26. Januar 2023 von Ingo
Update zur Aktion:
Liebe Freundinnen und Freunde von Bahn für Alle, Gemeingut und EINE S-Bahn für ALLE,
wir brauchen Ihre aktive Mithilfe! In Berlin und Brandenburg sollen große Anteile des Nahverkehrs unter den Hammer kommen: die Berliner S-Bahn. Pro Jahr befördert sie mehr als 300 Millionen Fahrgäste, das sind dreimal so viele wie die Deutschen Bahn jährlich mit der gesamten ICE-Flotte befördert. In den meisten Bundesländern wurden S-Bahn- und Regionalverkehr längst zerschlagen und separat ausgeschrieben: Die Berliner S-Bahn fährt in einem unabhängigen Netz und blieb verschont. Bisher.
Im Juni 2020 startete der Berliner Senat die Ausschreibung des Verkehrs auf zwei künstlich herausgetrennter „Teilnetzen“ der S-Bahn. Die Teilstücke können an verschiedene Betreiber gehen. Ausgeschrieben sind auch Bau, Wartung und Instandhaltung von Fahrzeugen. Es ist ein Vorhaben direkt aus der neoliberalen Hölle, ein Abklatsch der Privatisierung der Londoner U-Bahn – nur 20 Jahre später. Darum geht es:
- Mit der Ausschreibung will der Senat durch Wettbewerbsdruck Kosten einsparen. Das ging bisher schon immer zu Lasten der Qualität und auf dem Rücken der Beschäftigten. Zuverlässiger Nahverkehr hat seinen Preis, das zeigen Insolvenzen von Betreibern in anderen Bundesländern. Zudem wird die öffentliche Hand durch drohende Insolvenzen erpressbar.
- Der Senat preist einen Fahrzeugpool als „Kommunalisierung“. In Wirklichkeit handelt es sich um eine landeseigene Briefkastenfirma, die zur Erbringung ihrer Aufgaben eine öffentlich-private Partnerschaft eingeht. Damit öffnet der Senat Black Rock und Co. die Tür. Wie wichtig fachgerechte Wartung ist, zeigte das Berliner S-Bahn-Chaos der 2000er Jahre, als man die Deutsche Bahn auf Börsenkurs bringen wollte.
- Je nach Zuschlag können es bis zu vier Akteure werden, die künftig im dicht vertakteten S-Bahn-Netz interagieren sollen – bei Störungen ein Fest für Anwälte, die Fahrgäste bleiben dann allerdings auf der Strecke.
- Das Vorhaben ist auch Geldverschwendung: Eine halbe Milliarde Euro kosten Bauwerke, die nur für die Auftrennung des Netzes gebaut werden sollen und sonst keinen Nutzen haben. Außerdem ist ein neuer Fahrzeugtyp ausgeschrieben, obwohl nach mehrjähriger Entwicklungszeit die ersten Fahrzeuge eines neuen S-Bahn-Typs ausgeliefert werden. Warum bestellt man für den Ausbau des Verkehrsangebots nicht einfach weitere Fahrzeuge nach?
Wir fordern: Sofortige Rücknahme der Ausschreibung! Zerschlagung und Privatisierung der Berliner S-Bahn stoppen! Die S-Bahn als Betrieb der öffentlichen Daseinsvorsorge muss dem Gemeinwohl verpflichtet und darf nicht gewinnorientiert sein.
Doch gute Argumente allein reichen nicht, man benötigt auch Aufmerksamkeit. Seit 2019 haben wir daher Aktionen durchgeführt, ein Filmclip wurde gedreht, wir haben eine Zeitung erstellt und in den S-Bahnen verteilt, Unterschriften gesammelt und immer die Presse informiert – die uns jedoch weitgehend ignorierte. Bis vor einer Woche! Über unsere Unterschriftenübergabe an die grüne Verkehrssenatorin Bettina Jarasch berichteten rbb, ntv, Radio Eins, die Süddeutsche Zeitung, die Berliner Zeitung, die Berliner Morgenpost, die taz und viele andere Zeitungen bundesweit.
In Berlin wird die Wahl wiederholt. Schreiben Sie E-Mails an die Verantwortlichen der politischen Parteien! Die Ausschreibung muss abgebrochen und die S-Bahn geschützt werden. Sie sind nicht aus Berlin? SPD und Grüne regieren auch im Ampel-Klimakabinett, und Privatisierungen im Nahverkehr schaden dem Klima. Sie sind aus Berlin? Verlangen Sie, dass man Ihre S-Bahn ausbaut, statt sie zu zerschlagen.
