Ein Transformationsprogramm aufstellen!

28. Dezember 2020 von benhop

Die IG Metall hat im Jahr 2019 einen Transformationsatlas herausgegeben. Das war ein wichtiger Anfang.

Jetzt muss die Frage beantwortet werden: Was folgt daraus?

Denn es reicht nicht, sich auf die Kritik zu beschränken, die Unternehmen hätten sich immer noch nicht auf die Transformation vorbereitet. Es reicht auch nicht, nur betriebs- bzw. unternehmensbezogen zu agieren. Schon jetzt sind die Beschäftigten in den Stammbetrieben und bei den Zulieferern der Autoindustrie von Arbeitslosigkeit bedroht. Es läuft nach dem üblichen Strickmuster: Wo Arbeitsplätze wegfallen, wird entlassen. “Was denn sonst?” rufen uns die Unternehmer entgegen. Ja, an dieser Frage kommen wir nicht vorbei, wenn wir die Sorgen der Beschäftigten ernst nehmen wollen: Was denn sonst?.

1. Das Klimapaket der Bundesregierung reicht nicht

Die Bundesregierung hat mit ihrem Klimapaket einen Plan aufgestellt, in dem sie festlegt, in welchem Umfang sie bis wann die CO2-Emissionen einschränken will. Dieses „Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050“ hat zum Ziel, gegenüber 1990 die CO2-Emossionen um 55 Prozent zu reduzieren. Die Reduktionsziele sind nach den Sektoren Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und sonstige Maßnahmen untergliedert und unterschiedlich hoch. 66 Maßnahmen wurden festgelegt, um diese Reduktionsziele zu erreichen[1]Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050, S. 22 ff; https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzprogramm-2030-1673578. Dazu gehören auch Festlegungen zur Finanzierung. Eine besondere Bedeutung hat die so genannte „CO2-Bepreisung“[2] Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050 unter 3.2, S. 24 ff; siehe Fn. 1, die kombiniert wird mit „Entlastungen von Bürgen und Wirtschaft“[3]Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050 unter 3.3, S. 29 f.; siehe Fn. 1. Zudem geht es um den Sektor Landnutzung, dem „einzigen Sektor, in dem mehr Treibhausgase eingebunden als freigesetzt werden“[4]Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050, S. 124; siehe Fn. 1.      

Es hat zu Recht viel Kritik an diesem Klimapaket gegeben. Die Reduktionen sind zu gering. Die Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung reichen nicht einmal, die geplanten Reduktionsziele zu erreichen.

Die Aufstellung eines Transformationsplanes darf nicht den Unternehmen und ihren Lobbyisten in der Regierung überlassen werden; denn dann besteht die Gefahr, dass das Kapital, das seine Profit-Interessen beeinträchtigt sieht, umweltschädliche Weichenstellungen vornimmt. In der Vergangenheit haben diese Unternehmen jedenfalls nie auf den Umweltschutz Rücksicht genommen. Die 100 größten Konzern sind seit 1988 für 70% der umweltschädlichen Emissionen verantwortlich und haben nichts getan um, das zu ändern. Wenn es zum Beispiel um den Verkehr und Transport von Personen und Gütern geht, stehen massive Interessen der Autoindustrie auf dem Spiel. Nur gegen deren Interessen können die Weichen zugunsten des öffentlichen Verkehrs gestellt werden. Wer die Transformation dem Kapital überlässt, wird nicht nur beim ökologischen Umbau versagen, sondern hat auch schon die Beschäftigten aufgegeben.  

2. Ein eigenes Klimaschutzprogramm entwickeln

Die Kritik am Klimapaket der Bundesregierung sollte Ausgangspunkt für ein eigenes Transformationsprogramm sein, das die Gewerkschaften gemeinsam mit der Klimaschutzbewegung dem Klimapaket der Bundesregierung entgegenstellen.

Dabei sollte nicht nur der Verkehr, sondern mindestens auch der Energiesektor einbezogen werden. Auch der Sektor Gebäude sollte in den Blick genommen und dabei mit den Mieterorganisationen zusammengearbeitet werden.

Die Reduktionsziele müssen erhöht und weitere Maßnahmen vorgeschlagen werden, die zu einer schnelleren Reduktion der CO2 Emissionen führen. Doch diese Forderung beantwortet nicht die Frage: Wer trägt die Kosten?

Unser Transformationsprogramm sollte darauf drängen,

  • dass die Reduzierungen der CO2 Emissionen schneller als bisher geplant vorangetrieben wird,
  • dass diejenigen zur Finanzierung herangezogen werden, die diese Emissionen verursacht haben; höhere Preise treffen die mit dem kleinsten Geldbeutel am stärksten treffen.; aber laut Carbon Majors Report sind seit 1988 hundert Konzerne für 71% der weltweiten klimaschädlichen Emissionen verantwortlich;
  • dass die Folgen für die Arbeitsplätze erfasst werden und
  • dass allen umweltfreundliche sozial zumutbare Ersatzarbeitsplätze angeboten werden; umweltfreundliche Ersatzarbeitsplätze dürfen nicht zu schlechteren Arbeitsbedingungen führen.
  • dass eine Verkürzung der Arbeitszeit verhindert, dass weniger Arbeit zu Arbeitslosigkeit führt.

Es sind Wissenschaftler heranzuziehen, die unsere Zielsetzungen unterstützen. Auf der Grundlage schon bestehender und weitere Studien müssen die Maßnahmen bestimmt werden, mit denen diese Ziele umgesetzt werden können. Dann kommt es darauf an, für die gemeinsamen Ziele und die Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung gemeinsam zu kämpfen. 

Für die Autoindustrie liegt die Studie ELAB 2.0 vor, die die Beschäftigungswirkungen der Transformation in der Automobilindustrie durch Elektrifizierung der Autos erfasst. Und es gibt die Studie M FIVE des Jahres 2020 – in Auftrag gegeben von der Hans-Böckler Stiftung -, die die Beschäftigungswirkung durch Veränderungen der Mobilität und dabei auch einen Ausbau des Öffentlichen Verkehrs berücksichtigt.

Zur Transformation der Energiesysteme legte das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE im Februar 2020 eine Studie “Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem” vor. Das Institut ergänzte diese Studie um ein Update im Dezember 2020, wobei die Studie als Ziel 65 % Co2-Reduktion bis 2030 und 100 % Klimaneutralität bis 2050 vorgibt. Es werden Angaben über Kosten und Investitionen gemacht, nicht aber zu den Beschäftigungswirkungen. Höhere Preise trifft die mit dem kleinen Geldbeutel am stärksten.

3. Zusammenfassung

Aus dem Transformationsatlas sollte ein Transformationsprogramm werden.

Dafür sollten Gewerkschaften, Wissenschaftler, Klimabewegung und Mieterbewegung gemeinsam kämpfen.


References

References
1 Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050, S. 22 ff; https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzprogramm-2030-1673578
2 Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050 unter 3.2, S. 24 ff; siehe Fn. 1
3 Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050 unter 3.3, S. 29 f.; siehe Fn. 1
4 Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplanes 2050, S. 124; siehe Fn. 1

Klimabewegung, Transformation und Gegenmacht

10. August 2020 von benhop

„Dass Du Dich wehren musst, wenn Du nicht untergehen willst, wirst Du doch einsehen“ B. Brecht

Wenn es um die Umstellung auf eine umweltfreundliche Arbeit und umweltfreundliche Produkte geht, ist da immer die Angst, mit der Umstellung der Produktion den Arbeitsplatz zu verlieren. Denn für die Unternehmen gibt es diese einfache Option: Die Kündigung.

