das atlantische Europa hat diese Rolle klaglos akzeptiert, ohne die Kosten zu bemessen, seine Bürger zu informieren oder den Preis zu kalkulieren, den es in seiner Rolle als untergeordneter Hühnerstall bezahlen wird. Zu keinem Zeitpunkt hat eine europäische Regierung je eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen. An dieser Stelle muss mit dem Mythos einer „hirntoten“ Nato aufgeräumt werden.

Die Nato wurde stattdessen weiter ausgebaut. 2009 traten Albanien und Kroatien und 2017 Montenegro bei. Nur das Söldnertum und die Dummheit haben diese Fiktion aufrechterhalten können.

Der Ukraine-Konflikt ist schließlich genau wegen der Weigerung der Nato explodiert, eine neutrale Ukraine zu akzeptieren. Sie wollen das Land in der NATO, und bei dieser Besessenheit bleiben sie. Überdies hat sich die Dominanz der USA schon vor Jahren gezeigt, als der Hühnerstall gehorsam akzeptierte, die Projekte einer Europaarmee und der Schaffung einer gemeinsamen, von den USA unabhängigen Außen- und Sicherheitspolitik zu begraben.

Der andere Mythos des Hühnerstalls ist die angebliche Einsamkeit Russlands. Man muss schon blind, dumm oder bestechlich sein, um einen solchen Trugschluss zu vertreten. Zunächst einmal hat Russland die Unterstützung Chinas und Indiens. Das sind nicht nur Worte, sondern: Diese beiden Länder haben mehr Gewicht als der ganze Hühnerstall zusammen.

Außerhalb der Blase des Hühnerstalls ist die Welt besser informiert als die Hühner, und die weltweiten Beziehungsgeflechte sind von solcher Komplexität, dass sie für eingerostete atlantische Neuronen schwer verdaulich sind.

China braucht Russland aus vielen Gründen, angefangen bei lebenswichtigen geostrategischen, über die Neue Seidenstraße, bis hin zu Energiefragen. Indien braucht Russland für seine Streitigkeiten und Eifersüchteleien mit China, zusätzlich zu der Tatsache, dass 75 Prozent seiner Waffen aus Russland kommen.

Die Liste ließe sich fortsetzen, aber das ist nicht nötig. Wer sich die Mühe macht, die Positionen der Regierungen der Welt zu untersuchen, wird bemerken, dass fast keine mitmischen will. Sie wissen, was die USA sind, und sie wissen, was die Nato ist. Sie wissen, wer die Verursacher der Ukraine-Krise sind.

Der Hühnerstall wirft sich wie eine Armee von Trollen aus „Der Herr der Ringe“ gegen Russland in die Schlacht, mit einer pathologischen Wut, die ihrem zerstörerischen Ethos freien Lauf lässt, und das ist gut so. Man muss wissen, wer die Freunde und wer die Feinde sind. In Moskau wird es keinen Zweifel daran geben, falls es überhaupt mal einen gab, dass eine Verständigung mit den Atlantikern nicht möglich ist.

Der Hühnerstall der Trolle und Marionetten mit seiner antirussischen Giftigkeit hat die Zersplitterung der Welt in Blöcke beschleunigt und auch den politischen Tod Europas herbeigeführt. Es wird nicht mehr Europa sein, auch wenn es so scheint und weiter auf den Landkarten markiert bleibt. Europa wird im Wesentlichen die Atlantikfront der US-Armee sein, in Erwartung, dass die USA ihre Vernichtung anordnen.

Wir erleben live, direkt und in voller Deformation die Teilung der Welt und die Geburt einer neuen Welt, in der der Hühnerstall irrelevant sein wird, da das Geschäft zwischen China, Russland und den USA abgewickelt werden wird. Nichts wird den aufgerissenen Graben wieder schließen, selbst wenn sich die Beziehungen normalisieren, es wird die Normalität der Begräbnisse sein. Die Halbinsel Europa wird mehr denn je eine Halbinsel sein, denn ihre Verbindung zu Asien ist ‒ war ‒ Russland. Ohne Russland bleibt ihnen nur noch der Atlantik.

Ein weiterer Nutzen für Russland und China ist, dass der atlantische Hühnerstall seine Strategie offenbart hat. Sie ist derjenigen, die 1918 auf Deutschland angewendet wurde, so ähnlich, dass es an der Zeit ist auszurechen, was ein Bunker kosten würde. Der Unterschied ist, dass Russland nicht Deutschland ist. Das Gegenteil ist der Fall: Russland hat alles, von unbegrenzter Energie bis hin zu unerschöpflichen landwirtschaftlichen Ressourcen.

Und Atomwaffen. Putin hat angeordnet, sie in Alarmbereitschaft zu versetzen, um die überheblichen Insassen des Hühnerstalls daran zu erinnern. Diejenigen, die in ein paar Jahren, wie die Ukrainer heute, als Kanonenfutter für den größeren Glanz eines Reiches dienen werden, das in eben diesen paar Jahren aufhören wird, ein Reich zu sein. Und wenn das vorbei ist, wird Russland immer noch da sein, und die Zeit wird kommen, Rechenschaft abzulegen.

Wut und Mitgefühl mit der ukrainischen Bevölkerung, die im Namen blinder und absurder strategischer Kalküle der USA als Kanonenfutter benutzt wird. Und Verräter sind die Regierungen, die sie in die heutige tragische Lage gebracht haben, während ihre erste Pflicht war, ihr Wohlergehen und ihre Ruhe sicherzustellen.

Tausende Ukrainer kämpfen, ohne es zu wissen, in einem Krieg, der nicht ihrer ist, provoziert von einer Macht, die nicht gezögert hat, sie allein zu lassen. Im Hühnerstall sollte das zur Kenntnis genommen werden, aber welch eine Illusion: Die Hühner denken nicht.

Notiert euch das doch einmal. Russland wird die Ukraine solange nicht verlassen, bis sie sich nicht zu einem neutralen Land erklärt. Die ukrainische Regierung hat akzeptiert, mit Russland zu verhandeln. Keine intelligente Idee, sondern eine unvermeidliche. Ob es nun länger oder kürzer dauert, wenn es keine Einigung gibt, werden russische Panzer auf dem Maidan ankommen.

