Artikel 139 Grundgesetz im Wortlaut:
„Die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“
Dazu Wolfgang Abendroth:
„Artikel 139 GG nimmt dem formellen Inhalt nach die zur »Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus« erlassenen Rechtsvorschriften von der Wirkung der Bestimmungen des Grundgesetzes – also z.B. auch von ihrer Überprüfbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht – aus. Es ist deshalb aber keineswegs lediglich eine bloße »Übergangsvorschrift mit ausgesprochenem Ausnahmecharakter hinsichtlich der Durchbrechung von Grundrechten«, die durch die Durchführung des Entnazifizierungsverfahrens nach den damaligen landesrechtlichen, zonalen oder bizonalen Entnazifizierungsbestimmungen und deren spätere Abwicklung durch bundesrechtliche Maßnahmen ihre Bedeutung verloren hätten, wie schon bald nach der Zuspitzung des kalten Krieges, nicht zufällig von einem großen Teil der bundesrepublikanischen Wissenschaft – meist durch entnazifizierte Juristen des Dritten Reiches, hier sei auf die Initiierung dieser Interpretation im Bonner Kommentar durch Krellreuther und durch H.P. Ipsen verwiesen – vertreten wurde.
Vielmehr enthält sowohl nach seiner Stellung im System des Grundgesetzes als auch nach seiner Entstehungsgeschichte, Artikel 139 eine rechtliche und politische Grundentscheidung über die Haltung des Grundgesetzes gegenüber den nationalsozialistischen und faschistischen Auffassungen und ihren organisatorischen und politischen Kristallisationsformen, die weit über seine ursprüngliche unmittelbare Konsequenz hinausgeht und die gesamte Auslegung der Grundrechtsnormen (auch die sogenannten Verfassungsschutzbestimmungen wie Artikel 21 Absatz 2 und Artikel 18) stetig beeinflussen müsste, wenn man das Grundgesetz richtig interpretieren will.
Durch Artikel 139 bekennt sich das Grundgesetz ausdrücklich zur Gedankenwelt der Befreiung von Nationalsozialismus und Faschismus und deren rechtlicher und politischer Fixierung, wie sie in den damals vorliegenden Rechtsvorschriften ihren Niederschlag gefunden hatte. Sie verwandelt diese endgültig aus nur durch die Siegermächte des zweiten Weltkrieges vereinbarten und fixierten Überlegungen in eine eigenständig bindend festgelegte These des innerdeutschen, nämlich des bundesrepublikanischen Verfassungsrechts selbst, deren Bedeutung höher eingeschätzt wird als die konkretisierte Normenwelt des Grundgesetzes selbst…
Die damaligen Bestimmungen über die »Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus« hatten ausnahmslos zunächst ihre Wurzel im interalliierten Recht. Zu ihrem Verständnis muss also auf diese interalliierte, durch Artikel 139 in bundesdeutsches Verfassungsrecht transformierte Gedanken- und Rechtswelt zurückgegangen werden.
Ausgangspunkt dieser Gedanken- und Rechtswelt ist die Erklärung der Regierungen der vier Besatzungsmächte über die Niederlage Deutschlands vom 5.Juni 1945, die in ihrer Präambel verbindlich feststellt, dass durch die Kapitulation das Dritte Reich mit seinen Institutionen untergegangen und zur Disposition der Siegermächte und ihrer Entscheidungen hinsichtlich seiner Grenzen, seines Status oder des Status seiner Teile gestellt sei. Die Festnahme aller führenden Vertreter der Nazis wird bereits in Artikel 11 dieser Erklärung zur Pflicht. Übrigens folgt aus dieser Analyse, dass sich die Erwägungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten »Deutschland-Urteil« zur Frage der angeblichen »rechtlichen Fortexistenz des Deutschen Reiches« vom 31.Juli 1973 nicht nur im Widerspruch zu völkerrechtlichem Denken, sondern auch zu der Grundsatzentscheidung des Artikels 139 GG befinden.