Über das „Ob“, „Wann“ und „Wo“ von Produktion oder Dienstleistung und auch über  Entlassungen entscheiden allein die Unternehmen. Es sind eben nicht die Beschäftigten, sondern die Unternehmer, die in den Betrieben das Sagen haben. Diese überlegene Stellung ist das Fundament der Angst.

Und es ist nicht nur die Angst vor Arbeitslosigkeit, sondern auch die Angst vor dem sozialen Abstieg. Dies gilt selbst dann, wenn dem Beschäftigten ein neuer Arbeitsplatz angeboten wird. In der Autoindustrie sind die Beschäftigten gut organisiert und so konnten die Gewerkschaften gute Löhne durchsetzen. Ein Arbeiter bei VW verdient ca. 3.500 € netto (incl. Schichtzulagen). Die Gefahr ist real, dass er diesen Lohn nach einem Ende bei VW und einem Neuanfang in einem anderen Unternehmen nie mehr erreicht.

Ebenso wie die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, geht die Angst vor einer Klimakatastrophe auf das Konto der Kapitaleigner. Die Produktion von Autos mit Benzin- oder Dieselmotor hätte schon längst eingestellt und eine Ersatzproduktion geschaffen werden müssen. Vorrang hätte der entschiedene Ausbau und die Forderung des Öffentlichen Personen Nahverkehrs haben müssen. Aber die Unternehmer haben alles getan, um eine Umstellung zu torpedieren. Die Süddeutsche Zeitung zitierte am 19. September 2019 die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die mit Blick auf die notwendig Umstrukturierung der Autoindustrie im Jahr 2010 bemerkt hatte: „Die Welt schläft nicht“. Die Süddeutsche Zeitung dazu: „Acht Jahre später kann man festhalten: Deutschland schläft, immer noch“.

Das gilt auch für die Umstellung auf eine umweltfreundliche Energieversorgung, das gilt für andere Bereiche der Industrie und das gilt für die Landwirtschaft. Die Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft zusammen mit der Politik haben vollständig versagt. Aber hinter diesem Versagen stecken Interessen – die Interessen des großen Kapitals, dem mehr an einer guten Jahresbilanz als an einem besseren Schutz der Umwelt gelegen ist. Das ist die treibende Kraft, die das Klima weiter aufheizt und Angst erzeugt.

Immer wieder wird allein auf dem Markt gesetzt, immer wird alles auf das uneinsichtige Verbraucherverhalten geschoben. Doch die Umstellung der Glühlampe auf andere Leuchtmittel zeigt: Es geht auch anders. Zehn Jahre nach dem Verbot der Glühlampe war die Umstellung auf andere Leuchtmittel vollzogen. Produktionsumstellungen auf der Grundlage von Produktionsverboten sind möglich. Der Fall Osram ist aber auch eine Blaupause für das, was auf die Beschäftigten in der Autoindustrie und anderen Industriezweigen zu kommt. Die sozialen Folgen einer Umstellung auf umweltfreundliche Produktion und Produkte werden gnadenlos auf die Beschäftigten abgewälzt[1]SZ v. 16./17.2.2019 S. 25.

Es ist sehr wichtig, das offen zu legen: Es ist nicht die Umstellung auf eine umweltfreundliche Produktion selbst, sondern die Art und Weise, wie diese Umstellung vollzogen wird, die zu schweren Belastungen bei den Beschäftigten führt. Es ist die Abwälzung der Lasten dieser Umstellung auf die Beschäftigten durch die Unternehmen, die bekämpft werden muss. Das ist eine gewaltige Aufgabe: Je entschiedener der Umweltschutz ist, desto heftiger müssen sich die Beschäftigten gegen die Abwälzung der Lasten auf ihre Schultern wehren. Wird diesem Konflikt ausgewichen, kann die Verantwortung der Unternehmen nicht erkannt werden. Dann wendet sich der Widerstand nicht mehr gegen gegen den asozialen Vollzug durch das Kapital, nicht mehr gegen die Abwälzung der Folgen auf die abhängig Beschäftigten, sondern gegen die notwendigen Umweltschutzmaßnahmen selbst. Die gemeinsame Forderung von IG Metall und Unternehmern für eine Abwrackprämie auch für Verbrennungsmotoren ist ein Warnzeichen. Das darf sich nicht wiederholen.

Transformation und Krise

Die Situation ist seit Herbst 2019 nicht einfacher geworden. Schon im Herbst 2019 kündigte sich eine wirtschaftliche Krise an, die zu einer Erhöhung der Arbeitslosenzahlen, höherem Druck auf die Gewerkschaften und erkämpfte Leistungen führte. Diese Krise verschärfte sich seit dem Frühjahr diesen Jahres durch die COVID-19 Pandemie. Es ist völlig offen, in welchem Umfang Kurzarbeit eine ‚Brücke‘ zur Weiterbeschäftigung und nicht zur Arbeitslosigkeit bilden wird. In der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 wurden 1,4 Millionen auf Kurzarbeit gesetzt. Im April 2020 wurden laut Bundesanstalt für Arbeit dagegen weit 6 Millionen in Kurzarbeit geschickt, im Mai 5,8 Millionen und im Juni immer noch 5.4 Millionen. Im Juli 2020 hatte sich die Zahl der Arbeitslosen – im Vergleich zum selben Monat im Vorjahr – um über 600.000 erhöht; das ist eine Erhöhung der Arbeitslosenrate um 1,3 %. Inzwischen ist die Arbeitslosigkeit wieder zurückgegangen und auch die Kurzarbeit hat abgenommen und alle feiern das als Erfolg. Doch die Pandemie hat Spuren hinterlassen und das Thema der ökologischen Transformation eine dramatische Zuspitzung erfahren. Arbeitsplätze, die nicht klimaneutral sind, sind keine zukunftssicheren Arbeitsplätze. Verschärfend kommt die Digitalisierung von Arbeitsprozessen hinzu, die bisher nur als menschliche Tätigkeiten denkbar waren. Diese Situation nutzt das Kapital rigeros aus, um seine Profite weiter zu steigern. Eine entschiedene Lösung gegen das Kapital wird immer dringlicher.

Ein Plan muss her: Ein Plan für die ganze Wirtschaft, die Branche, das Unternehmen und jeden Betrieb

Die IG Metall fordert in ihrem Transformationsatlas vom Juni 2019 „betriebliche Zukunftsvereinbarungen, die mittel- und langfristige Investitionsentscheidungen, Standortsicherung, Kündigungsschutz und Personalentwicklung beinhalten“.

Das ist ein Anfang. Aber was folgt daraus?

Es muss ein konkreter Plan her, der nicht von den Unternehmen definiert ist, sondern von den Beschäftigten, ihren Gewerkschaften und der Umweltbewegung. Bisher wird die Umstellung auf ein umweltverträgliches Wirtschaften viel zu sehr den Unternehmen überlassen und von den Unternehmen beeinflusst. Der Plan der Beschäftigten, Gewerkschaften und Umweltbewegung muss konkret sein, er muss also genau festlegen, bis zu welchem Zeitpunkt und in welchen konkreten Schritten die umweltzerstörenden Schadstoffe beseitigt und Klimaneutralität umgesetzt ist. Das Motto muss lauten: Verteidigung von Umweltschutz und sozialen Standards. Volle Klimaneutralität schneller als bisher geplant und von denen finanziert, die es bezahlten können.

Die Unternehmen dürfen die Lasten nicht auf ihre Beschäftigten abwälzen.