Wir beenden diesen Artikel, der länger geworden ist als geplant, mit den folgenden Kommentaren:

„Die USA reden oft von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Moral, aber in Wirklichkeit geht es um Interessen. Der strategische Egoismus und die Heuchelei Washingtons haben sich in der Praxis seiner internationalen Politik immer wieder offen gezeigt. Laut Berichten sind mindestens 37 Millionen Menschen in und aus Afghanistan, Irak, Pakistan, Jemen, Somalia, Philippinen, Libyen und Syrien als direkte Folge der von den USA seit dem 11. September 2001 geführten Kriege vertrieben worden“.

„Wenn ein Land, so mächtig es auch sein mag, nur seine eigenen Interessen verfolgt, überall Flammen schürt und ständig Chaos in andere Länder exportiert, ist es unvermeidlich, dass seine Glaubwürdigkeit zerbricht und seine Hegemonie an ihr Ende kommt“.

„Für Länder und Regionen, die immer noch Fantasien haben oder als Handlanger der USA agieren, ist die Ukraine-Krise eine gute Mahnung: Einem ‚Partner‘, der nur ‚gute Nachrichten‘ verkündet, wenn du in Schwierigkeiten bist, ist nicht zu trauen“.

Das stammt aus einem Leitartikel der Global Times der Kommunistischen Partei Chinas. Vernachlässigt das nicht. Auch nicht, dass die Krise in der Ukraine eine Botschaft hinterlässt: An eine friedliche Einigung mit den USA und ihrem Hühnerstall ist nicht zu denken. Daher ist die einzige Möglichkeit, den Hegemonialansprüchen der USA entgegenzutreten, der Krieg.

China hat sein ukrainisches Pendant. Es heißt Taiwan, der riesige landgestützte US-Flugzeugträger nur 230 Kilometer vom chinesischen Festland entfernt. Wenn es unklug ist, die Pfoten des Bären anzufassen, so ist es selbstmörderisch, dies gleichzeitig beim Drachen und beim Bären zu tun.

Aber es geht noch weiter. Die atlantische Bösartigkeit hat den früheren japanischen Premierminister Shinzo Abe dazu ermutigt, unter Hinweis auf die Ukraine-Krise eine nukleare Zusammenarbeit Japans mit den Vereinigten Staaten zu fordern. Die Global Times reagierte sofort in einem Leitartikel:

„Die USA sind sich der rechtsgerichteten Bewegung in Japan bewusst, sehen das Land aber als den wichtigsten Hebel, um China in Ostasien einzudämmen. Daher wird es für Washington mehr und mehr zu einer Priorität, Japan dafür zu benutzen. Dies ermöglicht es Japans rechten Politikern, eine Gelegenheit zu sehen und sie voll und ganz auszunutzen, um die strategischen Fesseln zu lösen, die sie seit fast 80 Jahren gebunden haben. Die nukleare Kapazität ist dabei wahrscheinlich ihr Endziel“. Gamer over.

Nehmt ihr den Wink wahr oder bleibt ihr dumm eingetaucht in die giftige Informationswolke? Die USA wollen, dass Japan für China das ist, was Deutschland von jetzt an für Russland sein wird, und wir wissen ja, wie diese Länder im Zweiten Weltkrieg endeten.

Kurz um, wir sprechen von reiner und harter Geopolitik und von einem Spiel, das größer ist, als die Menschen es sich vorstellen.

Hühner spielen da nicht mit. Sie opfern sich, um Suppe aus ihnen zu machen oder dieses  cholesterinverseuchte Gringo-Rezept fried chicken. Willkommen an der Schwelle des ersten großen Krieges des 21. Jahrhunderts. Lassen Sie sich das Huhn schmecken.

Mit freundlicher Genehmigung der Übersetzerin

Spanischer Originaltext bei https://prensabolivariana.org/2022/03/05/la-muerte-de-europa-y-el-parto-de-un-nuevo-orden/

References

References
1 The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives ist der Titel eines Buches von Brzezinski aus dem Jahr 2016
2 Artikel 5 des Nordatlantikvertrags von 1949 definiert den Bündnisfall

Karl Marx: Bürgerkrieg in Frankreich

Hier ein Auszug aus Karl Marx „Bürgerkrieg in Frankreich“

An die Mitglieder der internationalen Arbeiterassoziation
in Europa und den Vereinigten Staaten

III

Am Morgen des 18. März 1871 wurde Paris geweckt durch den Donnerruf: „Es lebe die Kommune!“ Was ist die Kommune, diese Sphinx, die den Bourgeoisverstand auf so harte Proben setzt?

„Die Proletarier von Paris“, sagte das Zentralkomitee in seinem Manifest vom 18. März, „inmitten der Niederlagen und des Verrats der herrschenden Klassen, haben begriffen, daß die Stunde geschlagen hat, wo sie die Lage retten müssen, dadurch, daß |336| sie die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in ihre eignen Hände nehmen … Sie haben begriffen, daß es ihre höchste Pflicht und ihr absolutes Recht ist, sich zu Herren ihrer eignen Geschicke zu machen und die Regierungsgewalt zu ergreifen.“

Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.

Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit – stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie, wo sie der entstehenden Bourgeoisgesellschaft als eine mächtige Waffe in ihren Kämpfen gegen den Feudalismus diente. Dennoch blieb ihre Entwicklung gehemmt durch allerhand mittelalterlichen Schutt, grundherrliche und Adelsvorrechte, Lokalprivilegien, städtische und Zunftmonopole und Provinzialverfassungen. Der riesige Besen der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts fegte alle diese Trümmer vergangner Zeiten weg und reinigte so gleichzeitig den gesellschaftlichen Boden von den letzten Hindernissen, die dem Überbau des modernen Staatsgebäudes im Wege gestanden. Dies moderne Staatsgebäude erhob sich unter dem ersten Kaisertum, das selbst wieder erzeugt worden war durch die Koalitionskriege des alten halbfeudalen Europas gegen das moderne Frankreich. Während der nachfolgenden Herrschaftsformen wurde die Regierung unter parlamentarische Kontrolle gestellt, d.h. unter die direkte Kontrolle der besitzenden Klassen. Einerseits entwickelte sie sich jetzt zu einem Treibhaus für kolossale Staatsschulden und erdrückende Steuern und wurde vermöge der unwiderstehlichen Anziehungskraft ihrer Amtsgewalt, ihrer Einkünfte und ihrer Stellenvergebung der Zankapfel für die konkurrierenden Fraktionen und Abenteurer der herrschenden Klassen – andrerseits änderte sich ihr politischer Charakter gleichzeitig mit den ökonomischen Veränderungen der Gesellschaft. In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse {4}, einer Maschine der Klassenherrschaft. Nach jeder Revolution, die einen Fortschritt des Klassenkampfs bezeichnet, tritt der rein unterdrückende Charakter der Staat macht offner und offner hervor. Die Revolution von 1830 übertrug die Regierung von den Grundbesitzern auf die Kapitalisten und damit von den entfernteren auf die direkteren Gegner der Arbeiter. |337| Die Bourgeoisrepublikaner, die im Namen der Februarrevolution das Staatsruder ergriffen, gebrauchten es zur Herbeiführung der Junischlächtereien, um der Arbeiterklasse zu beweisen, daß die „soziale“ Republik weiter nichts bedeute, als ihre soziale Unterdrückung durch die Republik; und um der königlich gesinnten Masse der Bourgeois und Grundbesitzer zu beweisen, daß sie die Sorgen und die Geldvorteile der Regierung ruhig den Bourgeoisrepublikanern überlassen könnten. Nach dieser ihrer einzigen Heldentat vom Juni blieb den Bourgeoisrepublikanern jedoch nur übrig, zurückzutreten aus dem ersten Glied ins letzte Glied der „Ordnungspartei“ – einer Koalition, gebildet aus allen konkurrierenden Fraktionen und Faktionen der aneignenden Klassen in ihrem jetzt offen erklärten Gegensatz zu den hervorbringenden Klassen. Die angemessene Form ihrer Gesamtregierung war die parlamentarische Republik mit Louis Bonaparte als Präsidenten; eine Regierung des unverhohlnen Klassenterrorismus und der absichtlichen Beleidigung der „vile multitude“ (der schoflen Menge). Wenn, wie Thiers sagte, die parlamentarische Republik die Staatsform war, die die Fraktionen der herrschenden Klasse am wenigsten trennte, so eröffnete sie dagegen einen Abgrund zwischen dieser Klasse und dem ganzen, außerhalb ihrer dünngesäten Reihen lebenden Gesellschaftskörper. Die Schranken, die, unter frühern Regierungen, die innern Spaltungen jener Klasse der Staatsmacht noch auferlegt hatten, waren durch ihre Vereinigung jetzt gefallen. Angesichts der drohenden Erhebung des Proletariats benutzte die vereinigte besitzende Klasse jetzt die Staatsmacht rücksichtslos und frech als das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit. Aber ihr ununterbrochner Kreuzzug gegen die produzierenden Massen zwang sie nicht nur, die vollziehende Gewalt mit stets wachsender Unterdrückungsmacht auszustatten; er zwang sie auch, ihre eigne parlamentarische Zwingburg – die Nationalversammlung – nach und nach aller Verteidigungsmittel gegen die vollziehende Gewalt zu entblößen. Die vollziehende Gewalt, in der Person des Louis Bonaparte, setzte sie vor die Tür. Der leibliche Nachkomme der Republik der „Ordnungspartei“ war das zweite Kaisertum.

Das Kaisertum, mit dem Staatsstreich als Geburtsschein, dem allgemeinen Stimmrecht als Beglaubigung und dem Säbel als Zepter, gab vor, sich auf die Bauern zu stützen, auf jene große Masse der Produzenten, die nicht unmittelbar in den Kampf zwischen Kapital und Arbeit verwickelt waren. Es gab vor, die Arbeiterklasse zu retten, indem es den Parlamentarismus brach und mit ihm die unverhüllte Unterwürfigkeit der Regierung unter die besitzenden Klassen. Es gab vor, die besitzenden Klassen zu retten |338| durch Aufrechterhaltung ihrer ökonomischen Hoheit über die Arbeiterklasse; und schließlich gab es vor, alle Klassen zu vereinigen durch die Wiederbelebung des Trugbilds des nationalen Ruhms. In Wirklichkeit war es die einzige mögliche Regierungsform zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren und wo die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte. Die ganze Welt jauchzte ihm zu als dem Retter der Gesellschaft. Unter seiner Herrschaft erreichte die Bourgeoisgesellschaft, aller politischen Sorgen enthoben, eine von ihr selbst nie geahnte Entwicklung. Ihre Industrie, ihr Handel dehnten sich zu unermeßlichen Verhältnissen aus; der Finanzschwindel feierte kosmopolitische Orgien; das Elend der Klassen hob sich grell ab gegenüber dem schamlosen Prunk eines gleißenden, überladnen und schuftigriechenden Luxus. Die Staatsmacht, scheinbar hoch über der Gesellschaft schwebend, war dennoch selbst der skandalöseste Skandal dieser Gesellschaft und gleichzeitig die Brutstätte aller ihrer Fäulnis. Ihre eigne Verrottung und die Verrottung der von ihr geretteten Gesellschaft wurde bloßgelegt durch die Bajonette Preußens, das selbst vor Begierde brannte, den Schwerpunkt dieses Regimes von Paris nach Berlin zu verlegen. Der Imperialismus ist die prostituierteste und zugleich die schließliche Form jener Staatsmacht, die von der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ins Leben gerufen war als das Werkzeug ihrer eignen Befreiung vom Feudalismus und die die vollentwickelte Bourgeoisgesellschaft verwandelt hatte in ein Werkzeug zur Knechtung der Arbeit durch das Kapital.