Bestandteil des Verfassungsrechts
Diese Vereinbarung der vier Mächte wird durch das sogenannte »Potsdamer Abkommen«, den Schlussbericht der Berliner Konferenz der »großen Drei« vom 2.August 1945, konkretisiert. Im Teil III Abs. 2 Ia dieses Schlussberichts wird die Auflösung der NSDAP, der gesamten nationalsozialistischen Organisationswelt und aller – auch der staatlichen und ökonomischen – nationalsozialistischen Institutionen als Aufgabe gestellt; in Teil III A 4 wird geboten, dass alle Behinderungen der politischen Gedankenfreiheit, wie sie im Dritten Reicht errichtet wurden, aufgehoben sind und auch künftig nicht mehr toleriert werden dürften….
Auf diesen Entscheidungen beruhte zuerst die zonale, dann die durch die zonalen Militärbehörden ermöglichte landesrechtliche Regelung der Rechtsvorschriften zur »Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus«. Sie sind also – wie diese – in ihren Grundsätzen durch Artikel 139 Teil des bundesdeutschen Verfassungsrechts geworden.
Es bedarf kaum des Beweises, dass die gegenwärtige politisch-soziale Qualität, aber auch weithin die Praxis staatlicher Institutionen der Bundesrepublik diesen durch Artikel 139 GG fixierten Rechtsgrundsätzen widerspricht. Hier sei nur auf die frühere, Nationalsozialisten in vielen Fällen objektiv, nicht subjektiv, begünstigende Judikatur in Kriegsverbrecherprozessen, an den Aufstieg unendlich vieler früherer Pg′s in Administration, Gerichtswesen, Hochschulen und Wirtschaft, im politischen Leben, bis zum Amt des Bundeskanzlers, und in den Kommunikationsmitteln erinnert.
Wie weit sich das Denken auch der Regierungen von diesen Rechtsgrundsätzen des Artikels 139 entfernt hat, beweist tagtäglich die formelle Gleichstellung von Marxisten und Antifaschisten auf der einen Seite und faschistischen und faschistoiden Parteien und Gruppen auf der anderen Seite mit der Formel, beide seien »radikal« und »totalitär«, wobei übrigens praktisch fast nur Diskriminierungen von Antifaschisten, Demokraten und Marxisten erfolgen, denen verfassungswidrig jede Betätigung in öffentlichem Dienst- und Erziehungswesen gesperrt wird….
Diese Grundsätze durchsetzen
Das entscheidende Problem für alle antifaschistisch-demokratischen Kräfte bleibt es deshalb, nicht nur zu erkennen, dass Artikel 139 GG und damit alle weiteren Rechtsgrundsätze des Grundgesetzes auf ihrer Seite stehen, sondern auch zu begreifen, dass es ihre Pflicht ist, durch ihre Aktivität, dreißig Jahre nach der Katastrophe des Dritten Reiches, dies Grundgesetz und insbesondere seinen Artikel 139 wieder gegen die politisch-soziale Realität durchzusetzen….
Wir dürfen in unserer Argumentation, sowohl in unserer juristischen Argumentation als antifaschistische Juristen als auch in unserer agitatorischen Argumentation vor der Bevölkerung, die wir mobilisieren wollen, niemals auf Artikel 139 und seine grundlegende Bedeutung, auf die klare Ablehnung des Nationalsozialismus und Militarismus, wie es dort heißt, also aller faschistischen Bestrebungen, durch das Grundgesetz, verzichten.
Wir müssen diesen Artikel 139 als übergeordnete Norm immer wieder betonen und allerdings dann auch diese Norm überzeugend mit der Wirklichkeit in Widerspruch setzen, weil sie mit der Wirklichkeit des täglichen Lebens in der BRD im Widerspruch steht…
Diese BRD, wie sie heute besteht, ist ein souveräner Staat, der zwar auf dem Boden, aber nicht in Rechtskontinuität mit der vor dreißig Jahren zerstörten Staatlichkeit in Deutschland, mit dem Dritten Reich, steht und stehen muss. Wer hier die Kontinuität, die Identität mit dem früheren Staat behauptet, der verletzt gerade diesen Grundgedanken, dass alles, was mit dem Faschismus zu tun hatte, hier zu verschwinden hat.
War dem Parlamentarischen Rat am wichtigsten
Diese Überlegung war dem Parlamentarischen Rat wichtiger als alle anderen Normen des GG. Denn Artikel 139 betont ausdrücklich, dieser Grundgedanke werde von den übrigen Bestimmungen des GG nicht betroffen. Also ist das gesamte GG im Geist dieses Artikel 139 auszulegen, der eben dadurch zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« im Sinne des GG gehört.
