Das Magazin für Wirtschaftspolitik Makroskop veröffentlich am 18. 02. 2023 den folgenden Beitrag von Michael von der Schulenburg.
Wenn heute wieder damit argumentiert wird, dass ein Frieden nur durch Waffengewalt errungen werden kann, ist das ein Rückfall in die kriegerischen Zeiten vor der UN-Charta.
Der Krieg in der Ukraine geht nun in ein zweites Jahr – ohne, dass auch nur der Versuch einer diplomatischen Lösung unternommen wird. Anstelle von Friedensgesprächen haben sich die Kriegs- und Konfliktparteien weiter in einer gefährlichen militärischen Eskalationsspirale unter Einsatz immer schwererer Waffensysteme verfangen. Als wären wir noch den Denkmustern der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts verhaftet, sollen nun militärische Großoffensiven die Lösung bringen.
Das wird die Ukraine nur weiter zerstören. Aber eine noch gefährlichere Konsequenz ist, dass am Ausgang solcher Offensiven das Prestige der zwei größten Nuklearmächte der Welt – USA und Russland – hängt. Damit steigt das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen diesen Nuklearmächten, die über etwa 90% aller Atomwaffen der Welt verfügen.
Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wäre dies das dritte Mal, dass ein Krieg auf europäischem Boden zu einem Weltkrieg eskaliert – nur dieses Mal mit potenziell erheblich verheerenderen Konsequenzen. Schon jetzt leidet die überwiegende Mehrheit der am Krieg unbeteiligten Weltbevölkerung an den wirtschaftlichen Folgen dieses Krieges; ein Nuklearkrieg könnte alles Leben auf
der Welt auslöschen – ohne Unterschied, ob einer Kiegspartei angehörend oder nicht. Es ist also eine Kriegssituation entstanden, die unsere Vorfahren durch die UN-Charta hatten verhindern wollen.
In der Präambel der UN-Charta heißt es: „die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat.“
Leider scheint dieser Appell der UN-Charta heute vergessen. Das liegt vor allem daran, dass die eigentlichen Schutzmächte (und UN-Gründungsmitglieder) der UN-Charta, die USA, Großbritannien, Frankreich und nun auch Russland, die Prinzipien der UN-Charta kontinuierlich erodiert, ja, sie wiederholt gänzlich ignoriert haben. Das ist ihnen als permanente Mitglieder des UN-Sicherheitsrates
mit Vetorecht möglich. Im Krieg in der Ukraine sind nun diese vier Schutz- und Vetomächte zu Konfliktparteien geworden. Damit tragen sie gegenüber der Menschheit die vorrangige Verantwortung für diesen Krieg.
Die UN-Charta ist vorranging ein Friedensgebot und erst dann ein Kriegsverbot
Ein im Westen ständig wiederholter Vorwurf ist, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist und die Ukraine damit nicht nur das Recht hat, sich zu verteidigen, sondern auch, andere Staaten bei der Verteidigung um Hilfe zu bitten. Das ist unbestreitbar, da diese Aussage auf der UN-Charta beruht. Aber gibt die UN-Charta damit dem Westen auch das Recht, diesen Krieg beliebig fortzusetzen, einen militärischen Sieg über Russland anzustreben und aus diesen Gründen alle Friedensbemühungen zu verweigern?
Sicherlich nicht! Denn im Kern ist die UN-Charta eine gegenseitige Verpflichtung aller Mitgliedsländer, Konflikte friedlich zu lösen; nur darauf beruht der allgemeine Bann der Anwendung militärischer Gewalt zu politischen Zielen – und nicht umgekehrt. Die UN-Charta ist eben kein globales Waffenstillstandsabkommen, sondern eine Aufforderung an alle Mitgliedsländer, durch friedliche Mittel einen weltumspannenden Frieden zu garantieren. Die Charta ist zuerst ein Friedensgebot und erst dann ein Kriegsverbot! Es ist dieser Aspekt des Friedensgebotes, der mit einer militärischen Logik bricht, die in der Vergangenheit zu so vielen Kriegen gerade in Europa geführt hatte. Wenn heute wieder damit argumentiert wird, dass ein Frieden nur durch Waffengewalt – also durch Krieg – errungen werden kann, ist das ein Rückfall in die kriegerischen Zeiten vor der UN-Charta.
In der UN-Charta heißt es dann auch, dass die Hauptaufgabe darin besteht,
„den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu
bereinigen oder beizulegen.