Schreiben Sie an so viele Adressaten wie möglich. Wenn 50 Menschen 5 bis 10 E-Mails versenden, werden es 250 bis 500 E-Mails! Bitten Sie auch Freundinnen und Freunde um Mithilfe. Einige Briefmuster haben wir entworfen, nutzen Sie die Vorlagen am Ende unseres Rundbriefes. Aber formulieren Sie gern auch Eigenes! Je unterschiedlicher die E-Mails sind, desto größer der Eindruck auf die Politik.
In der Hoffnung, dass die S-Bahn Berlin noch gerettet werden kann:
Ihre Aktiven von
Gemeingut in BürgerInnenhand, Bahn für Alle, Aktionsbündnis EINE S-Bahn für ALLE
Carl Waßmuth | Katrin Kusche | Ludwig Lindner
Argumente der Befürworter:
Die wichtigsten Argumente der Befürworter
„Die Vergabe in Ausschreibungen war eine Reaktion auf die Krise, in die die S-Bahn ab 2009 nach Technikproblemen, Wartungsmängeln und Missmanagement geraten war.“ (dpa am 16.1.2023)
Das S-Bahn-Chaos ist vielen noch in Erinnerung. Ab 2005 wollte Bahnchef Mehdorn an die Börse, und dazu wurde das Tochterunternehmen S-Bahn Berlin GmbH gnadenlos ausgesogen, Werkstätten geschlossen und die Wartung stark vernachlässigt. Das ist 18 Jahre her. Die Ausschreibung „reagiert“ auf nichts, im Gegenteil. Die für die S-Bahn wichtigen Entwicklungen seit 2010 werden ignoriert: 1. Die damalige Geschäftsführung wurde entlassen – der für die Sparorgie Verantwortliche leitet jetzt eine Firma, die in der Ausschreibung mitbietet. 2. Die Werkstätten wurden wiedereröffnet, alte Wagen generalüberholt, eine neue Wagenreihe ist entwickelt und wird derzeit sukzessive ausgeliefert. Störungen kommen immer noch vor, aber in weit geringerem Maße. Mit anderen Worten: Die politische Einflussnahme hinsichtlich der Qualität kann noch verbessert werden, aber im Grundsatz ist sie gelungen. 3. Das Vorbildprojekt Metro London ist inzwischen krachend gescheitert. Als auf technischer Ebene faktisch die Metro am Ende war, warf die Stadt die privaten Betreiber wieder raus – zu hohen Kosten, aber ohne weitere Diskussionen. 4. Auch in Deutschland hat die Praxis der Ausschreibungen im Nahverkehr eine Schneise von Insolvenzen, Betriebsabbrüchen, Zugausfällen und Kostenexplosionen gezogen. Als besonders unrühmlich wurde Abellio bekannt, andernorts gibt es jedoch ganz ähnliche Probleme.
„Wir müssen ausschreiben, das schreibt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vor.“ Bettina Jarasch, bei der Unterschriftenübergabe zu den Demonstrierenden am 16.1.2023
Das stimmt nicht, Berlin und Brandenburg haben auch die Möglichkeit der Direktvergabe. Dazu müssen die beiden Länder einen bestimmenden Einfluss auf das betreffende Unternehmen ausüben. Das ist das Ergebnis einer juristischen Einschätzung, die wir eingeholt haben. Und es wäre möglich durch Erwerb von Anteilen an der S-Bahn Berlin GmbH (mit anschließender Ausübung des Einflusses über die Eigentümerversammlung).
„Die Deutsche Bahn will die S-Bahn Berlin nicht verkaufen.“ (Bettina Jarasch am 16.1.2023)
Diese Information ist 13 Jahre alt, im Januar 2010 war die DB angefragt worden und hatte innerhalb weniger Tage abweisend geantwortet. Im Wassersektor haben Berliner Aktive erreicht, dass die Konzerne RWE und Veolia erst 2011 ihre Verträge mit Berlin offenlegen mussten, 2012 und 2013 mussten sie dann auch verkaufen – obwohl sie zuvor definitiv nicht verkaufen wollten. Die DB AG hat inzwischen wirklich hohe Schulden – 35 Milliarden Euro. Sie könnten jetzt ein Grund für einen Verkauf werden. Außerdem sind die Grünen inzwischen in der Bundesregierung, mit Anjy Hajduk und Stefan Gelbhaar sind sie im Aufsichtsrat der DB vertreten. Abgesehen von öffentlichem Druck auf das Unternehmen – wie bei RWE und Veolia – wäre zusätzlich auch Druck über den Bund als öffentlicher Eigentümer möglich. Hier können Briefe an entsprechende Bundespolitikerinnen und –politiker hilfreich sein.