Daraus folgt eine weitere Erwägung: Diese Bestimmungen, zuerst von den Alliierten erlassen, dann durch den Kontrolltrat weitergeführt, in einigen Landesgesetzen der noch vor Verabschiedung des GG auf deutschem Boden entstandenen Länder spezialisiert, wollten die Mitwirkung der früheren Nationalsozialisten am künftigen politischen Leben unmöglich machen. Sie wollten übrigens keineswegs nur die Mitwirkung der früheren formellen Führer, Funktionäre und aktiven Mitglieder der NSDAP, sondern auch derer, die das Militär des Dritten Reiches geführt haben, an allem künftigen politischen Geschehen unmöglich machen.
In Artikel 139 betont das GG ausdrücklich, das sei nicht nur eine völkerrechtliche Entscheidung der Sieger, sondern das GG mache sich diese Bestimmung und zwar mit der höchsten Rechtswirkung, die es überhaupt geben kann, zu eigen. Artikel 139 war daher nach Meinung des Parlamentarischen Rates zentraler Inhalt dieses künftigen Verfassungsrechts.
In der tatsächlichen Entwicklung sind die Dinge gänzlich anders verlaufen. Erst wurden die Monopolkapitalisten restauriert, dann wurden die früheren Nationalsozialisten mit Entschuldigungsschreiben ausgestattet und wieder in der Verwaltung, in Wissenschaft und Rechtsprechung eingesetzt…
Dazu verpflichtet uns Artikel 139
Wir verteidigen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, gerade als Antifaschisten, gegen ihre Unterwanderung durch frühere Faschisten und durch solche Kräfte, die in einer schweren wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus wieder faschistisch werden könnten. Wir schützen diese freiheitliche demokratische Grundordnung gegen alle Kräfte, die heute durch autoritäres obrigkeitsstaatliches Denken die demokratischen Seiten dieser Verfassung zerstören wollen, z.B. durch die Berufsverbote gegen Kommunisten, Sozialisten und radikale Demokraten. Dazu verpflichtet uns Artikel 139.
Wenn die Regierungen davon reden, diese »freiheitlich-demokratische Grundordnung« betrachte Kommunisten und Faschisten als das gleiche, als totalitär, dann haben sie offensichtlich Artikel 139 völlig vergessen.
Artikel 139 ist wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes. Deshalb ist jeder, der sagt, Faschisten und Kommunisten seien unter dem Gesichtspunkt des Extremismus (wie es jetzt das Bundesverwaltungsgericht getan hat…) gleich zu bewerten, objektiv ein Gegner des Grundgesetzes. Artikel 139 verbietet es, solche Kräfte, die gegen den Faschismus gekämpft haben und immer wieder kämpfen werden, gleichzusetzen mit jeden faschistischen Kräften, die durch das GG verboten sind“.
Dieser Auszug aus einem Text von Wolfgang Abendroth wurde entnommen der internetseite der antifa, der Zeitung der VVN-BdA. Der Text stammt aus einer Veröffentlichung von Materialien einer Diskussion auf dem Bundeskongress der VVN-BdA im Mai 1975 in Offenbach am Main zum 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, erschienen unter dem Titel »Antifaschistische Politik heute« im Röderberg-Verlag Frankfurt am Main.
Wolfgang Abendroth (1906-1985), Widerstandskämpfer und Verfolgter (Strafbataillon 999, desertiert in griechischen Widerstand). sozialistischer Politologe und Rechtswissenschaftler, ab 1950 Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg (»Marburger Schule«), politisch engagiert (SPD-Ausschluss wg. SDS-Unterstützung), aktiver Unterstützer von Friedens-, Demokratie-, Bürgerrechts- und Sozialbewegungen (Gewerkschaften), auch der VVN-BdA.
Zur Frage der Fortgeltung des Art. 139 GG sei auch auf den Beitrag von Lars Winkler „Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg – über den leichtfertigen Umgang mit Art. 139 GG“ hingewiesen.[1]siehe: https://akj.rewi.hu-berlin.de/zeitung/05-1/139.htm
References
↑1 | siehe: https://akj.rewi.hu-berlin.de/zeitung/05-1/139.htm |
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