Dazu ist erstens notwendig, dass der Plan eine Vorausschau enthält, in der der Verlust von Arbeitsplätzen verzeichnet ist, der durch die Einstellung von umweltschädlichen Produktionen entsteht – aufgeschlüsselt nach Branchen, Unternehmen und Betrieben.

Dazu ist zweitens notwendig, dass umweltverträgliche Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden. Zum Beispiel indem zusätzliche Stellen im Öffentlichen Personen-Nahverkehr oder Gesundheitswesen geschaffen werden. Diejenigen, die ohne Arbeit sind, müssen alle die gleichen Chancen haben. Es müssen also ausreichend zumutbare Arbeitsplätze für alle angeboten werden. Dabei reichen nicht Versprechungen, vielmehr sind verbindliche Verpflichtungen notwendig.

Und dazu ist drittens erforderlich, dass die vorhandene Arbeit auf alle verteilt wird. Wenn weniger Arbeit da ist, darf das nicht in Arbeitslosigkeit für wenige enden, sondern muss in Arbeitszeitverkürzung für alle münden. Und auch hier wieder ist die entscheidende Frage: Wer zahlt? Bezogen auf Arbeitszeitverkürzung ist das die Frage nach dem Lohnausgleich.

Eine Transformation muss die ganze Wirtschaft im Blick haben, nicht nur den einzelnen Betrieb, das einzelne Unternehmen oder eine Branche. Wenn wir zum Beispiel den öffentlichen Personennahverkehr und den Gesundheitssektor ausbauen, aber den Individualverkehr zurückdrängen wollen, dann sind das Umschichtungen, die über die Autobranche hinausgehen.

Rechtlosigkeit der Betriebsräte – Transformation durch Tarifvertrag

Es ist aber nicht möglich, das über Betriebsräte zu erzwingen. Die Zahl der Betriebe und Büros ohne Betriebsrat nimmt stetig zu. Wenn Beschäftigte sich nicht organisieren, wenn Beschäftigte keinen Betriebsrat wählen, verkennen sie die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen. Aber es ist nicht nur das. In den großen Betrieben existieren Betriebsräte. Doch diesen Betriebsräten fehlen alle Rechte, um die Beschäftigten vor Kündigungen zu schützen. Die Betriebsräte müssten nicht nur ein Initiativrecht bekommen, um eine ausreichende Qualifizierung der Beschäftigten für die Tätigkeit an den Ersatzarbeitsplätzen durchsetzen zu können. Sie müssten auch ein Initiativrecht bekommen, um umweltfreundliche Ersatzarbeitsplätze durchsetzen zu können. Sie müssten auch Regelungen über die notwendige Investitionen für umweltfreundliche Ersatzarbeitsplätze durch den Arbeitgeber erzwingen können. Sie brauchten ein als Initiativrecht ausgestaltetes Mitbestimmungsrecht in wirtschaftlichen Angelegenheiten, also in den Angelegenheiten, bei denen über das „Was“, das „Ob“, „Wann“, „Wo“ und den „Umfang“ einer Produktion oder Dienstleistung entschieden wird. Es geht darum, den guten gewerkschaftlichen Anspruch nach einer ökologischen, sozialen und demokratischen Transformation auch durchsetzbar zu machen.

Vor 100 Jahren, im Frühjahr 1919, streikten Hunderttausende Beschäftigte in Berlin für das Recht von Betriebsräten, „entscheidenden Einfluss auf Produktions-, Lohn- und Arbeitsverhältnisse“[2]zitiert nach Axel Weipert „Demokratisierung von unten? Vom erfolreichen Scheitern einer Massenbewegung“ in: Dokumentation des Symposiums Die unvollendete Revolution 1918/19, Verlag … Continue reading zu nehmen. „Das Ziel ihrer Tätigkeit muss die schleunige Sozialisierung des Wirtschafts- und Staatslebens sein“[3]a.a.O.. Die Sozialisierung, das heißt die Überführung in Gemeineigentum, wurde bis heute nicht durchgesetzt, ist aber weiter nach Art. 15 Grundgesetz möglich.

Das Betriebsrätegesetz von 1920 enthielt keine Regelungen, mit denen der ein Jahr zuvor  geforderte „entscheidenden Einfluss auf die Produktionsverhältnisse“ erfüllt worden wäre. Anders das Betriebsrätegesetz, dass der Hessische Landtag 1948 mit den Stimmen von SPD, CDU und KPD beschloss[4]Das hessische Betriebsrätgesetz, Vorwort: Arbeitsminister Arndgen, CDU Frankfurt a.M. 1948 3. Auflg.f.. Doch gegen die die auch in einigen anderen Ländern wie z.B. in Württemberg-Baden eingeräumten Mitbestimmungsrechte bei wirtschaftlichen Angelegenheiten intervenierte zunächst die US-Militärregierung; dann drehte 1952 die Adenauer-Regierung mit dem Betriebsverfassungsgesetz alles wieder zurück.

Selbstverständlich ist auch derzeit notwendig, gegenüber der Regierung und den sie tragenden tragenden Parteien Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte in wirtschaftlichen Angelegenheiten einzufordern. Aber es ist erstens nicht zu erkennen, dass CDU und SPD bereit wären, darauf einzugehen. Zweitens sind Rechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz und die darauf beruhenden Vereinbarungen immer nur auf einen Betrieb oder ein Unternehmen beschränkt. Drittens müssen im Falle der Nichteinigung mit dem Unternehmen Betriebsräte den Konflikt komplett aus der Hand geben, weil dann in der so genannten Einigungsstelle die Stimme des Vorsitzenden – in der Regel ein Richter oder eine Richterin – den Ausschlag gibt. Und viertens und am Wichtigsten: Die Betriebsräte unterliegen der Friedenspflicht und haben damit nur die Verhandlungsmacht, die ihnen das Betriebsverfassungsgesetz zugesteht. Eine zusätzliche Verhandlungsmacht durch Arbeitsniederlegung wie beim Tarifvertrag können sie nicht aufbauen. 

Auch wenn allgemein gilt, dass seit Jahren die Zahl der tarifgebundenen Arbeitsplätze abnimmt und mittlerweile auf unter 50 % gesunken ist, besteht kein Zweifel, dass in vielen großen Betrieben die Beschäftigten immer noch gut organisiert sind. Das gilt ganz besonders für die Autobranche. Tarifliche Vereinbarungen im Betrieb, vor allem aber auch tariflichen Vereinbarungen in der Fläche sind also möglich.

Alles spricht daher für eine Lösung durch Tarifvertrag. Dann liegt es ausschließlich in der Hand der Beschäftigten, wie viel Verhandlungsmacht aufgebaut wird. Dann entscheidet im Konfliktfall auch kein Vorsitzender einer Einigungsstelle. Die Beschäftigten können sich dann die Rechte selber erkämpfen, die sie brauchen. Alles hängt von ihrer Entschiedenheit ab. Die Beschäftigten können nicht warten. Die Umweltzerstörung geht weiter. Deswegen muss jetzt etwas geschehen. Die Transformation muss jetzt beginnen. Die Beschäftigten müssen jetzt die Umwelt und ihre sozialen Standards verteidigen.

Eine andere Welt ist möglich: Strukturfonds und Investitionslenkung 

Der Erste Vorsitzende der IG Metall Jörg Hofmann forderte auf einer Kundgebung am 29. Juni 2019 vor dem Brandenburger Tor: „Zukunftsinvestitionen statt Standortsterben, das ist unsere Forderung! Warum werden nicht staatlich garantierte Strukturfonds geschaffen, die das notwendige Kapital für den Wandel ermöglichen? Wir brauchen mehr staatliches Engagement! “. Die Qualität solcher Fonds muss sich daran messen lassen, wie viel und von wem eingezahlt wird und wer über die Vergabe der Gelder aus dem Fond entscheidet, damit rasch und wirksam die ökologischen Ziele erreicht und ausreichend zumutbare Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden.

