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Eisenbahner-Widerstand: Zum 90. Jahrestag der Zerschlagung der Gewerkschaften

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Hier ist das Referat von Peter Lind, wir bedanken uns für die Genehmigung der Veröffentlichung. 15.07.2023

  1. Liebe Gäste, das Thema Eisenbahnerwiderstand gegen das Naziregime wäre ein Thema, über das man tage- und wochenlang referieren könnte, wir das aber heute, bedingt durch den engen Zeitrahmen nicht ableisten können. So wird das jetzt ein Parforceritt, für das ich mich einfach mal entschuldigen möchte, aber ich will versuchen in einigen Aspekten einen Einblick in die umfassende Thematik zu geben. Immerhin gehörte der Eisenbahnerwiderstand mit zu den stärksten Widerstandsbewegungen in Deutschland, wenngleich es sich nicht immer um eine einzige, reichsweit zentral gesteuerte Organisation handelte. Der Widerstand gliederte sich in mehrere Zentren, deren Verbindungen zueinander geringer waren. Hauptzentren des Widerstands dürften das Rhein-Main-Gebiet, der süd-westdeutsche Raum, das Gebiet um Frankfurt/Main, Hamburg, Sachsen, sowie der Berliner Raum gewesen sein. Aber auch in kleineren Bereichen bildeten sich Widerstandszellen wie in Cottbus und Magdeburg.  In all diesen Gebieten waren es vor allem die Werke, in denen sich organisierte Widerstandsgruppen bildeten. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Widerstand allerdings, wie fast überall eher marginal gewesen.
  2. Dennoch ist der Eisenbahner-Widerstand als bedeutsam einzuschätzen, weil er denen, die ihn leisteten, die Überwindung starker innerer Widersprüche abverlangten. Eisenbahner hatten ein spezifisches Verhältnis zu dem Unternehmen in dem sie arbeiten, wie auch zu ihrem Beruf an sich. Das drückt sich auch in auch vom Unternehmen durchaus geförderten Begrifflichkeiten von „Pflichtbewusstsein“ und „Eisenbahnerehre“ aus, Begriffe, den Mitarbeiter der Bahn sehr stark verinnerlichten.
  3. Zwei Besonderheiten dürften eine zusätzlich bedeutende Rolle bei der Effektivität des Eisenbahner-Widerstands gespielt haben. Zum einen besaß die Deutsche Reichsbahn ein eigenes, vom sonstigen Kommunikationsverkehr unabhängiges Telefonnetz, über den es bedingt einfacher war Kontakte zu bilden und Informationen, natürlich auch immer unter der Gefahr enttarnt zu werden, auszutauschen. Zum zweiten arbeitete die Bahn im eigentlich hermetisch abgeriegelten Reich grenzüberschreitend, so daß es dadurch diese Möglichkeiten relativ bessere Bedingungen für eine illegale Widerstandsarbeit gab, also Informationen aus dem Reich herauszubringen oder hineinzutragen, auch Personen, Kuriere der verschiedenen widerständigen Parteien und Organisationen, aber auch Flüchtlingen notwendige Wege zu ermöglichen.
  4. 1933, zur Zeit der Machtübertragung an die Nazis waren bei der Deutschen Reichsbahn ca. 600 000 Menschen beschäftigt. 250 000 davon waren Beamte, mehr als 350 000 waren Arbeiter und Angestellte. 60% der Beschäftigten waren gewerkschaftlich organisiert, allein 242 000 davon im EdED, dem Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands. Darüber hinaus gab es auch viele gewerkschaftlich organisierte Mitglieder in der kommunistisch orientierten RGO (Rote Gewerkschaftsopposition). Die Zahl der bei der DRG beschäftigten Menschen stieg bis in das Ende der Naziherrschaft stark an. 1944 waren, bedingt durch den Krieg fast 200 000 Frauen bei der DRG beschäftigt, die die Männer ersetzen sollten, die als Soldaten eingezogen waren. Hinzu kamen hunderttausend aus anderen europäischen Länder nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter sowie KZ-Häftlinge, die gezwungen waren den Eisenbahnbetrieb am Laufen zu halten. Die Reichsbahn hatte höchsten Stellenwert im System des Nazireiches, insbesondere ab 1939, dem Beginn des Krieges. Schließlich galt die Deutsche Reichsbahn neben dem Heer, der Marine und der Luftwaffe als Vierte Waffengattung („Räder müssen rollen für den Sieg“). Wir gehen davon aus, daß bis 1944 1,4 Millionen Menschen bei der DR arbeiteten.