Und dann noch deutlicher:
„Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“
Die Verpflichtung zur friedlichen Lösung von Konflikten besteht nicht nur, um Kriegen vorzubeugen, sondern auch, um diese zu beenden. So ruft die Resolution der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022, in der die militärische Intervention Russlands scharf verurteilt wurde, nicht nur Russland und die Ukraine, sondern alle beteiligten Staaten zu einer friedlichen Lösung des Ukrainekrieges auf:
„Die Generalversammlung fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel.“
In vielem ist die UN-Charta der heutigen schwarz-weiß Sichtweise einer Welt zwischen Gut und Böse oder gar zwischen angeblich demokratischen und autoritären Staaten weit überlegen. So kennt die UN-Charta keine Begriffe wie „Angriffskrieg“, „Präventionskrieg“, „Anti-Terrorkrieg“ oder gar „humanitärer Krieg“. Sie unterscheidet nicht zwischen den jeweiligen politischen Systemen der Mitgliedsländer und auch nicht zwischen berechtigten und unberechtigten Streitpunkten der Konfliktparteien. Die UN-Charta geht davon aus, dass es zu jedem Konflikt immer zwei Seiten gibt, die durch friedliche Mittel auszugleichen sind. Übertragen auf den Ukrainekrieg wären die Sicherheitsinteressen Russlands und die der Ukraine gleichberechtigt und hätten durch Verhandlungen
gelöst werden müssen.
Die schwere Mitschuld des Westens am Ukrainekrieg
Der Ernst des sich aufschaukelnden Konfliktes über die Ausweitung der NATO an die Grenzen Russlands, die nun zum Krieg geführt hat, war allen Beteiligten mindestens seit 1994 klar. Russland hat wiederholt davor gewarnt, dass mit den Aufnahmen der Ukraine und Georgiens in die NATO seine elementaren Sicherheitsinteressen verletzt und damit eine rote Linie überschritten würde.
Damit handelt es sich um einen klassischen Konflikt, wie er oft vorkommt.
Der UN-Charta entsprechend hätte dieser Konflikt diplomatisch gelöst werden müssen – und wohl auch können. Das ist aber nicht geschehen, weder um einen Krieg zu verhindern noch um einen friedlichen Ausgang des einmal begonnen Krieges zu erreichen. Auch darin besteht ein Bruch der UN-Charta. Dennoch wurde der NATO-Beitritt der Ukraine vor allem seitens der USA systematisch weiterverfolgt und Russlands Bedenken einfach übergangen. Das verlief nicht ohne Provokationen. Dabei schreckte der Westen nicht einmal davor zurück, im Jahr 2014 den gewaltsamen Umsturz eines rechtmäßig gewählten (OSZE) Präsidenten zu unterstützen, um so eine für einen NATO-Beitritt genehme Regierung in der Ukraine einzusetzen. Nach Angaben von Victoria Nuland, heute stellvertretende Außenministerin der USA, hatte die USA diesen Umsturz mit 5 Milliarden Dollar finanziert; in Wirklichkeit aber dürfte es ein noch wesentlich höherer Betrag gewesen sein. Auch dies war eine grobe Verletzung der Souveränität eines UN-Mitglieds und damit ein Bruch der UN-Charta.
Nach den kürzlich gemachten Aussagen von Angela Merkel und Francois Holland zu den Minsk I- und Minsk II-Abkommen stellt sich auch die Frage, ob diese seitens des Westens überhaupt in ‚good faith‘ verhandelt wurden oder nur dem Ziel dienten, Zeit für die militärische Aufrüstung der Ukraine zu schaffen. Da diese Abkommen durch den Beschluss des UN-Sicherheitsrates rechtsbindend
wurden, wäre das eine schockierende Travestie jeden internationalen Rechtes.
Als im Dezember 2021 Russland auf die NATO-Entscheidung, den Beitritt der Ukraine weiter voranzutreiben, mit einer Drohgebärde antwortete und Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, machte es gleichzeitig einen weiteren Versuch, eine friedliche Lösung zu erreichen. Das führte zwar zu einer Reihe diplomatischer Aktivitäten, aber Gespräche über den Beitritt der Ukraine zur
NATO wurden von den westlichen Gesprächspartnern kategorisch abgelehnt. Die ukrainische Regierung antwortete im Februar 2022 sogar mit massivsten Bombardierungen des von pro-russischen Rebellen kontrollierten Donbas und der dortigen Zivilbevölkerung.
Auch nach dem Ausbruch des Krieges wurden alle unternommenen Friedensbemühungen von der NATO, insbesondere von den USA und Großbritannien, torpediert. In der ersten Märzwoche 2022 bereits bemühte sich der damalige Premierminister Israels, Naftali Bennet, um einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Nach seinen kürzlich gemachten Aussagen hatten Russland und die Ukraine großes Interesse an einem schnellen Ende des Krieges. Laut Bennet war durch Konzessionen Russlands ein Waffenstillstand „in greifbare Nähe“ gerückt. Dazu kam es aber nicht, denn „sie (die USA und Großbritannien) haben einen Waffenstillstand blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht“, so Bennet weiter.
Und dann gab es die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen, bei denen sich beide Seiten bereits in der dritten Märzwoche, also nur einen Monat nach Ausbruch des Krieges, auf die Grundzüge einer Friedensvereinbarung geeinigt hatten: die Ukraine versprach, der NATO nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem Territorium zuzulassen, während Russland im
Gegenzug versprach, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russischen Besatzungstruppen abzuziehen. Für den Donbas und die Krim gab es Sonderregelungen. Auf einer für den 29. März 2022 geplanten Friedenskonferenz in Istanbul sollten diese Grundzüge weiterentwickelt werden.