Der „Sprung von Wirtschaft und Industrie in ein nichtfossiles Zeitalter“, wie ihn Jörg Hofmann  fordert, wird allerdings nicht durch die Optimierung des Verbrennungsmotors erreicht, wie ebenfalls von Jörg Hofmann gefordert, sondern nur durch die Abschaffung des Verbrennungsmotors – auch deswegen, weil das nur begrenzt vorhandene Öl zu kostbar ist, um es zur Fortbewegung in einem Motor zu verbrennen.

Strukturfonds, wie sie der Erste Vorsitzender der IG Metall vorschlägt, können durch eine steuerliche Abgabe finanziert werden und auch über einen Tarifvertrag, der alle Unternehmen zu einer derartigen Abgabe verpflichtet.

Die US-Amerikanerin Alexandra Ocasio-Cortez, eine Abgeordnete der Demokraten, die sich als demokratische Sozialistin bezeichnet, hat den “Green New Deal” ausgerufen: 100 % der amerikanischen Energie sollen binnen 10 Jahren aus erneuerbaren Quellen stammen und eine Null-Emissionen – Bilanz garantieren. Ihr Modell sieht einen Steuersatz von 70 % für Einkommen von über 10 Millionen Dollar vor. Mit den zusätzlichen Einnahmen von 700 Milliarden Dollar aus dieser erhöhten Besteuerung der sehr Reichen sollen ihre klimapolitischen Vorschläge finanziert werden.  

Es kommt darauf an, konkrete Maßnahmen zur Durchsetzung der Klimaneutralität auf den Weg zu bringen, zum Beispiel konkrete Maßnahmen zur massiven Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs in Stand und Land.

Eine Machtfrage

Wenn wir uns also entscheiden, diesen Prozess der Umstellung voranzutreiben, ohne dass die Beschäftigten Angst vor Arbeitslosigkeit haben müssen, dann ist das eine klare Kampfansage an das Kapital. Wir haben es schon gesagt: Die einfachste Lösung für das Kapital ist, überflüssige Beschäftigte zu entlassen. So wurde es am Ende immer gemacht. Auch die gegenwärtigen Ankündigungen der Unternehmensspitzen haben nichts anderes im Sinn. Das Kapital hat Umstrukturierungen bisher immer genutzt, um seine Position zu stärken. Für andere Lösungen bedarf es eines enormen Drucks von unten, weil es um nichts weniger geht als die Machtverhältnisse in den Betrieben und in der Wirtschaft insgesamt umzukehren.

Soll die Forderung nach einer ökologischen, sozialen und demokratischen Transformation nicht reines Wunschdenken bleiben, muss also vor allem diese Frage in den Mittelpunkt gerückt werden: Wie kann es gelingen, Gegenmacht aufzubauen? Die Frage der Transformation ist eine Machtfrage. Sucht man nach den Kräften gegen diese Krisen kann man sie nicht bei denen finden, die das ökologische Desaster verursacht haben. Eine Zusammenarbeit mit dem Kapital macht uns nicht stark gegen das Kapital.           

Die große Kundgebung der IG Metall am 29. Juni 2019 vor dem Brandenburger Tor war eindrucksvoll, aber wo sind die Konsequenzen? Aus allen sieben Bezirken der IG Metall – Baden-Württemberg, Bayern, Küste, Mitte, Niedersachsen, Berlin-Brandenburg-Sachsen und Nordrhein-Westfalen – waren die Kolleginnen und Kollegen zum Teil schon einen Tag vorher angereist. Über 50.000 Menschen beteiligten sich an der Kundgebung. Überall die Farbe Rot – vom Brandenburger Tor bis weit in Richtung großer Stern. Viele junge Menschen. Viele zeigten sich als Vertrauensleute: Die Vertrauensleute Saarstahl, die Vertrauensleute Siemens Gasturbinenwerk, die Vertrauensleute Faun Bremen usw. Ihre Losungen: „Sauberes Klima schafft Arbeitsplätze in der Heizungsindustrie, in der ökologischen Stromversorgung, im Fachhandwerk“, “Ohne Plan? Ohne Uns!“, „Die Uhr tickt“, „Fight for your Rights!“, „Die Republik braucht Streik!“. 

Einen Monat zuvor im Mai 2019 hatte die Süddeutsche Zeitung (SZ) einen Aufruf der jungen Klimabewegung an die Welt unter der Überschrift „Streik!“ veröffentlicht. Die Erwachsenen antworteten auf derselben Seite unter der Überschrift „Zeitenwende“ mit folgendem Aufruf: „Am Freitag, den 20. September werden wir auf Bitte der jungen Menschen, die rund um die Welt Schulstreiks organisieren, unsere Arbeitsplätze und Wohnungen verlassen, um einen Tag lang Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern, die große existenzielle Bedrohung der gesamten Menschheit. … Wir hoffen, dass sich uns viele Menschen anschließen … Überall auf dem Planeten sind Formen eines Green New Deal vorgeschlagen worden, Gesetze, die rasch fossile Energiequellen durch Energie aus Sonne und Wind ersetzen würden und dabei für gute Jobs sorgen …“. Unterschrieben hatten diesen Aufruf Frauen und Männern aus der Wissenschaft, aus der Kunst und der Umweltbewegung. Dieser Aufruf war nicht nur ein Aufruf, die eigenen Interessen zu verteidigen, sondern auch den Gedanken der generationsübergreifenden Solidarität zu stärken. Der Aufruf führte am 20. September 2019 zu einer eindrucksvollen Demonstration von über eine Millionen Menschen für den Klimaschutz, aber nicht zu einem Streik. Ein Streik ist eine Arbeitsniederlegung.

Wie kann es weitergehen?

Eine ökologische Wende muss radikal sein, weil die Zeit abläuft. Eine ökologische Wende, kann aber nur radikal sein, wenn sie von den Beschäftigten und der Umweltbewegung zusammen durchgesetzt wird. Das sind oft genug die Eltern und ihre Kinder. Für diesen engen Schulterschluss ist es notwendig, dass sich die Gewerkschaften radikalisieren. Das scheint utopisch zu sein, aber ich sehe keinen anderen Weg. Die Zusammenarbeit, die ver.di und Fridays-for-future beschlossen haben, sind ein hoffnungsvolles Zeichen. Aber diese Zusammenarbeit muss umfassender werden. Die Beschäftigten müssen sich von den Vorgaben der Unternehmen befreien, die in der Wirtschaft das Sagen haben und daher die Beschäftigten für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Und die Umweltbewegung muss sich intensiv mit der Frage beschäftigen: “Wer soll die Transformation bezahlen?” und gegen die Unternehmen mobilisieren, die die Umwelt, aber nicht ihre Beschäftigten schützen wollen. Dann werden die widerständigen Schülerinnen und Schüler von heute die widerständigen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter von morgen sein, die ihre fehlende Staatstreue und ihren Ungehorsam, den sie in der Schule zeigen, in die Betriebe und Verwaltungen tragen.