Der gerade Gegensatz des Kaisertums war die Kommune. Der Ruf nach der „sozialen Republik“, womit das Pariser Proletariat die Februarrevolution einführte, drückte nur das unbestimmte Verlangen aus nach einer Republik, die nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft beseitigen sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst. Die Kommune war die bestimmte Form dieser Republik.

Paris, der Mittelpunkt und Sitz der alten Regierungsmacht und gleichzeitig der gesellschaftliche Schwerpunkt der französischen Arbeiterklasse, Paris hatte sich in Waffen erhoben gegen den Versuch des Thiers und seiner Krautjunker, diese ihnen vom Kaisertum überkommne alte Regierungsmacht wiederherzustellen und zu verewigen. Paris konnte nur Widerstand leisten, weil es infolge der Belagerung die Armee losgeworden war, an deren Stelle es eine hauptsächlich aus Arbeitern bestehende Nationalgarde gesetzt hatte. Diese Tatsache galt es jetzt in eine bleibende Einrichtung zu verwandeln. Das erste Dekret der Kommune war daher die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk.

|339| Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbnen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Ämter hörten auf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt.

Das stehende Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen; sie dekretierte die Auflösung und Enteignung aller Kirchen, soweit sie besitzende Körperschaften waren. Die Pfaffen wurden in die Stille des Privatlebens zurückgesandt, um dort, nach dem Bilde ihrer Vorgänger, der Apostel, sich von dem Almosen der Gläubigen zu nähren. Sämtliche Unterrichtsanstalten wurden dem Volk unentgeltlich geöffnet und gleichzeitig von aller Einmischung des Staats und der Kirche gereinigt. Damit war nicht nur die Schulbildung für jedermann zugänglich gemacht, sondern auch die Wissenschaft selbst von den ihr durch das Klassenvorurteil und die Regierungsgewalt auferlegten Fesseln befreit.

Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.

Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. In einer kurzen |340| Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein, und daß das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d.h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden. Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen. Und es ist bekannt genug, daß Gesellschaften ebensogut wie einzelne, in wirklichen Geschäftssachen gewöhnlich den rechten Mann zu finden und, falls sie sich einmal täuschen, dies bald wieder gutzumachen wissen. Andrerseits aber konnte nichts dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische Investitur zu ersetzen.

Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfungen, für das Seitenstück älterer und selbst verlebter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehn zu werden, denen sie einigermaßen ähnlich sehn. So ist diese neue Kommune, die die moderne Staatsmacht bricht, angesehn worden für eine Wiederbelebung der mittelalterlichen Kommunen, welche jener Staatsmacht erst vorausgingen und dann ihre Grundlage bildeten. Die Kommunalverfassung ist versehn worden für einen Versuch, einen |341| Bund kleiner Staaten, wie Montesquieu und die Girondins ihn träumten, an die Stelle jener Einheit großer Völker zu setzen, die, wenn ursprünglich durch Gewalt zustande gebracht, doch jetzt ein mächtiger Faktor der gesellschaftlichen Produktion geworden ist. – Der Gegensatz der Kommune gegen die Staatsmacht ist versehn worden für eine übertriebne Form des alten Kampfes gegen Überzentralisation. Besondre geschichtliche Umstände mögen die klassische Entwicklung der Bourgeoisregierungsform, wie sie in Frankreich vor sich gegangen, in andren Ländern verhindert, und mögen gestattet haben, daß, wie in England, die großen zentralen Staatsorgane sich ergänzen durch korrupte Pfarreiversammlungen (vestries), geldschachernde Stadträte und wutschnaubende Armenverwalter in den Städten und durch tatsächlich erbliche Friedensrichter auf dem Lande. Die Kommunalverfassung würde im Gegenteil dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs „Staat“, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat. Durch diese Tat allein würde sie die Wiedergeburt Frankreichs in Gang gesetzt haben. – Die Mittelklasse der Provinzialstädte sah in der Kommune einen Versuch zur Wiederherstellung der Herrschaft, die sie unter Louis-Philippe über das Land ausgeübt hatte und die unter Louis Bonaparte verdrängt wurde durch die angebliche Herrschaft des Landes über die Städte. In Wirklichkeit aber hätte die Kommunalverfassung die ländlichen Produzenten unter die geistige Führung der Bezirkshauptstädte gebracht und ihnen dort, in den städtischen Arbeitern, die natürlichen Vertreter ihrer Interessen gesichert. – Das bloße Bestehn der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht. Es konnte nur einem Bismarck einfallen, der, wenn nicht von seinen Blut- und Eisenintrigen in Anspruch genommen, gern zu seinem alten, seinem geistigen Kaliber so sehr zusagenden Handwerk als Mitarbeiter am „Kladderadatsch“ zurückkehrt – nur einem solchen Kopf konnte es einfallen, der Pariser Kommune eine Sehnsucht unterzuschieben nach jener Karikatur der alten französischen Städteverfassung von 1791, der preußischen Städteordnung, die die städtischen Verwaltungen zu bloßen untergeordneten Rädern in der preußischen Staatsmaschinerie erniedrigt. – Die Kommune machte das Stichwort aller Bourgeoisrevolutionen – wohlfeile Regierung – zur Wahrheit, indem sie die beiden größten Ausgabequellen, die Armee und das Beamtentum, aufhob. Ihr bloßes Bestehn setzte das Nichtbestehn der Monarchie voraus, die, wenigstens in Europa, der regelrechte Ballast und der unentbehrliche Deckmantel der Klassenherr- |342| schaft ist. Sie verschaffte der Republik die Grundlage wirklich demokratischer Einrichtungen. Aber weder „wohlfeile Regierung“ noch die „wahre Republik“ war ihr Endziel; beide ergaben sich nebenbei und von selbst.

Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, daß sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.

Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und eine Täuschung. Die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehn neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht. Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.

