Gorillas: Das Streikrecht nicht länger auf den Abschluss von Tarifverträgen beschränken!

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Am Dienstag, den 25. April 2023 um 11:00 Uhr wurden vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg drei Kündigungen verhandelt, die der Lieferdienst Gorillas wegen Teilnahme an einem verbandsfreien Streik ausgesprochen hat. Wir haben in dieser Instanz verloren. Wir werden aber weiter machen. Das Streikrecht muss von seinen schlimmen Prägungen aus der Zeit des Faschismus befreit werden. Um was geht es im Einzelnen? Dazu nehmen wir im Folgenden Stellung.

Das zentrale Argument zur Rechtfertigung dieser Kündigungen lautet: Das Streikrecht sei allein auf den Abschluss von Tarifverträgen ausgerichtet.

Daraus wird einerseits abgeleitet: Der politische Streik sei verboten, weil er eben nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen, sondern auf staatliches Handeln, auf Gesetze gerichtet ist. Und andererseits soll sich daraus das Verbot des verbandsfreien Streiks ergeben: Weil das Streikrecht allein auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sei und nur Gewerkschaften Tarifverträge abschließen können, sei es auch nur Gewerkschaften erlaubt zu streiken.

Es liegt uns ganz fern, die Notwendigkeit starker Gewerkschaften in Frage zu stellen. Nur sie sind mächtig genug, Tarifverträge mit den Unternehmern durchzusetzen. Wir stellen nicht in Frage, dass Tarifverträge, die ähnlich wie Gesetze wirken, nur Gewerkschaften abschließen können sollen.

Streik auf Kampf um Tarife beschränken?

Unsere Frage ist eine ganz andere: Soll das Recht zu streiken allein auf dieses Ziel beschränkt sein? Sollen die abhängig Beschäftigten nur streiken dürfen, wenn der Streik einen Tarifvertrag zum Ziel hat? Soll es in einem Streik immer nur um Tarifverträge gehen dürfen? Unsere Antwort lautet: Nein, Arbeitsniederlegungen dürfen nicht auf dieses Ziel eingegrenzt werden.

Wenn die Beschäftigten von Gorillas empört sind, dass ihre Löhne unpünktlich und unvollständig bezahlt werden, und sie das nicht länger hinnehmen wollen und für die Zukunft eine Vertragsstrafe fordern, damit Gorillas endlich für alle die Löhne pünktlich und vollständig zahlt, und wenn sie deswegen die Arbeit niederlegen, dann muss das erlaubt sein, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten von Gorillas extrem schwer ist, weil über die Hälfte der dort Beschäftigten sogenannte “Working-Holiday”-Visa haben und nach einem halben Jahr deswegen den Arbeitgeber wechseln müssen. Jedes halbe Jahr ist also die halbe Belegschaft eine andere.

Die Beschäftigten haben nicht das Ziel gehabt, Tarifverträge abzuschließen. Sie wollten eine pünktliche und vollständige Bezahlung ihrer Löhne sicherstellen und sie wollten auch, dass die Ungleichbehandlung aufhört; denn für dieselbe Tätigkeit bekamen die einen 10,50 € und die andern 12 €. Nach dem Streik im Oktober wurde tatsächlich für alle 12,00 € abgerechnet. Es geht also. Und es kann auch keine Gewerkschaft etwas dagegen haben, wenn auf diese Weise die Löhne bei Gorillas angeglichen werden.

Es ist im Übrigen ja auch nichts Ungewöhnliches, wenn ein Beschäftigter mit seinem Lohn unzufrieden ist und zu seinem Chef geht und sagt “Hey Boss ich brauch mehr Geld”, wie schon vor Jahren Gunter Gabriel sang. Es kommt auch vor, dass mehrere Beschäftigte gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, dass sie mehr Geld brauchen und das auch ihrem Chef sagen. Nur streiken sollen sie nicht dürfen. Das wollen wir nicht hinnehmen.

Beschränkung richtet sich gegen Gewerkschaften

Wichtig ist dabei auch der folgende Zusammenhang, den wir schon angedeutet haben, aber noch einmal hervorheben wollen: Wenn die herrschende Rechtsprechung den Streik ausschließlich auf den Abschluss von Tarifverträgen ausrichtet, geht es nicht nur um verbandsfreie Streiks. Es geht nicht nur um abhängig Beschäftigte, die ohne Aufruf der Gewerkschaften streiken und deswegen nach der herrschenden Rechtsprechung rechtswidrig handeln. Nein, es geht dabei immer auch um die Gewerkschaften. Die Ausrichtung des Streiks allein auf den Abschluss von Tarifverträgen richtet sich in aller erster Linie gegen die Gewerkschaften.