References

References
1 SZ v. 16./17.2.2019 S. 25
2 zitiert nach Axel Weipert „Demokratisierung von unten? Vom erfolreichen Scheitern einer Massenbewegung“ in: Dokumentation des Symposiums Die unvollendete Revolution 1918/19, Verlag 1918unvollendet, Juni 2019
3 a.a.O.
4 Das hessische Betriebsrätgesetz, Vorwort: Arbeitsminister Arndgen, CDU Frankfurt a.M. 1948 3. Auflg.f.

Wie binden Urteile des EGMR deutsche Gerichte?

8. Februar 2021 von benhop

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und die Europäische Menschenrechtskonvention

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) – nicht zu verwechseln mit dem Gerichtshof der Europäischen Union in Brüssel (EuGH) – überwacht die Einhaltung der Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegt sind, und ist die ‚allerletzte Instanz’ für 800 Millionen Menschen. Dazu gehören alle Länder, die sich durch Vertrag an die EMRK gebunden haben. Das sind nicht nur alle Länder der EU, sondern auch Länder wie die Türkei und Russland und eben auch das Fürstentum Liechtenstein. Die EMRK wurde 1950 beschlossen und ist stark der Allgemeinen Erklärung der nachgebildet, die von der UNO beschlossen wurde. Die UNO, das sei hier auch erwähnt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Konsequenz aus den Verheerungen des Faschismus gegründet. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO und auch die EMRK stehen in dieser Tradition.

Nach Erfolg in Straßburg Wiederaufnahme in Deutschland möglich

Anders als die Menschenrechte der UNO haben die Menschenrechte der EMRK allerdings eine viel stärkere Bindungswirkung: Sie können individuell gerichtlich geltend gemacht werden, eben beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Wird dort eine Beschwerde gewonnen, so erlaubt sowohl die Strafprozessordnung (StPO) als auch die deutsche Zivilprozessordnung (ZPO), das ganze Verfahren in Deutschland wieder aufzurollen.

Dazu grundlegend dazu BVerfG v. 14.10.2004 2 BvR 1481/04:

„Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit ist festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber im Jahr 1998 mit § 359 Nr. 6 StPO einen neuen Wiederaufnahmegrund für strafrechtliche Verfahren in das Strafprozessrecht eingefügt hat … Danach ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht. Die Gesetzesänderung beruht auf dem Gedanken, dass eine im konkreten Einzelfall in ihrer Wirkung andauernden Konventionsverletzung jedenfalls in dem besonders grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts ungeachtet bereits eingetretener Rechtskraft beendet werden soll, wenn das Urteil des Gerichtshofs für das nationale Verfahren entscheidungserheblich ist …“

Diese Ausführungen des BVerfG stammen aus dem Jahr 2004. Inzwischen ist auch in der Zivilprozessordnung eine entsprechende Regelung aufgenommen worden. Eine so genannte Restitutionsklage (§ 580 Nr. 8 ZPO) ist möglich, „wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention für Menschenrechte zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 

Der Fall Heinisch ./. Vivantes

Auf dieser rechtlichen Grundlage hatte schon die Altenpflegerin Brigitte Heinisch nach erfolgreicher Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR vom 21.07.2011 Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland) ihren Rechtstreit um ihre Kündigung durch das Krankenhaus-Unternehmen Vivantes erfolgreich vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wieder aufrollen können.

„Eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als Völkervertragsrecht haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. … Die Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren Beteiligten Parteien verbindlich sind …“ (BVerfG v. 14.10.2004 2 BvR 1481/04 Rn. 38).

Der Fall Gawlik ./. Liechtenstein

Nun könnte man einwenden, dass Deutschland an dem Verfahren Gawlik ./. Liechtenstein (EGMR v. 16.02.2021 Nr. 23922/19) nicht als Partei beteiligt war und deshalb das Urteil für Deutschland nicht verbindlich ist. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Wenn sich ein solcher Fall in Deutschland ereignen würde und wenn dann in Deutschland so entschieden würde wie dieser Fall in Liechtenstein entschieden wurde, dann könnte die unterlegene Partei unter Berufung auf das Urteil Gawlik ./. Liechtenstein (EGMR v. 16.02.2021 Nr. 23922/19) zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen und wird Recht bekommen. Der EGMR wird gegenüber Deutschland nicht anders entscheiden wie gegenüber Liechtenstein. Genauso haben wir es im vorliegenden Fall gemacht, nur mit umgekehrten Rollen. Wir haben uns auf die Entscheidung der Altenpflegerin Heinisch ./. Deutschland (EGMR vom 21.07.2011 Nr. 28274/08) berufen, obwohl der vorliegende Whistleblower-Fall sich gegen Liechtenstein richtete. Liechtenstein hat verloren, weil der Fall Heinisch ./. Deutschland einen Rechtssatz, das heißt eine allgemeine Rechtsaussage, enthielt, die zu dem vorliegenden Fall passte und nach unserer Auffassung in der Entscheidung in Lichtenstein nicht beachtet wurde.

Wie prüfte der EGMR Whistleblower-Fälle?

8. Februar 2021 von benhop

Welchen Maßstab hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt, um Whistleblower-Fälle zu entscheiden?

1. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Der Gerichtshof urteilte zwar nur in einem Einzelfall, der Kündigung der Brigitte Heinisch wegen ihrer Strafanzeige gegen die eigene Arbeitgeberin. Aber die Maßstäbe, die der Gerichtshof dabei entwickelt, gehen weit über den Einzelfall hinaus. Diese Maßstäbe sind übertragbar auf die rechtliche Bewertung anderer Anzeigen von internen Missständen.

Nicht nur ein Flugblatt über Missstände im Betrieb, sondern auch eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber ist eine Meinungsäußerung, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt wird1.

Die Europäische Menschenrechtskonvention regelt allerdings auch, dass unter bestimmten Umständen in das Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen werden darf2. Die Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung müssen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Da ohne Frage die Kündigung der Brigitte Heinisch wegen ihrer Strafanzeige ein Eingriff in ihr Recht der freien Meinungsäußerung war3, hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob dieser Eingriff nach den Maßstäben der Menschenrechtskonvention „notwendig“ und damit gerechtfertigt war und ihre Arbeitgeberin Vivantes ihr kündigen durfte.

Das entscheidet der Gerichtshof über eine Interessenabwägung4.

2. Die Interessenabwägung

Diese Interessenabwägung kann man sich an einer Waage mit zwei Waagschalen veranschaulichen. Der Gerichtshof stellt die widerstreitenden Interessen von Beschäftigtem und Unternehmen gegenüber, wirft in die eine Waagschale die Interessen des Beschäftigten und in die andere Waagschale die Interessen des Unternehmens. Dann gewichtet er diese Interessen. Die Partei hat gewonnen, deren Waagschale sich am Ende herab senkt, weil in ihrer Waagschale die Interessen mit dem größeren Gewicht versammelt sind.

Indem der Gerichtshof die widerstreitenden Interessen benennt und gegenüberstellt, wird zunächst einmal deutlich, dass ein Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit existiert. Schlagartig wird es der ganze Dunst weggeblasen, mit dem Unternehmen tagtäglich und andauernd den realen Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital vernebeln wollen. Der Gerichtshof wirft in die Waagschale des Beschäftigten dessen Interesse, seine Meinung frei zu äußern und betriebsinterne Missstände und Gefahren extern bekannt zu machen, und in die Waagschale des Unternehmens wirft er dessen geschäftliches Interesse, das den abhängig Beschäftigten zur Loyalität und deswegen zu mehr oder weniger umfassendem Schweigen verpflichtet5.