Es ist eine eigentümliche Tatsache: Trotz all des großen Geredes und der unermeßlichen Literatur der letzten sechzig Jahre über Emanzipation der Arbeiter {5} – kaum nehmen die Arbeiter irgendwo die Sache in ihre eignen Hände, so ertönen auch sofort wieder die apologetischen Redensarten der Fürsprecher der jetzigen Gesellschaft mit ihren beiden Polen: Kapital und Lohnsklaverei (der Grundbesitzer ist jetzt nur noch der stille Gesellschafter des Kapitalisten), als lebte die kapitalistische Gesellschaft noch im Stande reinster jungfräulicher Unschuld, alle ihre Grundsätze {6} noch unentwickelt, alle ihre Selbsttäuschungen noch unenthüllt, alle ihre prostituierte Wirklichkeit noch nicht bloßgelegt! Die Kommune, rufen sie aus, will das Eigentum, die Grundlage aller Zivilisation, abschaffen! Jawohl, meine Herren, die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der vielen in den Reichtum der wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Enteigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt. – |343| Aber dies ist der Kommunismus, der „unmögliche“ Kommunismus! Nun, diejenigen Leute aus den herrschenden Klassen, die verständig genug sind, die Unmöglichkeit der Fortdauer des jetzigen Systems einzusehn und deren gibt es viele -, haben sich zu zudringlichen und großmäuligen Aposteln der genossenschaftlichen Produktion aufgeworfen. Wenn aber die genossenschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigne Leitung nehmen und der beständigen Anarchie und den periodisch wiederkehrenden Konvulsionen, welche das unvermeidliche Schicksal der kapitalistischen Produktion sind, ein Ende machen soll – was wäre das andres, meine Herren, als der Kommunismus, der „mögliche“ Kommunismus?

Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhre Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigne ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben. Im vollen Bewußtsein ihrer geschichtlichen Sendung {7} und mit dem Heldenentschluß, ihrer würdig zu handeln, kann die Arbeiterklasse sich begnügen, zu lächeln gegenüber den plumpen Schimpfereien der Lakaien von der Presse wie gegenüber der lehrhaften Protektion wohlmeinender Bourgeoisdoktrinäre, die ihre unwissenden Gemeinplätze und Sektierermarotten im Orakelton wissenschaftlicher Unfehlbarkeit abpredigen.

Als die Pariser Kommune die Leitung der Revolution in ihre eigne Hand nahm; als einfache Arbeiter zum erstenmal es wagten, das Regierungsprivilegium ihrer „natürlichen Obern“, der Besitzenden, anzutasten, und, unter Umständen von beispielloser Schwierigkeit, ihre Arbeit bescheiden, gewissenhaft und wirksam verrichteten – sie verrichteten für Gehalte, deren höchstes kaum ein Fünftel von dem war, was nach einem hohen wissenschaftlichen Gewährsmann (Professor Huxley) das geringste ist für einen Sekretär des Londoner Schulrats -, da wand sich die alte Welt in Wutkrämpfen |344| beim Anblick der roten Fahne, die, das Symbol der Republik der Arbeit über dem Stadthause wehte.

Und doch war dies die erste Revolution, in der die Arbeiterklasse offen anerkannt wurde als die einzige Klasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war; anerkannt selbst durch die große Masse der Pariser Mittelklasse – Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute -, die reichen Kapitalisten allein ausgenommen. Die Kommune hatte sie gerettet durch eine weise Erledigung jener immer wiederkehrenden Ursache des Streits unter der Mittelklasse selbst, der Frage zwischen Schuldnern und Gläubigern. Derselbe Teil der Mittelklasse hatte sich 1848 bei der Unterdrückung des Arbeiteraufstandes vom Juni beteiligt; und unmittelbar darauf war er durch die konstituierende Versammlung ohne alle Umstände seinen Gläubigern zum Opfer gebracht worden. Aber dies war nicht der einzige Grund, weswegen er sich jetzt an die Arbeiter anschloß. Er fühlte, daß es nur noch eine Wahl gab: die Kommune oder das Kaisertum, gleichviel unter welchem Namen. Das Kaisertum hatte diese Mittelklasse ökonomisch ruiniert durch seine Verschleuderung des öffentlichen Reichtums, durch den von ihm großgezognen Finanzschwindel, durch seine Beihülfe zur künstlich beschleunigten Zentralisation des Kapitals und die dadurch bedingte Enteignung eines großen Teils dieser Mittelklasse. Es hatte sie politisch unterdrückt, sie sittlich entrüstet durch seine Orgien, es hatte ihren Voltairianismus beleidigt durch Überlieferung der Erziehung ihrer Kinder an die „unwissenden Brüderlein „, es hatte ihr Nationalgefühl als Franzosen empört, indem es sie kopfüber in einen Krieg stürzte, der für alle die Verwüstung, die er anrichtete, nur einen Ersatz ließ – die Vernichtung des Kaisertums. In der Tat, nach der Auswanderung der hohen bonapartistischen und kapitalistischen Zigeunerbande aus Paris trat die wahre Ordnungspartei der Mittelklasse hervor als die „Union républicaine“, stellte sich unter die Fahne der Kommune und verteidigte sie gegen Thiers‘ absichtliche Entstellungen. Ob die Dankbarkeit dieser großen Masse der Mittelklasse die jetzigen schweren Prüfungen bestehn wird, bleibt abzuwarten.