  5. Der 1933 noch anfänglich stärkere Widerstand der Eisenbahner gegen das Nazisystem bekam im Laufe des Jahres 1933 einen erheblichen Dämpfer. Das Naziregime befahl die Entlassung von ca. 70 000 Mitarbeitern noch bis zum September 1933. Das waren vor allem solche Kolleginnen und Kollegen, die als politisch unzuverlässig galten, Originalzitat: „… wegen des Verdachts staats- und wirtschaftsfeindlicher Einstellungen“. Alleine der Verdacht reichte, um diesen Kreis von Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern zu feuern. Das waren den Nazis bekannte Kommunisten und RFB-Angehörige, Sozialdemokraten und Mitglieder im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Mitglieder  der sozialdemokratischen Eisernen Front, sowie Gewerkschafter der unterschiedlichsten Richtungen. Mit dieser Maßnahme sollte zugleich ein weiteres Problem behoben werden: das frühe Naziregime stand unter dem Druck der Einlösung eines Versprechens  allen Arbeit und Brot zu geben, vor allem ihrer Anhängerschaft. Der Plan war die 70 000 Entlassenen durch eigene Klientel aufzufüllen, was hieß, daß jetzt nur solche Personen einzustellen seien, die sich in den vergangenen Jahren als besonders für die Errichtung des faschistischen Staates eingesetzt hatten, besonders auch jene Totschläger, die die Vorjahre in der Arbeitslosigkeit verbringen mussten und ihre Zeit oftmals bei Alkohol in den Sturmlokalen der SA verbrachten. Diese „Dankbarkeit des Führers“ an seine Getreuen erwies sich aber als kompliziert. Dem Erfolg stand u. a. ein bahnspezifisches Problem im Wege, den Menschen, die bei der Bahn beschäftigt waren oder sind sehr wohl bekannt: Die bahnspezifische medizinische Tauglichkeit! Viele der eigentlich vorgesehenen Bewerber litten u. a. durch ihre katastrophal verlaufenen vorvergangenen Jahre und der Arbeitslosigkeit, die sie sehr oft in Kneipen verbrachten pikanter Weise unter gesundheitlichen Schäden, z. B. Leberschäden, aber auch gestörtem Sozialverhalten die sie für den Eisenbahndienst untauglich machte. So sah sich die Naziführung am 9. September 1933 erneut gezwungen massiv  eine Weisung unter dem Begriff „Sozialpolitische Bedingungen“ zu verfügen. In der hieß es: Zitat „…künftig bei Arbeitereinstellungen Angehörige der Nationalen Wehrverbände (SA, SS, Stahlhelm, die diesen Verbänden schon vor dem 30. Januar 1933 angehörten), wie auch die Mitglieder der NSDAP (Mitgliedsnummer 1.- 3.000.000) zu berücksichtigen“. Was die entlassenen Eisenbahnerinnen und Eisenbahner angeht, so ist festzustellen, so marginal das einem auch vorkommen kann, daß viele von ihnen nach ihrer Entlassung den Widerstand gegen das Naziregime fortsetzten, wenn auch in anderen Widerstandszusammenhängen, so daß sie nicht mehr im eigentlichen Sinne zum Eisenbahnerwiderstand zuzuordnen waren.
  6. Der Widerstand von Eisenbahnern bewegte sich auf unterschiedlichen Wegen. Natürlich spielte auch materielle Sabotage eine Rolle, wenngleich das eigentlich immer eine besondere Überwindung kostete; dem stand immer die in Fleisch und Blut übergegangene sogenannte Betriebs-, die Berufsverbundenheit, die Eisenbahnerehre entgegen. Trotzdem gab es auch das, nicht zuletzt auch unterstützt von widerständigen ausländischen Zwangsarbeitern, z. B. aus Polen, der Tschechoslowakei, Österreich oder Frankreich, die bei der DRG arbeiten mussten. Der Widerstand zeigte sich auch darin, daß immer wieder in Zügen Flugschriften verteilt und aufgefunden wurden, daß an Gebäuden und Einrichtungen widerständige Losungen angebracht waren, die der Gestapo erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Es wird auch davon berichtet, daß  es zur Sabotage gehörte, und damit zu empfindlichen Störungen des Betriebsablaufs, daß vor allem Güterzüge, gerade auch solche mit Kriegsgerät in verstopfte Knoten hinein geschickt wurden, die zu erheblichen Verzögerungen im Transport führten. 1992 hat mir ein alter Kollege  aus Köln, Jean Jülich, seine Geschichte des Widerstands erzählt. Er gehörte zu den Edelweißpiraten und hatte letztlich großes Glück, als daß er trotz Haft und Folter dem Massaker entkam, den die Nazis am 10. November 1944 anrichteten, indem sie 13 Deutsche, darunter auch Angehörige der Edelweißpiraten ohne Gerichtsurteil durch SS und Gestapo öffentlich in den Bögen der Bahnunterführung in der Schönsteinstraße in Köln erhängten. Jean Jülich erzählte mir, daß ihr Widerstand bei der Bahn, wo sie arbeiteten u. a. auch darin bestand, daß sie in die zum Schmieren von rotierenden Teilen befindlichen Ölbehälter an Lokomotiven hinein pissten statt mit Öl aufzufüllen. Das führte letztlich dazu, daß sich die in den Lokomotiven befindlichen rotierenden Teile nach wenigen Fahrkilometern festfraßen und die Fahrt mit diesen vorerst nicht fortgesetzt werden konnte.