„Durch die Ausschreibung spart Berlin 800 Millionen Euro.“ Regine Günther (Bündnis 90/Die Grünen), Berliner Verkehrssenatorin 2016 bis 2021
Bedauerlicherweise hat Regine Günther nie offengelegt, wie sie auf diese Einsparung kam. Dann hätte man den Finger auf ihren Rechenfehler legen können. Vermutlich war es auch nur eine dreiste Behauptung. Der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann hatte Baden-Württemberg auch vor einer Nahverkehrsausschreibung eine „Wettbewerbsrendite“ versprochen, tatsächlich kam es zu erheblichen Mehrkosten. Auf Mehrkosten deutet auch in Berlin alles von Anfang an hin. Entgegen den Vorschriften des Landes Berlin gab es für verschiedene Varianten einer künftigen S-Bahn-Betriebs bedauerlicherweise nie eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung. Die Opposition im Abgeordnetenhaus hätte eine solche Untersuchung vermutlich erzwingen können. Inzwischen hat sich der wichtigste Kostentreiber gefährlich weiterentwickelt: Während Berlin bei einer Direktvergabe die S-Bahn ohne Schulden betreiben könnte, stehen hinter der Ausschreibung Kredite von privaten Bietern in Milliardenhöhe. Diese leihen sich das erforderliche Geld bei Banken. Über die langen Laufzeiten von 15 bis 30 Jahren fallen dort hohe Zinsen an. Mit dem Ende der Niedrigzinsphase steigen die Zinskosten steil an. Was auch immer Frau Günther 2019 hat errechnen lassen – heute ist es Makulatur. Durch die Zinsentwicklung sind Kostensteigerungen von mehreren Milliarden Euro zu erwarten – wenn man ausschreibt.
„Die Zeiten des Neoliberalismus sind vorbei. […] Die Bedingungen für die Beschäftigten bleiben erhalten, das bestimmen wir über den Rahmen der Vergabe.“ (Bettina Jarasch, 16.1. 2023)
Die aktuelle Ausschreibung ist Neoliberalismus in Reinform. Sie geht sogar weit über das hinaus, was die neoliberale Gesetzgebung auf Bundesebene vorschreibt. Dort steht nichts von einer Zerschlagung der S-Bahn in drei künstliche Teile und auch nichts von der zusätzlichen Abtrennung der Beschaffung und Instandhaltung der Wagen im Zuge einer öffentlich-privaten Partnerschaft mit 30 Jahren Laufzeit. Man hätte genauso gut auch „nur“ einen neuen Betreiber für die ganze S-Bahn suchen können. Grundsätze einer mittelstandsfreundlichen Vergabe kommen als Grund nicht infrage: Für keines der Teilstücke kann ein Mittelständler anbieten, dafür sind die Teile immer noch viel zu groß, die zugehörigen Auftragsvolumina betragen jeweils mehrere Milliarden Euro. Obwohl aber nur große Konzerne anbieten können, wird ein haftendes Eigenkapital von nur 25.000 Euro zugelassen. Es sind also große Gewinne möglich, kommt es wider Erwarten aber zu Verlusten, legen die betroffenen Firmen sofort den Offenbarungseid ab. Im Zuge dieser Pleitegefahr sind auch alle Zusicherungen für die Beschäftigten das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben werden. Es ist auch historisch mehr als naiv, zu glauben, der Staat könne die Kontrolle über die Daseinsvorsorge irgendwie doch behalten, nachdem er sie an Private abgegeben hat – über schlichte Bedingungen in einer Ausschreibung.
Oft wurde uns in Diskussionen entgegengehalten: „Das ist keine Privatisierung, sondern eine wettbewerbliche Vergabe.“
Privatisierungen sind extrem unbeliebt, und so wundert es nicht, dass die Verantwortlichen nach anderen Bezeichnungen suchen, um den Ausverkauf zu kaschieren. Bei der S-Bahn Berlin geht es um acht bis 11 Milliarden Euro (Stand 2020, heute vermutlich 10 bis 13 Milliarden Euro). Dieses Volumen können sich private Firmen sichern – ohne dass damit sichergestellt ist, dass sie auch die damit verbundenen Leistungen erbringen, von einem schonenden Umgang mit den Wagen und der Infrastruktur und einem Verzicht auf Lohndumping ganz zu schweigen. Eine besonders weitreichende Privatisierung ist bei der Abgabe des Wagenfuhrparks vorgesehen. Hier soll ein privater Bieter die Wagen für mindestens dreißig Jahre bekommen – einseitige Kündigungen vor Ablauf durch Berlin dieser Frist haben eine gute Chance auf Ausgleich der entgangenen Gewinne für die Restlaufzeit.