Die Kommune hatte vollständig recht, als sie den Bauern zurief: „Unser Sieg ist eure Hoffnung!“ Von allen den Lügen, die in Versailles ausgeheckt und von den ruhmvollen europäischen Preßzuaven weiterposaunt wurden, war eine der ungeheuerlichsten die, daß die Krautjunker der Nationalversammlung die Vertreter der französischen Bauern seien. Man denke sich nur die Liebe des französischen Bauern für die Leute, denen er, nach 1815, eine Milliarde Entschädigung zahlen mußte! In den Augen des französischen Bauern ist ja schon die bloße Existenz eines großen |345| Grundbesitzers ein Eingriff in seine Eroberungen von 1789. Der Bourgeois hatte 1848 die Bodenparzelle des Bauern mit der Zuschlagssteuer von 45 Centimen auf den Franken belastet, aber er tat es im Namen der Revolution; jetzt hatte er einen Bürgerkrieg gegen die Revolution entzündet, um die Hauptlast der den Preußen bewilligten fünf Milliarden Kriegsentschädigung den Bauern aufzubürden. Die Kommune dagegen erklärte gleich in einer ihrer ersten Proklamationen, daß die wirklichen Urheber des Krieges auch dessen Kosten tragen müßten. Die Kommune würde dem Bauer die Blutsteuer abgenommen, ihm eine wohlfeile Regierung gegeben und seine Blutsauger, den Notar, den Advokaten, den Gerichtsvollzieher und andre gerichtliche Vampire, in besoldete Kommunalbeamte, von ihm selbst gewählt und ihm verantwortlich, verwandelt haben. Sie würde ihn befreit haben von der Willkürherrschaft des Flurschützen, des Gendarmen und des Präfekten; sie würde an Stelle der Verdummung durch den Pfaffen die Aufklärung durch den Schullehrer gesetzt haben. Und der französische Bauer ist vor allem ein Mann, der rechnet. Er würde es äußerst vernünftig gefunden haben, daß die Bezahlung des Pfaffen, statt von dem Steuereinnehmer eingetrieben zu werden, nur von der freiwilligen Betätigung des Frömmigkeitstriebs seiner Gemeinde abhängen solle. Dies waren die großen unmittelbaren Wohltaten, die die Herrschaft der Kommune – und sie nur – den französischen Bauern in Aussicht stellte. Es ist daher ganz überflüssig, hier näher einzugehn auf die verwickelteren wirklichen Lebensfragen, die die Kommune allein fähig und gleichzeitig gezwungen war, zugunsten des Bauern zu lösen – die Hypothekenschuld, die wie ein Alp auf seiner Parzelle lastete, das ländliche Proletariat, das täglich auf ihr heranwuchs, und seine eigne Enteignung von dieser Parzelle, die mit stets wachsender Geschwindigkeit durch die Entwicklung der modernen Ackerbauwirtschaft {8} und die Konkurrenz des kapitalistischen Bodenbaus sich durchsetzte.

Der französische Bauer hatte Louis Bonaparte zum Präsidenten der Republik gewählt, aber die Ordnungspartei schuf das zweite Kaisertum. Was der französische Bauer wirklich bedarf, fing er an, 1849 und 50 zu zeigen, indem er überall seinen Maire dem Regierungspräfekten, seinen Schullehrer dem Regierungspfaffen und sich selbst dem Regierungsgendarmen entgegenstellte. Alle von der Ordnungspartei im Januar und Februar 1850 erlassenen Gesetze waren eingestandene Zwangsmaßregeln gegen die Bauern. Der Bauer war Bonapartist, weil die große Revolution, mit all |346| ihren Vorteilen für ihn, in seinen Augen in Napoleon verkörpert war. Diese Täuschung, die unter dem zweiten Kaisertum rasch am Zusammenbrechen war (und sie war ihrer ganzen Natur nach den Krautjunkern feindlich), dies Vorurteil der Vergangenheit, wie hätte es bestehn können gegenüber dem Appell der Kommune an die lebendigen Interessen und dringenden Bedürfnisse der Bauern?

Die Krautjunker – dies war in der Tat ihre Hauptbefürchtung – wußten, daß drei Monate freien Verkehrs zwischen dem kommunalen Paris und den Provinzen einen allgemeinen Bauernaufstand zuwege bringen würden. Daher ihre ängstliche Eile, Paris mit einer Polizeiblockade zu umgeben und die Verbreitung der Rinderpest zu hemmen.

Wenn sonach die Kommune die wahre Vertreterin aller gesunden Elemente der französischen Gesellschaft war, und daher die wahrhaft nationale Regierung, so war sie gleichzeitig, als eine Arbeiterregierung, als der kühne Vorkämpfer der Befreiung der Arbeit, im vollen Sinn des Worts international. Unter den Augen der preußischen Armee, die zwei französische Provinzen an Deutschland annexiert hatte, annexierte die Kommune die Arbeiter der ganzen Welt an Frankreich.

Das zweite Kaisertum war das Jubelfest der kosmopolitischen Prellerei gewesen, die Hochstapler aller Länder waren auf seinen Ruf herzugestürzt, teilzunehmen an seinen Orgien und an der Ausplünderung des französischen Volks. Selbst in diesem Augenblick noch ist Thiers‘ rechte Hand Ganesco, der walachische Lump, und seine linke Hand Markowski, der russische Spion. Die Kommune ließ alle Fremden zu zu der Ehre, für eine unsterbliche Sache zu fallen. – Zwischen dem durch ihren Verrat verlornen auswärtigen Krieg und dem durch ihre Verschwörung mit dem fremden Eroberer entzündeten Bürgerkrieg hatte die Bourgeoisie Zeit gefunden, ihren Patriotismus durch die Organisation von Polizeijagden auf die Deutschen in Frankreich zu betätigen. Die. Kommune machte einen Deutschen zu ihrem Arbeitsminister |Leo Frankel|. – Thiers, die Bourgeoisie, das zweite Kaisertum hatten Polen immerfort durch laute Verheißungen der Teilnahme getäuscht, während sie in Wirklichkeit es an Rußland verrieten und Rußlands schmutzige Arbeit verrichteten. Die Kommune ehrte die Heldensöhne Polens, indem sie sie an die Spitze der Verteidigung von Paris stellte |Jaroslaw Dombrowski und Walery Wróblewski|. Und, um ganz unverkennbar die neue geschichtliche Ära zu bezeichnen, die sie einzuleiten sich bewußt war, warf die Kommune, unter den Augen, hier der siegreichen Preußen, dort der von bonapartistischen Generalen geführten bonaparti- |347| stischen Armee, das kolossale Symbol des Kriegsruhms nieder, die Vendôme-Säule.

Die große soziale Maßregel der Kommune war ihr eignes arbeitendes Dasein. Ihre besondern Maßregeln konnten nur die Richtung andeuten, in der eine Regierung des Volks durch das Volk sich bewegt. Dahin gehören die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäckergesellen; das Verbot, bei Strafe, der bei Arbeitgebern üblichen Praxis, den Lohn herabzudrücken durch Auferlegung von Geldstrafen auf die Arbeiter unter allerlei Vorwänden – ein Verfahren, wobei der Arbeitgeber in einer Person Gesetzgeber, Richter und Vollstrecker ist und obendrein das Geld einsteckt. Eine andre Maßregel dieser Art war die Auslieferung von allen geschlossenen Werkstätten und Fabriken an Arbeitergenossenschaften, unter Vorbehalt der Entschädigung, gleichviel, ob der betreffende Kapitalist geflüchtet war oder aber vorzog, die Arbeit einzustellen.