  7. Dem gegenüber muß festgestellt werden, daß die Deutsche Reichsbahn entscheidend an der Ermordung der Europäischen Juden, Sinti und Roma beteiligt war. Alleine durch die Bahn sind mindestens 3 Millionen dieser Menschen in die Konzentrations- und Vernichtungslager unter den furchtbarsten Bedingungen deportiert worden. Doktor Alfred Gottwald, der leider so früh verstorbene Chefhistoriker des Technik- und Verkehrsmuseums hier in Berlin, hat in einem unserer Gespräche berichtet, daß man davon ausgehen muß, daß an der Ermordung dieser Menschen mindestens 100 000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner unmittelbar oder mittelbar beteiligt waren. Irgendwer muß ja die Weichen geschmiert, die Signale gestellt, die Lokomotiven bedient, die Fahrpläne erstellt haben, die die Transporte bis in die Gaskammern hinein realisierten. Nicht ein einziger an diesen Untaten Beteiligter ist jemals dafür zur Verantwortung gezogen worden. Nur ein einziger Beteiligter der Bahn, der stellvertretende Generaldirektor Albert Ganzenmüller wurde 1973 (!) zunächst vor Gericht gestellt, erlitt aber am 27. April d. J. während der nun endlich gegen ihn erhobenen Anklage (fast 30 Jahre nach dem Ende des Naziregimes) einen Herzanfall, der ihn jedoch dauerhaft in die Prozessunfähigkeit führte. Dies allerdings bei einer sehr hohen Rente, die in etwa der eines Staatssekretärs entsprach, der er ja auch während der Nazizeit war. Er ist 23 Jahre später, 1996 „friedlich“ – wie es hieß – „im Kreise seiner Familie eingeschlafen“.
  8. Zurück zum Eisenbahner-Widerstand. Das starke linke politische Bewusstsein gerade unter den Eisenbahnern, und die letztlich daraus resultierende Widerständigkeit mag auch darin zum Ausdruck kommen, daß alleine unter den von den Nazis ermordeten 90 Reichstagsabgeordneten 10 Eisenbahner waren. Vor dem Zugang zum Gebäude des ehemaligen Reichstags wurde in den 90er Jahren eine bemerkenswerte Gedenkstele errichtet, die an jedes einzelne dieser Naziopfer namentlich erinnert. Einer fehlt allerdings in dieser Gedenkstätte, ausgerechnet ein Eisenbahner, nämlich der einstige Schlosser und Betriebsrat im Bahnbetriebswerk München Hans Beimler. Seine Aufnahme in die Gedenkstätte wird bis zum heutigen Tage verweigert, u. a. mit der scheinheiligen Begründung, dass er ja nicht von Nazis ermordet, sondern außerhalb Deutschlands während des Spanischen Bürgerkrieges in Kampfhandlungen ums Leben kam, Man möglicher Weise sogar durch Erich Mielke im Auftrag Stalins ermordet worden sei. Man stößt bei Recherchen mitunter auf die abstrusesten Erklärungen.