Wollen die Gewerkschaften für ein Ziel streiken, das nicht in einem Tarifvertrag besteht, dann soll ihnen das nach der herrschenden Rechtsprechung verboten sein. Wenn die Gewerkschaften gegen die 10 Morde in Hanau, wenn sie gegen Hochrüstung und Krieg, wenn sie gegen die Aufheizung des Klimas während der Arbeit protestieren wollen, soll Ihnen das verboten sein. Sie verstoßen dann gegen das Dogma, dass Streiks nur erlaubt sind, wenn sie auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Wenn sie gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalter sind – immerhin geht es hier um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit – sollen sie nur außerhalb des Betriebes demonstrieren dürfen. Sie sollen im Betrieb stillhalten. Sie können ja eine Presseerklärung veröffentlichen.

Beschränkung ist politische Unterwerfung

Mit dieser Beschränkung der Autonomie der Gewerkschaften auf die Tarifautonomie, werden die Gewerkschaften der Politik der Regierenden unterworfen, welche Politik das auch immer ist.

Die herrschende Politik drückt sich in Regierungshandeln aus und wird in Gesetzen geregelt, aber nicht in Tarifverträgen, die mit Unternehmen abgeschlossen werden. Sicher gibt es Dinge, die durch Gesetze und Tarifverträge geregelt werden können und auch geregelt werden. Zum Beispiel die Arbeitszeit. Dann können Gewerkschaften über bessere Tarifverträge, die sie mit den Arbeitgebern abschließen, schlechte Gesetze unterlaufen – soweit die gewerkschaftliche Kraft reicht. Aber weite Teile der Politik entziehen sich der Regelung durch Tarifverträge. Wir haben ja schon Beispiele aufgezählt: Das viel zu zögerliche Handeln der Politik gegen die Klimaaufheizung, Aufrüstung und Krieg, die Morde von Kolleginnen und Kollegen durch Neonazis in Hanau, die die Politik nicht unterband.

Auch wenn die Regierung eine Erhöhung des Renteneintrittsalters für alle von 65 auf 67 Jahre durch Gesetz erzwingen will, muss es möglich sein, gegen dieses Gesetz während der Arbeitszeit zu demonstrieren.

Wir müssen nur auf unser Nachbarland Frankreich schauen und wissen, was gemeint ist. Wir müssen nur vergleichen, wie die Gewerkschaften in Deutschland reagiert haben, als unter der Schröder-Regierung ein Gesetz beschlossen wurde, das das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöhte, und wie das französische Volk in den letzten Monaten auf die Erhöhung des Renteneintrittsalters durch Macron reagierte. Manche sagen, das ist in Frankreich eben eine andere Kultur, die Franzosen sind eben anders usw. usw. Aber der entscheidende Punkt ist ein ganz anderer, der entscheidende Punkt ist das Streikrecht. Die Gewerkschaften haben Angst, mit Schadenersatz-Forderungen überzogen zu werden, wenn sie streiken würden wie die Franzosen. Was in Frankreich erlaubt ist, ist in Deutschland verboten.

Streik und Demokratie

Manche behaupten, gegen die Regierung zu streiken, sei undemokratisch. Aber wollen wir denn im Ernst behaupten, die Deutschen seien die besseren Demokraten als die Franzosen? Es ist ja in Deutschland noch nicht einmal der politsche Demonstrationsstreik erlaubt, der sich dadurch vom Erzwingungsstreik unterscheidet, dass er maximal auf einen Tag begrenzt ist. Nein, es ist genau umgekehrt: Nicht der politische Streik in Frankreich ist undemokratisch, das Verbot des politischen Streiks in Deutschland ist undemokratisch. Denn Demokratie heißt nicht nur, alle paar Jahr den Stimmzettel abgeben, Demokratie heißt: Teilnahme am politischen Prozess.

In einem ersten Schritt muss der politische Demonstrationsstreik erlaubt werden. Weder die Beklagte noch die Rechtsprechung kann die Einschränkung des Streikrechts in Deutschland begründen. Und das, obwohl meiner Meinung nach das Streikrecht das wichtigste Freiheitsrecht überhaupt ist.

Gewerkschaften als Gegenmacht stärken

Es gibt nur eine Begründung des Bundesarbeitsgerichts zum Verbot des verbandsfreien Streiks: Das ist die Entscheidung von 1963. Die Grundlage ist eine Entscheidung des großen Senats aus dem Jahr 1955, die geprägt ist von der Formel: Streiks sind „im allgemeinen unerwünscht“. Diese Formulierung zitiert das Bundesarbeitsgericht acht Jahre später und meint, es sei wichtig, Kontrollen zu haben, „dass nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt wird.“[1]BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 3. e., S. 31 Um das sicherzustellen, solle es nur den Gewerkschaften erlaubt sein, zum Streik aufzurufen. Die Gewerkschaft nicht als Vertreterin, sondern als Kontrolleurin der abhängig Beschäftigten, die Gewerkschaft als Ordnungsfaktor – in wessen Interesse? Gewerkschaften können sich nur als Gegenmacht behaupten.