2.1. Gesichtspunkte bei der Interessenabwägung

Der Gerichtshof berücksichtigte in seiner Interessenabwägung zusätzliche Gesichtspunkte, anhand derer er die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägt

2.1.1 Gesichtspunkt: Das öffentliche Interesse

Besonderes Gewicht bekommt das Interesse des Beschäftigten, seine Meinung frei zu äußern, wenn ein öffentliches Interesse an den aufgedeckten Informationen besteht6.

Der Gerichtshof stellt im Fall Heinisch ./. Deutschland fest: Die von Brigitte Heinisch aufgedeckten Informationen waren unbestreitbar von öffentlichem Interesse. In Gesellschaften, in denen ein ständig wachsender Teil ihrer älteren Bevölkerung auf Pflegeeinrichtungen angewiesen ist, und unter Berücksichtigung der besonderen Verwundbarkeit der Heimbewohner, die oft nicht in der Lage sein dürften, aus eigener Initiative die Aufmerksamkeit auf Pflegemängel zu lenken, ist die Verbreitung der Informationen über Qualität oder Mängel solcher Pflege zur Missbrauchsverhinderung von grundlegender Bedeutung7.

2.1.2 Gesichtspunkt: Pflicht zur Loyalität – Interne Meldung, externe Meldung oder Öffentlichmachung?

„Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden. Nur wenn dies eindeutig unpraktikabel ist, darf als ultima ratio die Öffentlichkeit informiert werden. Für die Beurteilung, ob die Einschränkungen der Meinungsfreiheit verhältnismäßig war, muss der Gerichtshof daher berücksichtigen, ob dem Beschwerdeführer andere wirksame Mittel zur Verfügung standen, um etwas gegen den angeprangerten Missstand zu tun (siehe Guja, a.a.O., Rn. 73)“8.

Aus diesen Sätzen wollten manche Juristen9 neben dem ausdrücklich als letzten Schritt („ultima ratio“) hervorgehobenen Gang in die Öffentlichkeit, also der Information von Presse, Funk und Fernsehen, auch eine Festlegung in der Reihenfolge sehen, nach der zuerst Hinweise an Vorgesetzte – die betriebs- bzw. unternehmensinterne Meldung – gegeben werden müssen, bevor andere zuständige Stellen oder Einrichtungen unterrichtet werden, also Missstände extern an eine zuständige Behörde weiter gegeben werden, zum Beispiel an das Gewerbeaufsichtsamt, die Lebensmittelkontrolle, das Amt für Arbeitsschutz oder die Staatsanwaltschaft. Eine solche Reihenfolge – zuerst interne, dann externe Meldung an die zuständige Behörde – ist aus dieser und anderen Urteilen des EGMR nicht zu entnehmen10.

Zu dieser Frage gab es einen massiven Streit in den Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament, Kommission und Rat über die Whistleblower-Richtlinie der EU11. Am Ende einigte man sich so, dass ein Whistleblower frei wählen kann, ob er zunächst einen Missstand intern meldet oder sofort diesen Missstand an eine zuständige externe Behörde weiter gibt12. Doch jetzt wird versucht, auf dem Wege der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht die Uhren wieder zurückzudrehen: „Es kursiert die Idee, die Richtlinie müsse im Wege der Auslegung dahingehend ergänzt werden, dass der Whistleblower, um geschützt zu sein, doch erst intern Meldung erstatten müsse, wenn ihm dies zumutbar sei“13.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland wurde Brigitte Heinisch vorgeworfen, sie habe die Missstände nicht zuerst intern gemeldet, bevor sie extern Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin erstattete. Dieser Vorwurf ging nicht nur deswegen ins Leere, weil Brigitte Heinisch nach der Rechtsprechung des EGMR nicht dazu verpflichtet war, die Missstände erst intern zu melden, sondern auch deswegen weil, wie der Gerichtshof feststellte, Brigitte Heinisch nicht nur mehrmals zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 ihren Vorgesetzten gegenüber äußerte, dass sie überlastet sei, sondern mit dem Schreiben ihres Rechtsanwalts vom 9.11.2004 an die Geschäftsführung der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbHauch die Geschäftsleitung vor einer möglichen Strafanzeige warnte14.

Sollten Whistleblower auch dann Schutz genießen, wenn sie die Meldung gegenüber einer Behörde erstatten, die unzuständig ist?

In der ausgezeichneten Stellungnahme von Ninon Colneric und Simon Gardemann zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie (EU) in deutsches Recht wird dazu folgende Empfehlung gegeben: „Im Rahmen der nationalen Umsetzung sollten auch andere interne und externe Adressaten als schutzauslösend anerkannt werden, sofern der Whistleblower in gutem Glauben annehmen durfte, dass diese hinsichtlich der konkreten Verstöße abhilfefähig, also zur Einleitung von Folge – oder Schutzmaßnahmen zuständig und befugt sind“15.

2.1.3. Gesichtspunkt Authentizität: Wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht?

Ein weiterer Gesichtspunkt bei der Interessenabwägung ist die so genannte Authentizität: „Jede Person, die Missstände meldet, muss, „soweit die Umstände dies erlauben, sorgfältig prüfen, ob die Informationen zutreffend und zuverlässig sind – insbesondere, wenn die Person … ihrem Arbeitgeber gegenüber zur Diskretion und Loyalität verpflichtet ist“16. Von dieser Verpflichtung wird in einem Arbeitsverhältnis ausgegangen. Im Fall einer Strafanzeige kommt es dabei drauf an, ob der oder die Anzeigende wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat17.

Das war auch der Gesichtspunkt, unter dem der Gerichtshof die Berechtigung der Kündigung der Brigitte Heinisch durch Vivantes abwog. Dabei zog er eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts heran: Jeder Bürger hat das Recht, eine Strafanzeige zu erstatten. Das gilt auch, wenn sich diese Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber richtet und der Arbeitgeber durch diese Strafanzeige einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt wird. Das Bundesverfassungsgericht macht jedoch eine wesentliche Einschränkung: Der abhängig Beschäftigte darf nicht bewusst oder leichtfertig falsche Angaben machen18.

Dass die Erstattung einer Strafanzeige auch gegen den eigenen Arbeitgeber ein staatsbürgerliches Recht ist, das nicht durch den angezeigten Arbeitgeber sanktioniert werden darf – diesen Grundsatz hatte also das Bundesverfassungsgericht selbst aufgestellt19. Deswegen wäre auch die Verteidigung dieses Grundsatzes Sache des Bundesverfassungsgerichts selbst gewesen. Weil das Bundesverfassungsgericht jedoch die Beschwerde der Brigitte Heinisch nicht annahm, überließ es dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Aufgabe, der Anwendung dieses Grundsatzes den Weg frei zu machen.

Der Gerichtshof stellte im Fall Heinisch fest: Es gibt keinen Grund für die Feststellung, dass Brigitte Heinisch wissentlich und leichtfertig falsche Angaben gemacht hat20. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hatte bei seinen Kontrollen in den Jahren 2002 und 2003 schwere Pflegemängel festgestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte in seinen Berichten auch darauf hingewiesen, dass es der Personalmangel war, der zu Pflegemängeln geführt hatte21.

Darüber hinaus ist es hauptsächlich Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe aus einer Strafanzeige zu prüfen. Eine Person, die in gutem Glauben eine solche Anzeige erstattet hat, kann außerdem nicht vorher sehen, ob die Ermittlungen zu einer Anklage oder einer Verfahrenseinstellung führen werden22. Das kann auch nicht erwartet werden23.

Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist es den deutschen Gerichten verwehrt, die Anforderungen an eine Strafanzeige in der Weise zu überziehen, wie es das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg getan hatte, und dem Anzeigenden die Ermittlungen aufzubürden, die die Staatsanwaltschaft zu leisten hat.

Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auch auf entsprechende Leitsätze der Parlamentarischen Versammlung, wonach bei jedem Wistleblower davon ausgegangen werden sollte, dass er in gutem Glauben gehandelt hat, soweit er vernünftige Gründe für die Annahme hatte, dass die offen gelegten Informationen wahr waren, selbst wenn sich später herausstellt, dass dies nicht der Fall war, und vorausgesetzt, dass er keine rechtswidrigen und unethischen Ziele verfolgt hat24.

2.1.4. Gesichtspunkt: Guter Glaube des Whistleblower

Unter diesem Gesichtspunkt handelt der EGMR die Beweggründe des Whistelblowers ab. Dabei kommt es etwa darauf an, ob der Whistleblower bewusst und vorsätzlich eine Falschmeldung anzeigt, nur um anderen zu schaden.

Entgegen der Meinung des Landesarbeitsgerichts Berlin, Brigitte Heinisch habe beabsichtigt, durch Provokation einer öffentlichen Debatte unangemessenen Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben, steht für den Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch in gutem Glauben und in der Überzeugung handelte, dass es im Interesse der Allgemeinheit ist, die mutmaßlichen Rechtsverletzungen ihrer Arbeitgeberin bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen25. In der Erfahrung der Brigitte Heinisch hatten die früheren Bemänglungen von Missständen im Pflegeheim durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu keinerlei Veränderungen geführt. Nach ihren zahlreichen innerbetrieblichen Beschwerden gegenüber Vivantes, die alle erfolglos waren, war sie der Ansicht, dass eine Strafanzeige das letzte Mittel zur Behebung der Pflegemängel sei26.

2.1.5. Gesichtspunkt: Schaden des Arbeitgebers

In die Waagschale der Arbeitgeberin wirft der Gerichtshof den Schaden, den sie erlitten hat.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland hatten die Betrugsvorwürfe in der Strafanzeige dem geschäftlichen Ruf und den wirtschaftlichen Interessen von Vivantes mit Sicherheit geschadet27.

2.2. Erste Interessenabwägung im konkreten Fall

Unter Beachtung der genannten Gesichtspunkte, die der Gerichtshof gewichten muss, wägt er danach die Interessen der beiden Parteien gegeneinander ab.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland fasste der Gerichtshof das Ergebnis seiner Interessenabwägung so zusammen: „Angesichts dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Interesse der Allgemeinheit, über Defizite bei der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen informiert zu werden, in einer demokratischen Gesellschaft so wichtig ist, dass es das Interesse am Schutz des geschäftlichen Rufs und der Interessen dieses Unternehmens überwiegt“28. Die Waage der Justiz hatte sich zugunsten von Brigitte Heinisch geneigt.

2.3 Zweite Interessenabwägung: Verhältnismäßigkeit zur Schwere der Sanktion

Dann wägt der Gerichtshof ein weiteres Mal ab. Er stellt das Ergebnis der ersten Interessenabwägung den Sanktionen gegenüber, die dem Whistleblower auferlegt wurden. Dabei wird insbesondere die Schwere der Sanktion berücksichtigt, zum Beispiel ob dem Whistleblower fristlos gekündigt oder er nur abgemahnt wurde.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland stellte der Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch mit der fristlosen Kündigung „die härteste arbeitsrechtlich mögliche Sanktion auferlegt wurde. Dies wirkte sich nicht nur negativ auf den beruflichen Werdegang der Beschwerdeführerin aus29.

Und dann wird eine weitere schwerwiegende Folge festgestellt. Diese Feststellung ist sehr bemerkenswert, weil sie sich nicht auf die Beschwerdeführerin Brigitte Heinisch, sondern auf andere an dem Verfahren nicht unmittelbar Beteiligte bezieht: „Darüber hinaus könnte die Sanktion angesichts der Medienberichte über den Fall der Beschwerdeführerin auch eine abschreckende Wirkung für andere Arbeitnehmer im Pflegesektor haben“, nicht nur für Angestellte des Unternehmens, das der Beschwerdeführerin gekündigt hatte. Diese abschreckende Wirkung schadet der Gesellschaft als Ganzes und muss daher bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit und somit der Rechtsfertigung der Sanktionen, die der Beschwerdeführerin, die … zur Offenlegung … berechtigt war, auferlegt wurden, berücksichtigt werden … Dies gilt insbesondere für den Bereich der Altenpflege, bei dem Patienten oft nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbst zu verteidigen, und die Pflegekräfte die ersten sind, denen die unbefriedigenden Pflegebedingungen auffallen, und die deshalb am besten in der Lage sind, im Interesse der Allgemeinheit zu handeln und den Arbeitgeber oder die Öffentlichkeit auf Missstände hinzuweisen. Dementsprechend kommt der Gerichtshof zu der Einschätzung, dass die fristlose Kündigung der Beschwerdeführerin in der vorliegenden Rechtssache eine unverhältnismäßige schwere Sanktion darstellte“30.

3. Schlussfolgerung

Am Ende entscheidet der Gerichtshof, ob der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung „notwendig“ war (art. 10 Abs. 2 EMRK).

Im Fall Heinisch ./. Deutschland ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass der Eingriff in das recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung, insbesondere ihr recht, Informationen weiterzugeben, „in einer demokratischen Gesellschaft“ nicht „notwendig“ war31.

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………

1 EGMR v. 21. Juli 2011 Nr. 28274/08 (https://www.bmjv.de/SharedDocs/EGMR/DE/20110721_28274_08.html); dies war zwischen allen Beteiligten unumstritten

2 Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention wird in EGMR a.a.O. Rn. 41 zitiert. Der zweite Absatz lautet: „Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“.

3 EGMR a.a.O. Rn. 43-45

4 EGMR a.a.O. Rn. 51-94

5 Art und Umfang sind im Einzelnen zu bestimmen, EGMR a.a.O. Rn. 65

6 EGMR a.a.O. Rn. 66; der EGMR fügt hinzu: „Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach Art. 10 Abs.2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der öffentlichen Meinungsbildung gibt“.

7 EGMR a.a.O. Rn. 71

8 EGMR a.a.O. Rn. 65

9 Garden/Hiréamente, BB 2017, 365, 368 f

10 Dazu ausführlich: Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 91 ff.

11 Dazu sehr anschaulich und konkret: Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 84 ff.

12 Art. 10 der Wistelblower-Richtlinie der EU

13 siehe der Hinweis in Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 89 Fn. 255, wonach ein Vorrang der internen vor der externen Anzeige „auf einer Tagung der EIAS am 14./15.2.2020 in Hamburg erörtert wurde. Siehe auch – bezogen auf den Vorschlag der Kommission für die Wistleblower-Richtlinie der EU – Thüsig/Rombey, NZG 2018, 1001, 1003“.