  9. Bei unseren Forschungen und Ermittlungen, die ohne die großartige Vorarbeit und Unterstützung von Professor Siegfried Mielke, Dr. Stefan Heinz, Dr. Alfred Gottwald und unserem Kollegen Eberhard Podzuweit kaum möglich gewesen wäre, haben wir bislang namentlich 125 ehemalige Eisenbahner ermittelt und ihre Biographien versucht nachzuvollziehen, die von den Nazis auf Grund ihrer Widerstandstätigkeit, oder auch aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Wir müssen aber davon ausgehen, daß noch nicht alle ermordeten Eisenbahner erfasst sind. Wir sind dabei auf jedwede Unterstützung angewiesen und wären für jede weitere Information sehr dankbar. Ich möchte hier weniger auf uns schon bekannte Eisenbahner und Widerständler eingehen, wie z. B. John Sieg, dessen Arbeitsplatz der Bahnhof Papestrasse – dem heutigen Südkreuz war. John Sieg verübte am 15. Oktober 1942 nach seiner Verhaftung Suizid, um nicht in Gefahr zu geraten unter der furchtbaren Folter seine Mitstreiter zu verraten. Es wäre sicher eine sehr angemessene Würdigung, gäbe es am Bahnhof Südkreuz wenigstens eine Gedenktafel für unseren Kollegen, zumal schon der östliche Platz vor dem Bahnhof den Namen einer seiner ermordeten Mitstreiterinnen aus der Roten Kapelle, Erika von Brockdorf trägt. Ich möchte beispielhaft auf zwei weniger bekannte Eisenbahner und Widerstandskämpfer aus Berlin verweisen, zunächst auf Karl Schippa, über den wir wissen, daß er schon 1917 Mitglied unsere Vorläufergewerkschaft DEV wurde und 1918 während der Novemberrevolution in Berlin Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates und während der 20er Jahre Betriebsrat in einer Dienststelle der Deutschen Reichsbahn war. Karl Schippa wurde am 1. Mai 1945, einen Tag vor dem Ende des furchtbaren Krieges  vor dem Haus Tempelhofer Ufer 34 ermordet. Der Hintergrund für diesen Mord war, daß Karl Schippa während der in diesem Gebiet um das Hallesche Tor stattgefundenen schweren Gefechte zwischen der Roten Armee und Angehörigen der Naziwehrmacht, verwundeten Angehörigen der Roten Armee erste medizinische Hilfe leistete. Bei den sich dort ständig verändernden Frontbedingungen wurde er während eines Rückzugsgefechtes von marodierenden SS-Angehörigen aufgegriffen und sofort standrechtlich erschossen. Unser Ortsverband hat ihm  zu Ehren im Jahr 2013 vor seinem letzten Wohnort in der Ratiborstrasse 2 einen Stolperstein verlegt.                                         
  10. Als weiteres Beispiel möchte ich an Kollegen Herbert Gollnow erinnern, für den wir im Jahr 2015 vor seinem letzten bekannten Wohnort in der Tiergartener Feldzeugmeisterstrasse 5 ebenfalls einen Stolperstein verlegen ließen. Gollnow begann 1931 bei der Deutschen Reichsbahn eine Ausbildung, trat 1933 in die NSDAP, 1934 kurzzeitig auch in die SS ein. Ende 1938 schied er allerdings aus dem Reichsbahndienst aus, weil er die Möglichkeit bekam im Auswärtigen Amt zu arbeiten. Hier begann jedoch auch seine Widerstandsarbeit. Da er für die Arbeit im Auswärtigen Amt nicht die so notwendigen Fremdsprachkenntnisse besaß, bekam er durch das Amt eine Englisch-Sprachlehrerin vermittelt. Das war nun ausgerechnet Mildred Harnack, führendes Mitglied der Schulze-Boysen-Harnack-Widerstandsgruppe, jener Widerstands Organisation, die bei der Gestapo unter dem Fahndungsnamen „Rote Kapelle“ geführt wurde. Und hier ist wieder der Bezug von Herbert Gollnow zur vorhin schon erwähnten Erika von Brockdorf und unserem Kollegen John Sieg. Nach der Enttarnung der Gruppe wurde Gollnow am 19. Oktober 1942 verhaftet, im Dezember 1942 zum Tode verurteilt und am 12. Februar 1943 hingerichtet.                                              
  11. Etwa 20 Stolpersteine wurden alleine in Berlin für von den Nazis ermordete Eisenbahner verlegt. Einige davon waren rassistische Opfer des Naziregimes wie Heinz Kuttner, Samuel Finkels, Dr. Alfred Mode und Paul Levy. Mehrere Stolpersteine wurden dankenswerter Weise von engagierten Bürgerinitiativen verlegt. Wir als Eisenbahnergewerkschaft selbst haben in Berlin ca. 15 Verlegungen initiiert, die Letzte am 8. Oktober des vergangenen Jahres für unseren Kollegen und ehemaligen Reichstagsabgeordneten Friedrich Jendrosch vor dem Haus Osloer Strasse 110. Allen, die weiteres Interesse an den Schicksalen der ermordeten Kolleginnen und Kollegen haben empfehle ich sehr den Besuch unseres seit 2019 in unserer Bundeszentrale in der Berliner Reinhardtstrasse 23 eingerichteten Gedenkortes mit seinen umfassenden Informationen zu den einzelnen Schicksalen. Ich möchte nunmehr unserem Gast und Filmemacher Hermann Abmayr die Gelegenheit geben uns seinen sehr engagierten Film über den Eisenbahnerwiderstand während der Nazizeit in Deutschland zu zeigen.                                           Peter Lind, Arbeitskreis Geschichte der EVG, 17.06.2023