Die IG Metall hat schon vor Jahrzehnten in einem ihrer Geschäftsberichte zur Illegalisierung des verbandsfreien Streiks durch die Rechtsprechung festgestellt: “Im Gewande eines angebliche Streikmonopols der Gewerkschaften werden so die Gewerkschaften zwischen die Stühle gebracht und die Kollegen, die an spontanen Arbeitsniederlegungen teilgenommen haben, der Willkür der Unternehmer ausgesetzt.”[2]M. Kittner „Arbeitskampf“, München, 2005, S. 685

Zusammenfassung

Unsere Argumente für das Recht auf den verbandsfreien und politischen Streik:

1.1. Die Beschränkung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen verstößt gegen den Wortlaut der Artikel 9 Abs. 3 GG (siehe 1.2), gegen die Historie der Rechtsprechung zu diesem Grundrechts (siehe 1.2, 1.4), gegen das Demokratie – und Sozialstaatsgebot der Art. 20 GG (siehe 1.3) und gegen das Völkerrecht (siehe 1.5).

1.2. Die Beschränkung auf den Abschluss von Tarifverträgen setzt sich über den Wortlaut dieses Grundrechts hinweg. Art. 9 Abs. 3 GG spricht nicht von Gewerkschaften, sondern von “Vereinigungen”, nicht von dem Abschluss von Tarifverträgen, sondern von der “Wahrung und Förderung der Arbeits – und Wirtschaftsbedingungen”. Eine Beschränkung auf tariflich regelbare Bedingungen ist daraus nicht zu entnehmen. Werden sämtliche Arbeits – und Wirtschaftsbedingungen, die nicht tariflich regelbar sind, zu einem Tabu für gewerkschaftliches Handeln erklärt und selbst ein Demonstrationsstreik von nur wenigen Stunden illegalisiert, dann ist das eine schwerwiegende Schwächung der Gewerkschaften, die nicht mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist.

1.3. Die ausschließliche Ausrichtung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen ist auch nicht mit der Demokratie – und Sozialstaatsgarantie des Art 20 GG Grundgesetzes vereinbar. Diese Garantie ist auf aktive Teilnahme am politischen Prozess der Gestaltung der Arbeits – und Wirtschaftsbedingungen gerichtet und beschränkt sich nicht auf Wahlen.

1.4. Dagegen wird das Streikrecht mit der Beschränkung auf den Abschluss von Tarifverträgen in eine antidemokratische Tradition gestellt, mit denen das befreite Deutschland in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg nichts mehr zu tun haben wollte. Die Weimarer Republik kannte zwar ganz erhebliche Einschränkungen des Streikrechts, aber nicht die Beschränkung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen und damit das Verbot von verbandsfreien und politischen Streiks. Diese Beschränkung hat ihre Wurzeln im Faschismus, der die Gewerkschaften vollständig zerschlug und jeden Streik strikt unterband.

1.5. Dazu passt die fortgesetzte Verletzung des Völkerrechts. Das Völkerrecht kennt keine ausschließlich Ausrichtung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen und gewerkschaftlich getragene Streiks. Art. 6 Nr. 4 ESC ist bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzuziehen; das gilt auch für die anderen einschlägigen völkerrechtlichen Verträge. Es gilt der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.

1.6 Zwischenfazit: Die Urteile des Landesarbeitsgerichts und Arbeitsgerichts müssen aufgehoben werden. Es muss die Unwirksamkeit der Kündigungen festgestellt werden.

2. Das Landesarbeitsgericht hätte die rechtliche Überprüfung durch das Bundesarbeitsgericht (Revision) zulassen müssen. Dies aus den folgenden beiden Gründen

2.1 Das Bundesarbeitsgericht hat noch nie geprüft, ob verbandsfreie Streiks durch das Grundrecht auf Streik geschützt sind und mit welchen Gründen es eine Kündigung wegen Teilnahme an einem solchen Streik rechtfertigen will. Daher helfen Verweise auf Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts nicht weiter.

2.2 Zudem erschweren die besonderen Umstände des vorliegenden Falles einen gewerkschaftlichen Streik in einem solchen Ausmaß, dass von einem Streikrecht nicht mehr gesprochen werden kann. Das ist nicht nur ein Verletzung des Streikrechts, das für Migrantinnen und Migranten ebenso gilt wie für alle anderen Beschäftigten, sondern auch eine Ungleichbehandlung, für die es ebenfalls keine Rechtfertigung gibt.

Fazit:

Wir werden beim Bundesarbeitsgericht Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einlegen

References

References
1 BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 3. e., S. 31
2 M. Kittner „Arbeitskampf“, München, 2005, S. 685