Die finanziellen Maßregeln der Kommune, ausgezeichnet durch ihre Einsicht und Mäßigung, konnten sich nur auf solche beschränken, die mit der Lage einer belagerten Stadt verträglich waren. In Anbetracht der ungeheuren Diebstähle, begangen an der Stadt Paris durch die großen Finanzkompanien und Bauunternehmer unter Haussmanns Herrschaft, hätte die Kommune ein weit größeres Recht gehabt, ihr Eigentum zu konfiszieren, als Louis Bonaparte das der Familie Orléans. Die Hohenzollern und die englischen Oligarchen, die beide ein gutes Stück ihrer Besitzungen von geraubtem Kircheneigentum herleiten, waren natürlich höchst entrüstet über die Kommune, die aus der Säkularisation nur 8.000 Franken profitierte. Während die Versailler Regierung, sobald sie wieder zu etwas Mut und Stärke gekommen, die gewaltsamsten Mittel gegen die Kommune anwandte; während sie die freie Meinungsäußerung über ganz Frankreich unterdrückte und sogar Versammlungen von Delegierten der großen Städte verbot; während sie Versailles und das übrige Frankreich einer Spionage, weit schlimmer als die des zweiten Kaisertums, unterwarf; während sie durch ihre Gendarmen-Inquisitoren alle in Paris gedruckten Zeitungen verbrannte und alle Briefe von und nach Paris erbrach; während in der Nationalversammlung die furchtsamsten Versuche, ein Wort für Paris zu verlautbaren, niedergeheult wurden in einer, selbst in der Junkerkammer von 1816 unerhörten Weise; während der blutdürstigen Kriegführung der Versailler außerhalb und ihrer Versuche der Bestechung und Verschwörung innerhalb Paris – hätte da die Kommune nicht ihre Stellung schmählich verraten, wenn sie alle Anstandsformen des Liberalismus, wie im tiefsten Frieden, beobachtet hätte? Wäre die Regierung der Kommune der des Herrn Thiers verwandt |348| gewesen, es wäre ebensowenig Veranlassung dagewesen, Ordnungsparteiblätter in Paris wie Kommunalblätter in Versailles zu unterdrücken.

Es war in der Tat ärgerlich für die Krautjunker, daß gerade um die Zeit, wo sie die Rückkehr zur Kirche als einziges Mittel zur Rettung Frankreichs erklärten, die ungläubige Kommune die eigentümlichen Geheimnisse des Nonnenklosters Picpus und der Kirche St. Laurent aufdeckte. Es war eine Satire auf Thiers, daß, während er Großkreuze auf die bonapartistischen Generale regnen ließ für ihre Meisterschaft im Schlachtenverlieren, Kapitulationsunterzeichnen und Wilhelmshöher Zigarettendrehen, die Kommune ihre Generale absetzte und verhaftete, sobald sie der Vernachlässigung ihres Dienstes verdächtig waren. Die Ausstoßung und Verhaftung eines Mitgliedes |Blanchet|, das sich unter falschem Namen eingeschlichen und früher in Lyon sechs Tage Gefängnis wegen einfachen Bankerotts erlitten hatte – war sie nicht eine vorbedachte Beleidigung, ins Gesicht geschleudert dem Fälscher Jules Favre, damals noch immer auswärtiger Minister Frankreichs, noch immer Frankreich verkaufend an Bismarck, noch immer Befehle diktierend jener unvergleichlichen belgischen Regierung? Aber in der Tat, die Kommune machte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie dies alle die alten Regierungen ohne Ausnahme tun. Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten.

In jeder Revolution drängen sich, neben ihren wirklichen Vertretern, Leute andern Gepräges vor. Einige sind die Überlebenden früherer Revolutionen, mit denen sie verwachsen sind; ohne Einsicht in die gegenwärtige Bewegung, aber noch im Besitz großen Einflusses auf das Volk durch ihren bekannten Mut und Charakter oder auch durch bloße Tradition. Andre sind bloße Schreier, die, jahrelang dieselben ständigen Deklamationen gegen die Regierung des Tages wiederholend, sich in den Ruf von Revolutionären des reinsten Wassers eingeschlichen haben. Auch nach dem 18. März kamen solche Leute zum Vorschein und spielten sogar in einigen Fällen eine hervorragende Rolle. Soweit ihre Macht ging, hemmten sie die wirkliche Aktion der Arbeiterklasse, wie sie die volle Entwicklung jeder frühern Revolution gehemmt haben. Sie sind ein unvermeidliches Übel; mit der Zeit schüttelt man sie ab; aber gerade diese Zeit wurde der Kommune nicht gelassen. Wunderbar in der Tat war die Verwandlung, die die Kommune an Paris vollzogen hatte! Keine Spur mehr von dem buhlerischen Paris des zweiten Kaisertums. Paris war nicht länger der Sammelplatz von britischen Grundbesitzern, irischen Absentees, amerikanischen Ex-Sklavenhaltern und |349| Emporkömmlingen, russischen Ex-Leibeignenbesitzern und walachischen Bojaren. Keine Leichen mehr in der Morgue, keine nächtlichen Einbrüche und fast keine Diebstähle mehr; seit den Februartagen von 1848 waren die Straßen von Paris wirklich einmal wieder sicher, und das ohne irgendwelche Polizei.