„Es gibt einen Parlamentsvorbehalt – wenn wir mit dem Ergebnis der Ausschreibung nicht zufrieden sind, lehnen wir es ab.“ (Sven Heinemann, SPD, 2019)
Die Ausschreibung wird bereits seit 2019 vorbereitet, die Vergabeentscheidung steht trotzdem erst für 2024 an – ein deutlicher Beleg für die Komplexität der geplanten Privatisierung. Was wird das Parlament wohl sagen, wenn es nach fünf Jahren der Ausschreibung endlich den (wirtschaftlichen) Gewinner der Ausschreibung vorgestellt bekommt? „Nein, so einen hatten wir uns nicht vorgestellt“ oder „lass uns lieber abbrechen und noch einmal fünf Jahre neu ausschreiben“? Wohl kaum. Zumal der Gewinner der Ausschreibung in diesem Fall – und nur in diesem – Anspruch auf eine erhebliche Entschädigung hätte (für „positives Interesse“). Bei einem vorzeitigen Abbruch der Ausschreibung wären die Ansprüche auf Ausgleich erheblich geringer (für „negatives Interesse“). Siehe auch das juristische Positionspapier zur Aufhebung der S-Bahn-Vergabe von RA Benno Reinhardt.
Ein Argument gegen die Ausschreibung, dem seit 2019 von Rot-Rot-Grün bzw. Rot-Grün-Rot konsequent ausgewichen wird:
Für die Aufteilung des Netzes sind erhebliche zusätzliche Bauwerke nötig. Besonders spektakulär ist die geplante Brücke diagonal über das Karower Kreuz, das größte Eisenbahnkreuz im Nordosten Berlins. Diese mehrere hundert Meter lange Brücke wird viele hundert Millionen Euro kosten – und sie nützt den Menschen in Berlin gar nichts. Ebenso verhält es sich mit Ausfahrten und Nachtabstellanlagen, die anstelle von Infrastrukturteilen errichtet werden, die es schon gibt. Besonders extrem würde die physische Zerstörung von Werkstätten ausfallen. Die S-Bahn Berlin hat derzeit Werkstätten für alle Wagen im Netz. Diese darf sie jedoch nicht ansetzen, wenn sie mitbietet, sie muss die neu zu errichtenden – aus Steuergeldern bezahlten – Werkstätten nutzen. Bestehende Werkstattanlagen samt dem zugehörigen Gleisvorfeld werden im Zuge der Ausschreibung für den Abriss freigegeben – obwohl sie voll funktionsfähig sind.
Vorschläge für Schreiben und E-Mails:
Briefvorschlag für ein Schreiben an Kandidatinnen und Kandidaten der SPD Berlin:
Briefvorschlag-fuer-ein-Schreiben-an-Kandidatinnen-und-Kandidaten-der-SPD-BerlinHerunterladen
Briefvorschlag für ein Schreiben an Kandidatinnen und Kandidaten der CDU Berlin:
Briefvorschlag für ein Schreiben an Kandidatinnen und Kandidaten der LINKEN Berlin:
Anschreiben-Die-LINKEHerunterladen
Briefvorschlag für ein Schreiben an Kandidatinnen und Kandidaten der Grünen Berlin:
Anschreiben-GruenenHerunterladen
Briefvorschlag für ein Schreiben an Kandidatinnen und Kandidaten der FDP Berlin:
Hier sind wichtige E-Mail-Adressen:
Franziska Giffey (SPD) Die-Regierende-Buergermeisterin@senatskanzlei.berlin.de, franziska.giffey@spd.parlament-berlin.de
Klaus Lederer (Die Linke) lederer@linksfraktion.berlin
Bettina Jarasch (Bündnis 90/Die Grünen) senatorin@senuvk.berlin.de, bettina.jarasch@gruene-berlin.de
Kai Wegener (CDU) kai.wegner@cdu.berlin
Sebastian Czaja (FDP) info@sebastian-czaja.de
Olaf Scholz (SPD) olaf.scholz@bundestag.de
Anja Hajduk (Bü90/Die Grünen) anja.hajduk@gmail.com
Stefan Gelbhaar (Bü90/Die Grünen) stefan.gelbhaar@bundestag.de
Bernd Riexinger (Die Linke) bernd.riexinger@bundestag.de
Mario Czaja (CDU) mario.czaja@bundestag.de, buero@marioczaja.de
Volker Wissing (FDP) volker.wissing@bundestag.de
Antworten der Parteien
Inzwischen sind zwei Antworten eingegangen, von der Senatskanzlei (ohne Nennung des namens von Senatschefin Franziska Giffey) und von Klaus Lederer für die Partei DIE LINKE.
Wir dokumentieren die Antworten und geben Argumente an, die zeigen, dass diese Antworten eher Pseudoantworten sind und die eigentliche Aussage daher noch aussteht. Die bausteine dürfen und sollen gerne für weiteren Schriftverkehr verwendet werden!