Doch dann zog sich die Ukraine auf Druck der USA und Großbritanniens von den Friedensverhandlungen zurück. Der türkische Außenminister Çavuşoğlu sagte später über die gescheiterte Friedenskonferenz in Istanbul: „einige NATO- Staaten wollten, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht, um Russland zu schwächen.“
Wie viel Leiden, wie viele Menschenleben und wie viele Zerstörungen hätten vermieden werden können, wenn sich die NATO im März hinter die ukrainisch-russischen Friedensbemühungen gestellt hätte? Dafür, dass sie diese jedoch verhindert haben, tragen die NATO-Länder eine schwere Mitschuld an den Opfern des Krieges seit dieser Zeit.
Und hier noch ein Wort zur Verteidigung der Ukraine: Präsident Selenskyj hatte sich sehr wohl um eine schnelle friedliche Lösung des nun ausgebrochenen Krieges bemüht. Er hatte den israelischen Premierminister Bennet um Vermittlung mit Russland gefragt und es war auch er, der die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen genehmigt hatte. Noch am 27. März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu
verteidigen – und das, obwohl die NATO bereits am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen nicht zu unterstützen. Letztlich gab Selenskyj dem Druck der NATO nach und setzte auf eine Fortsetzung des Krieges.
Diese Entscheidung hat nun zu einer weitreichenden Zerstörung der Ukraine, zu unermesslichem Leid der dortigen Zivilbevölkerung und zum Verlust großer Teile der Ukraine geführt. Heute wäre die Verhandlungsposition der Ukraine wesentlich schlechter, als sie es im März 2022 noch war. Das erklärt sicherlich die jetzige Haltung Selenskyjs, nun alles auf einen totalen Sieg über Russland zu setzen. Aber auch ein solcher Sieg, sollte er überhaupt möglich sein, ginge mit enormen menschlichen Kosten einher und könnte zur völligen Zerstörung der Ukraine führen. Es muss Selenskyj und den meisten seiner Mitstreiter inzwischen klar geworden sein, dass sie im März/April besser nicht auf ihre Freunde aus dem Westen hätten hören sollen und, dass sie mit der Ablehnung einer friedlichen, auf Verhandlungen basierenden, Lösung nun mit ihrem eigenen Blut für die strategischen Kriegsziele anderer bezahlen. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich die Ukrainer betrogen fühlen werden.
Der Ukrainekrieg lehrt die Unersetzlichkeit der UN-Charta
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat der Westen, insbesondere die USA, die Gültigkeit der UN-Charta immer wieder in Zweifel gezogen. Die UN-Charta und dessen Prinzip der „sovereign equality“ verträgt sich eben nicht mit dem alleinigen globalen Führungsanspruch der USA. Um dieser Führungsrolle gerecht zu werden, haben die USA nach Angaben des US Congressional
Research Service seit dem Ende des Kalten Krieges 251 militärische Interventionen in anderen Ländern durchgeführt – geheime CIA-Operationen und Finanzierungen von Proxy-Kriegen sind dabei nicht mitgezählt. Es kann davon ausgegangen werden, dass viele – wenn nicht gar die meisten dieser Interventionen – Verletzungen der UN-Charta waren. In fast allen Fällen haben sie nur menschliches Leid, Zerstörung, Chaos und dysfunktionale Regierungen hinterlassen, Demokratien sind daraus nie entstanden. Ist der Ukraine nun ein ähnliches Schicksal beschieden?
Der Krieg in der Ukraine hat die Welt näher an eine nukleare Katastrophe gebracht als irgendein anderer Konflikt seit dem Ende des Kalten Krieges – vielleicht sogar seit dem Ende der beiden Weltkriege. Das sollte uns allen schmerzlich bewusst gemacht haben, wie wichtig, ja unersetzlich die UN-Charta auch heute noch ist. Um den Weltfrieden zu erhalten, bleibt uns nur der Weg über eine freiwillige Einigung zwischen Staaten, Konflikte friedlich zu lösen.
Die UN-Charta war einst ein Geschenk der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges – der USA, der damaligen Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs – an die Menschheit. Heute haben sich gerade diese Staaten (oder deren Nachfolgestaaten) mit dem Ukrainekrieg derart diskreditiert, dass wir von ihnen keine Erneuerung der UN-Charta erwarten können. Die Fackel für eine friedliche, auf Zusammenarbeit gerichtete Weltordnung muss nun von anderen Ländern getragen werden, von Ländern wie Brasilien, Argentinien und Mexiko in Lateinamerika; von Indien, China und Indonesien in Asien; von Südafrika, Nigeria und Äthiopien in Afrika und Ägypten und Saudi-Arabien im Mittleren Osten.
Indem diese Länder eine stärkere Verantwortung für den Weltfrieden übernehmen, würde ein weiterer Schritt hin zu einer multipolaren und gleichberechtigten Welt gegangen. Was eignet sich da besser als eine Friedensordnung, die auf der UN-Charta und dem Prinzip „der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ aufgebaut ist!