„Wir“, sagte ein Mitglied der Kommune, „wir hören jetzt nichts mehr von Mord, Raub und Tätlichkeiten gegen Personen: es scheint in der Tat, als ob die Polizei alle ihre konservativen Freunde mit nach Versailles geschleppt habe.“

Die Kokotten hatten die Fährte ihrer Beschützer wiedergefunden – der flüchtigen Männer der Familie, der Religion und vor allem des Eigentums. An ihrer Stelle kamen die wirklichen Weiber von Paris wieder an die Oberfläche – heroisch, hochherzig und aufopfernd wie die Weiber des Altertums. Paris, arbeitend, denkend, kämpfend, blutend, über seiner Vorbereitung einer neuen Gesellschaft fast vergessend der Kannibalen vor seinen Toren, strahlend in der Begeisterung seiner geschichtlichen Initiative!

Und nun, gegenüber dieser neuen Welt in Paris, siehe da die alte Welt in Versailles – diese Versammlung der Ghuls aller verstorbnen Regimes, Legitimisten und Orleanisten, gierig, vom Leichnam der Nation zu zehren – mit einem Schwanz vorsintflutlicher Republikaner, die durch ihre Gegenwart in der Versammlung der Sklavenhalter-Rebellion zustimmten, die die Erhaltung ihrer parlamentarischen Republik von der Eitelkeit des bejahrten Pickelhärings an der Spitze der Regierung erhofften und 1789 karikierten durch Abhaltung ihrer gespensterhaften Versammlungen im Jeu de Paume (Ballspielhaus, wo die Nationalversammlung von 1789 ihre berühmten Beschlüsse faßte). Da war sie, diese Versammlung, die Vertreterin von allem, was abgestorben war in Frankreich, aufgestützt zur Positur scheinbaren Lebens durch nichts als die Säbel der Generale von Louis Bonaparte. Paris ganz Wahrheit, Versailles ganz Lüge, und diese Lüge losgelassen durch den Mund Thiers‘.

Thiers sagt einer Deputation der Bürgermeister des Seine und Oise-Departements:

„Sie können sich auf mein Wort verlassen, das ich nie gebrochen habe!“

Der Versammlung selbst sagte er, sie sei „die freiestgewählte und liberalste Versammlung, die Frankreich je besessen“; seiner buntgemischten Soldateska, sie sei „die Bewunderung der Welt und die schönste Armee, die Frankreich je gehabt“; den Provinzen, das Bombardement von Paris sei ein Märchen:

|350| „Wenn einige Kanonenschüsse gefallen sind, so geschah das nicht durch die Versailler Armee, sondern durch einige Insurgenten, die glauben machen wollen, sie schlügen sich, wo sie sich doch nirgends zu zeigen wagen.“

Dann wieder sagt er den Provinzen:

„Die Artillerie von Versailles bombardiert Paris nicht, sie kanoniert es bloß.“

„Die Artillerie von Versailles bombardiert Paris nicht, sie kanoniert es bloß.“

Dem Erzbischof von Paris sagt er, die den Versailler Truppen nach erzählten Erschießungen und Repressalien(!) seien lauter Lügen. Er verkündet an Paris, er beabsichtigte nur, „es von den scheußlichen Tyrannen zu befreien, die es bedrücken“, und das Paris der Kommune sei in der Tat „nur eine Handvoll Verbrecher“.

Das Paris des Thiers war nicht das wirkliche Paris der „schoflen Menge“, sondern ein Phantasie-Paris, das Paris der Francs-fileurs, das Paris der Boulevards, männlich wie weiblich, das reiche, das kapitalistische, das vergoldete, das faulenzende Paris, das sich jetzt mit seinen Lakaien, seinen Hochstaplern, seiner literarischen Zigeunerbande und seinen Kokotten in Versailles, Saint-Denis, Rueil und Saint-Germain drängte; für das der Bürgerkrieg nur ein angenehmes Zwischenspiel war; das den Kampf durchs Fernglas betrachtete, die Kanonenschüsse zählte und bei seiner eignen Ehre und der seiner Huren schwor, das Schauspiel sei unendlich besser arrangiert, als es im Theater der Porte Saint-Martin je gewesen. Die Gefallnen waren wirklich tot, das Geschrei der Verwundeten war kein bloßer Schein; und dann, wie welthistorisch war nicht die ganze Sache!

Dies ist das Paris des Herrn Thiers, ganz wie die Emigration von Koblenz das Frankreich des Herrn von Calonne war“

Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Geschichte schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind.

Der Generalrat:

M. J .Boon, Fred. Bradnick, G. H. Buttery, Caihil, William Hales, Kolb, Fred. Leßner, G. Milner, Thomas Mottershead, Charles Murray, Pfänder, Roach, Rühl, Sadler, Cowell Stepney, Alf. Taylor, W. Townshend [1]In der dritten englischen Ausgabe von 1871 sind noch folgende Mitglieder des Generalrats angeführt: Delahaye, A. Herman, Lochner, J. P. Mac Donnel, Ch. Mills, Rochat und A. Serraillier.

Korrespondierende Sekretäre:

Eugene Dupont, für Frankreich – Karl Marx, für Deutschland und Holland – Friedrich Engels, für Belgien und Spanien – Hermann Jung, für die Schweiz – P. Giovacchini, für Italien – Zévy Maurice, für Ungarn – Antoni Zabicki, für Polen – J. Cohen, für Dänemark – J. G. Eccarius, für die Vereinigten Staaten

Hermann Jung, Vorsitzender – John Weston, Schatzmeister – Georg Harris, Finanzsekretär – John Hales, Generalsekretär

256, High Holborn, London, W. C.
30. Mai 1871


Quelle:

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 17, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 313-365.

Geschrieben April/Mai 1871.
Erstmalig in englischer Sprache veröffentlicht als Broschüre in London, Juni 1871.
Erstmalig in deutscher Sprache veröffentlicht in „Der Volksstaat“, Leipzig, vom 28. Juni bis 29. Juli 1871 und als Separatabdruck aus dem „Volksstaat“, Leipzig 1871.
Der vorliegende Abdruck entspricht der letzten, von Friedrich Engels besorgten Auflage in deutsche Sprache, Berlin 1891.


Einleitung (Ausgabe 1891)

References

References
1 In der dritten englischen Ausgabe von 1871 sind noch folgende Mitglieder des Generalrats angeführt: Delahaye, A. Herman, Lochner, J. P. Mac Donnel, Ch. Mills, Rochat und A. Serraillier.