Streik(un)recht in Deutschland: Drei Fragen – drei Antworten

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RA Benedikt Hopmann wurden drei Fragen zum Urteil des Landesarbeits gegen „wilde“ Gorillas-Streiks gestellt. Hier können die Fragen und Antworten gelesen werden.

1. Kurze Einführung der Fragesteller:

Letzten Monat bestätigte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Kündigungen gegen Gorillas-Beschäftigte, die 2021 gegen den Lieferdienst gestreikt hatten. Damit rückte erneut das – weitgehend auf „Richterrecht“ beruhende – Streikrecht in Deutschland in den Fokus, das „politische Streiks“ ebenso wie „wilde Streiks“ (d.h. Streik ohne Aufruf einer Gewerkschaft) illegalisiert.

Wir haben dazu Rechtsanwalt Benedikt Hopmann (Berlin) interviewt, der sich nicht nur für die Gorilla-Beschäftigten engagiert, sondern auch gegen die massiven Einschränkungen des Streikrechts durch die deutsche Rechtsprechung. Hier sei insbesondere die „Kampagne für ein umfassendes Streikrecht“ genannt (https://rechtaufstreik.noblogs.org/), die er unterstützt.

Für diese Kampagne sind Anke, Alex und andere verantwortlich. RA Benedikt Hopmann und RA Reinhold Niemerg sind für die anwaltliche Vertretung der drei Gorillas-Beschäftigten zuständig. Diesen drei Beschäftigten wurde gekündigt, weil sie an einem verbandsfreien Streik, also an einem Streik teilgenommen hatten, zu dem keine Gewerkschaft aufgerufen und den auch keine Gewerkschaft nachträglich übernommen hatte. Die drei Gorillas-Beschäftigten haben gegen ihre Kündigung Klage eingereicht.

2. Die drei Fragen und die drei Antworten:

Frage: Kannst du kurz darstellen, wofür die Gorilla-Beschäftigten gestreikt haben und unter welchen Umständen ihr Kampf erfolgte?

Den Gorillas Beschäftigten wurden die Löhne unpünktlich und unvollständig bezahlt. Außerdem erhielten für dieselbe Arbeit die einen 10,50 € und die anderen 12,00 €. Dagegen richtete sich ihr Streik. Die Beschäftigten kamen aus allen Ländern der Welt. 50 Prozent verfügten nur über eine sogenanntes working-holiday Visum, das eine Beschäftigug durch denselben Arbeitgeber nur für ein halbes Jahr erlaubt. Die übrigen waren ganz überwiegend auf ein Jahr befristet beschäftigt. Unter diesen Umständen war es unmöglich, einen von der Gewerkschaft als aureichend akzeptierten Organisationsgrad zu erreichen. Beschäftigten unter diesen Umständen nur den gewerkschaftlichen Streik zu erlauben, kommt einem Streikverbot zumindest sehr nahe.

Frage: Wie ist das, auch historisch, einzuordnen, dass ausgerechnet prekär Beschäftigten das Streikrecht verweigert wird, wenn keine Gewerkschaft den Streik „adoptiert“?

Nach herrschender Meinung sollen alle Streiks, die nicht einen Tarifabschluss zum Ziel haben, verboten sein. Das ist das entscheidende Dogma: Gestreikt werden darf nur, wenn der Streik auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet ist.

Dieses Verbot trifft auch verbandsfreie Streiks, wie den, den die Gorillas-Beschäftigten organisierten.

