Wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine als völkerrechtswidrig beschrieben, so wird die Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen Irak?” als “Whataboutism” entwertet. Die Gegenfrage soll nicht zulässig sein, weil sie das Augenmerk auf einen anderen völkerrechtswidrigen Krieg richtet.
Wenn Gegenfragen wie “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak?” oder “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien?” in solcher Weise abqualifiziert werden, ist kein Raum mehr für ein Nachdenken, ob solche “Whataboutism” statt abzulenken nicht eher hinlenken, und zwar auf eine andere Wahrheit hinlenken, die sich hinter der Feststellung “Russlands Krieg ist völkerrechtswidrig” verbirgt.
Wörtlich übersetzt heißt “Whataboutism”: Und was ist mit …?
Es gibt Gründe für die Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak?” oder “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Jugoslawien?” Denn hinter dieser Gegenfrage steckt eine weitere Frage: Wie kann ein Land einen völkerrechtswidrigen Krieg eines anderen Landes anprangern, wenn es selbst völkerrechtswidrige Kriege führt? Es sind die doppelten Standards, die mit der Gegenfrage angesprochen werden. Man kann die doppelten Standards auch einfach als Doppelmoral bezeichnen: Wenn die USA völkerrechtswidrige Krieg führen, ist das in Ordnung, wenn Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg führt, ist das zu verurteilen.
Mit dem Einwand “Whataboutism” wird jedes Nachdenken darüber abgeschnitten. Die Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien?” wird einfach nur zurückgewiesen. Es wird gar nicht mehr darüber nachgedacht, warum diese Gegenfrage gestellt wird.
Hinter der Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Jugoslawien?” steckt auch die Frage: Wie ernst nehmen die USA und die Bundesregierung den Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit?
Es wird nicht mehr darüber nachgedacht, ob das Argument “Russlands Krieg ist völkerrechtswidrig” ein vorgeschobenes Argument sein könnte, vorgeschoben sowohl von den USA als auch von der Bundesregierung. Wenn ich sage, dass die USA endlos viele völkerrechtswidrige Kriege geführt haben, und wenn das als “Whataboutism” abgetan wird, dann ist es nicht mehr möglich, über die Frage nachzudenken: Warum hat eine deutsche Bundesregierung noch nie diese völkerrechtswidrigen Kriege der USA angeprangert und sich offen auf die Seite dieser völkerrechtswidrig angegriffenen Länder gestellt (Vietnam, Jugoslawien, Nicaragua usw.)? Warum tut sie das erst jetzt mit dem Ukrainekrieg? Warum hat die Bundesregierung im Jugoslawien-Krieg nicht Jugoslawien verteidigt, sondern Jugoslawien mitbombardiert?
Offensichtlich müssen andere Interessen als die Verteidigung des Völkerrechts den Ausschlag geben, wenn die Bundesregierung entscheidet, ob und auf welcher Seite sie sich an einem Krieg beteiligt. Und darauf kommt es an: Die Interessen zu erkennen, die ein Land dazu bewegen, einen Krieg zu rechtfertigen oder gar zu unterstützen.
“Whataboutism” als Einwand, Vorwurf und Kampfbegriff versperrt das Nachdenken über diese Interessen.