Tarifverträge wirken unmittelbar und zwingend, also wie Gesetze. Dass die Rechtsprechung für den Abschluss von solchen Tarifverträgen eine ausreichende Organisationsmacht verlangt, haben wir nicht angegriffen und solche Tarifverträge waren auch nicht das Ziel des Streiks der Gorillas-Beschäftigten. Also können auch nicht die Maßstäbe angelegt werden, die für den Kampf um Tarifverträgen entwickelt wurden. Wie sich zeigte, war ein Tarifvertrag auch gar nicht notwendig, um das Ziel der Gorillas-Beschäftigten zu erreichen. Das sahen die Beschäftigten einen Monat später auf ihrer Lohnabrechnung: Alle Beschäftigten mit derselbenTätigkeit bekamen 12,00 € – ohne dass dies durch einen Tarifvertrag vereinbart worden war. Natürlich ist ein Tarifvertrag besser als so eine einseitige Lohnangleichung von Unternehmensseite. Aber es ist auch mehr als nichts, wenn ein Unternehmen in dieser Weise den Forderungen der Beschäftigten nachgibt.

Die herrschende Meinung, die Streiks nur erlaubt, wenn sie auf einen Tarifvertrag gerichtet sind, trifft auch unmittelbar die Gewerkschaften: Wenn die Gewerkschaften gegen eine Entscheidung der Regierung oder des Parlaments streiken, dann geht es offensichtlich nicht um einen Tarifvertrag, der ja mit den Unternehmern oder deren Verbänden abgeschlossen wird. Die herrschende Lehre schließt daraus, dass auch der politische Streik verboten ist.

Das Dogma, dass Streiks an den Abschluss von Tarifverträgen gebunden sein sollen, geht auf ein Gutachten zurück, das der Jurist Hans Carl Nipperdey nach dem sogenannten Zeitungsstreik erstellte. Der Streik hatte 1952 dazu geführt, dass zwei Tage lang keine einzige Tageszeitung erschien. Die Gewerkschaften hatten damit gegen die Verschlechterungen in dem Betriebsverfassungsgesetz, das die Bundesregierung plante, protestiert. Der Bund Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) war gegen diesen Zeitungsstreik vor Gericht gegangen und hatte Hans Carl Nipperdey mit einem Gutachten beauftragt. Wolfgang Abendroth erstellte das Gutachten für die Gewerkschaften. Hans Carl Nipperdey hatte während der Nazizeit das faschistische Arbeitsrecht “Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG)” kommentiert. Wolfgang Abendroth war in dieser Zeit im Widerstand auf Seiten der griechischen Partisanen gewesen. Alle Gerichte richteten sich nach dem Gutachten von Nipperdey und nur das Landesarbeitsgericht entschied auf dieser Grundlage, dass der Streik legal war. Das Bundesarbeitsgericht existierte damals noch nicht und konnte also in dieser Sache nicht entscheiden. Zum politischen Streik gibt es bis heute keine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts.

Wer mehr über diesen Hans Carl Nipperdey wissen will, wird fündig unter https://widerstaendig.de/wer-war-hans-carl-nipperdey/

Wer wer mehr über die faschistischen Einflüsse in Betriebsverfassungsgesetz und Streikrecht wissen will, kann nachlesen unter: https://widerstaendig.de/faschistische-einfluesse-in-betriebsverfassung-und-streikrecht/

Frage: Streiks (wie zurzeit in Frankreich) gegen Regierungsentscheidungen sind verboten (Adenauer nannte das „Parlamentsnötigung“), Beamte dürfen überhaupt nicht streiken. Wie dagegen handeln in den Gewerkschaften?

Zum Verbot des Beamtenstreiks zunächst ein Beispiel: Mehrere tausend Beamtinnen und Beamte hatten sich vor einigen Jahren in Hessen an einem Streik beteiligt, obwohl sie wussten, dass der Beamtenstreik verboten ist. Deswegen wurden sie sanktioniert und dagegen haben die Sanktionierten geklagt. Das ging durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht. Jetzt wird die Sache vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verhandelt. Wie auch immer der Europäische Gerchtshof entscheidet: seine Urteile legen nur Mindeststandards fest. In Frankreich ist zum Beispiel jetzt schon der Beamtenstreik in viel größerem Ausmaß erlaubt als in Deutschland. Die einzelnen Länder sind also vollkommen frei, den Beschäftigten ein weiter gehendes, besseres Streikrecht einzuräumen.

Der Verlauf dieser gerichtlichen Auseinandersetzung zeigt: Am Anfang stand der Beamtenstreik trotz Verbot. Anders geht es nicht. Das gilt für das gesamte Streikrecht, weil es Richterrecht ist und die Richter nur dann die bisher geltende Rechtsprechung überdenken können, wenn ihnen ein Fall vorgelegt wird, der bisher verboten war. Dabei möchte ich wiederholen: Zum politischen Streikrecht hat das Bundesarbeitsgericht bisher noch nicht entschieden. Und – auch das sei angemerkt – die Begründung zum Verbot des verbandsfreien Streiks stammt aus dem Jahr 1963 und bedarf dringend einer Überprüfung.

Sehr wichtig als erster Schritt zu einem umfassenderen Streikrecht ist die Forderung nach Legalisierung des politischen Demonstrationsstreiks, der von vorherein auf maximal einen Tag befristet ist. Auch wenn der politische Demonstrationsstreik wiederholt werden kann, wäre es lächerlich, einen politischen Demonstrationsstreik als Parlamentnötigung zu beschreiben. Will man ernsthaft behaupten, das französiche Recht sei undemokratisch, weil es den politischen Streik erlaubt? Nein, es ist undemokratisch, das Recht des Volkes, seiner Meinung und seinem Willen Ausdruck zu geben, auf die Wahlen alle paar Jahre zu beschränken. Wenn es im Grundgesetz heißt “Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat”, dann ist mit Demokratie mehr gemeint als Wahlen. Demokratie ist Beteiligung des Volkes an den politischen Prozessen. Um dieses Demokratieverständnis müssen wir kämpfen. Es geht um ein Ziel, das weit über die Gewerkschaften hinaus Unterstützung finden sollte. Alle demokratisch gesinnten Menschen sollten sich dafür einsetzen, dass das Streikrecht nicht länger auf den Abschluss von Tarifverträgen beschränkt wird. Zum Beispiel können an den Universitäten die Beschäftigten zusammen mit den Studenten über dieses wichtige Thema Diskussionen organisieren. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass von den Universitäten wichtige Impulse ausgehen.

Wir wissen allerdings: Das wichtigste Fundament gewerkschaftlichen Handelns sind die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter selbst. Alles hängt von der Frage ab: Wofür sind wir bereit zu kämpfen? Früher oder später werden wir dann mit der Frage konfrontiert: Was hält uns auf? Für Deutschland kann ganz klar gesagt werden: Es ist der Staat und das von ihm verordnete extrem eingeschränkte Streikrecht, das uns daran hindert, so zu streiken wie in Frankreich. Ich habe allerdings den Eindruck, das finden alle ganz normal. Viele wissen das auch gar nicht. Aber wegen dieses restriktiven Streikrechts haben die Gewerkschaften nur in homöopathischen Dosen gestreikt, als das Renteneintrittsalter von der Schröder-Regierung von 65 auf 67 Jahre heraufgesetzt wurde. Sie hatten Angst vor Schadenersatzforderungen. Es ist also nicht eine Frage der ‘Kultur’, wenn die französischen Gewerkschaften gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters streiken, die deutschen aber nicht. Der Grund ist das deutsche Streikrecht.

Es ist wichtig, den ersten Schritt zu tun, und der heißt: Mehr und gründlich über dieses wichtige Thema in den gewerkschaftlichen Gliederungen zu sprechen. Wir dürfen dieses Thema nicht den Rechtsabteilungen überlassen. Es ist eine Frage, die alle angeht und von allen diskutiert werden muss.

Hinweis: Die drei Fragen wurden von der Zeitung „freie Plattform für Arbeiterpolitik“ Nr. 84 v. 8. Mai 2023 gestellt und dort auch die Antworen erstmalig veröffentlicht.