14 EGMR a.a.O. Rn. 72. Der Gerichtshof verweist überdies in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 3. Juli 2003 2 AZR 235/02; der EGMR verweist in Rn. 35 und Rn. 73 auf diese Entscheidung). Danach ist es einem Arbeitnehmer nicht zumutbar, zunächst eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anzustreben, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Eine vorherige innerbetriebliche Klärung ist auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist

15 Empfehlung nach: Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 178 unter Ziff. 21.; Begründung dieser Empfehlung auf S. 80, 81

16 EGMR a.a.O. Rn. 77

17 Dazu der EGMR a.a.O. allgemein unter Rn. 67 und bezogen auf den vorliegenden Fall in den Rn. 77 ff.

18 Unter dieser Voraussetzung darf der Beschäftigte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Regel gegen den eigenen Arbeitgeber Strafanzeige stellen, BVerfG 2.7.2001 – BvR 2049/00, AuR 2002, 187; dazu Deiseroth, AuR 2002, 161: Das Bundesverfassungsgericht stützt sich dabei nicht auf das Recht der Meinungsfreiheit nach Art 5 GG, sondern auf Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip

19 BVerfG 2.7.2001 – BvR 2049/00, AuR 2002, 187; dazu Deiseroth, AuR 2002, 161; vgl. auch der Hinweis des EGMR auf diese Entscheidung in Rn. 34

20 Den Gerichtshof überzeugte auch nicht, dass das Landesarbeitsgericht deswegen die Strafanzeige als leichtfertig wertete, weil Brigitte Heinisch im Rahmen der Strafermittlungen gegen Vivantes die behauptete Anweisung zum Fälschen der Pflegedokumentation gegenüber der Staatsanwaltschaft bzw. der Polizei nicht konkretisierte und dort auch keine zusätzlichen Zeugen benannte. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieses Verhalten mit ihrer Angst, sich selbst zu belasten, sowie der Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen durch Vivantes erklärt werden kann. (EGMR a.a.O. Rn.79)

21 EGMR a.a.O. Rn. 81

22 EGMR a.a.O. Rn.80;

23 Der Gerichtshof verweist auf eine entsprechende Entscheidung des BAG vom 3. Juli 2003, wonach ein Arbeitnehmer, der in gutem Glauben von seinem verfassungsrechtlich garantierten Recht auf Erstattung von Strafanzeigen Gebrauch macht, keinen Nachteil dadurch erleiden darf, dass sich seine Behauptung im anschließenden Verfahren als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist, EGMR a.a.O. Rn.80.

24 EGMR a.a.O. Rn.80;

25 EGMR a.a.O. Rn. 82 ff

26 EGMR a.a.O. Rn. 84

27 EGMR a.a.O. allgemein dazu unter Rn. 68 und bezogen auf den vorliegenden Fall: Rn. 88

28 EGMR a.a.O Rn. 90.

29 EGMR a.a.O. Rn. 91

30 EGMR a.a.O. Rn. 91, 92

31 EGMR a.a.O. Rn. 93

Heinisch ./. Deutschland – Eine Altenpflegerin schlägt Alarm

1. Februar 2021 von benhop

Eine Altenpflegerin gewinnt vor dem EGMR gegen Deutschland

Benedikt Hopmann 1. Februar 2021 Brigitte Heinsch konnte die Missstände in dem Pflegeheim, in dem sie arbeitete nicht mehr ertragen. Es ging um schwere Pflegemängel wegen Personalmangel. Sie zeigte ihren Arbeitgeber deswegen bei der Staatsanwaltschaft an. Ihr wurde gekündigt. Sie klagte dagegen und gewann erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg1.

Ich habe damals Brigitte Heinisch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Anwalt vertreten und will den gesamten Rechtsstreit hier kurz schildern.


I. Sachverhalt:

1. Überlastungsanzeigen

Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch arbeitete in einem Altenpflegeheim der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH. Sie erlebte immer wieder die Überlastung der Pflegekräfte. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen beschwerten sich immer wieder, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. In einer Überlastungsanzeige vom 24. Januar 2003 teilten Brigitte Heinisch und sieben weitere Kolleginnen und Kollegen eines Wohnbereichs des Altenpflegeheims der Pflegedienstleitung Personalmangel und schwere Pflegemängel schriftlich mit2. Diese Überlastungsanzeige war whistleblowing.

Brigitte Heinisch beschreibt sehr anschaulich, welche Wirkung die gemeinsame Überlastungsanzeige auf sie hatte:

„Alle Kollegen hofften, endlich Gehör zu finden, damit sich die Arbeits- und Pflegebedingungen grundlegend verbessern würden“3.

Tatsächlich erfüllte sich diese Hoffnung nicht4. Der Personalmangel blieb und damit blieben auch die Pflegemängel.

Brigitte Heinisch und ihre Kolleginnen und Kollegen ließen weiter Überlastungsanzeigen folgen. Alle mit nur geringem oder keinem Erfolg.

2. Der Medizinische Dienst

Schon 2002 hatte der Medizinische Dienst der Krankenkassen in dem Pflegeheim eine gravierende Unterversorgung bei der täglichen Pflege festgestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kontrolliert die Pflegeheime und wird dazu von den Pflegekassen beauftragt wird. Im Juli 2003 untersuchte der Medizinische Dienst der Krankenkassen das Pflegeheim noch einmal. Er legte dazu seinen Bericht im November 2003 vor und fasste darin die festgestellten Pflegemängel zusammen: Unzureichende Personalbesetzung, mangelhafte Grundpflege, unzulängliche Versorgung. Der medizinische Dienst bemängelte auch die Dokumentation der Pflege. Der Medizinische Dienst drohte wegen der Mängel, den Versorgungsvertrag5 mit Vivantes zu beenden.

Es blieb bei der Drohung.

3. Die Strafanzeige

Im Mai 2003 erklärte Brigitte Heinisch gegenüber Vivantes, wegen der Unterbesetzung nicht mehr die Verantwortung für die Versorgungsmängel übernehmen zu können. Danach erkrankte Brigitte Heinisch wiederholt. Laut ärztlicher Bescheinigung war dies Folge der Arbeitsüberlastung6.

Im November 2004 wies der Anwalt von Brigitte Heinisch Vivantes schriftlich darauf hin7, dass wegen des Personalmangels eine ausreichende hygienische Grundversorgung nicht mehr garantiert werden könne. Er forderte die Geschäftsleitung auf, schriftlich zu erklären, wie sie vermeiden wolle, dass sich das Personal strafbar macht, und wie sie eine ausreichende Versorgung der Heimbewohner sicherstellen wolle. Er unterstrich gegenüber der Geschäftsleitung, dass sie nur dann, wenn dies gelänge, eine Strafanzeige oder eine öffentliche Debatte mit allen ihren negativen Implikationen vermeiden könne.

Die Geschäftsleitung wies diese Vorwürfe zurück8.

Anfang Dezember 20049 beauftragte Brigitte Heinisch ihren Rechtsanwalt Strafanzeige gegen Vivantes zu erstatten und bat die Staatsanwaltschaft, die Umstände des Falles unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu überprüfen10.

Im Mai11 wurde Brigitte Heinisch als Zeugin durch die Staatsanwaltschaft in dem Ermittlungsverfahren gegen Vivantes angehört. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt12.

4. Kündigungen u. Veröffentlichungen

Gut einen Monat nach dieser Strafanzeige13 kündigte Vivantes am 19. Januar 2005 Brigitte Heinisch wegen zu hoher krankheitsbedingter Fehlzeiten.

Brigitte Heinisch nahm gleich nach ihrer Kündigung Kontakt mit Freunden und der Gewerkschaft ver.di auf. Wenige Tage später veröffentlichten diese ein Flugblatt, in dem die Kündigung als Einschüchterungsversuch beschrieben, zur Gründung eines Solidaritätskreises aufgerufen und auf die Überlastungsanzeigen hingewiesen wurde14.

Brigitte Heinisch faxte dieses Flugblatt an das Pflegeheim, wo es verteilt wurde. Über dieses Flugblatt erfuhr Vivantes auch von der Strafanzeige von Brigitte Heinisch. Wegen „des dringenden Verdachts der Initiierung eines Flugblattes“ kündigte Vivantes Brigitte Heinisch am 9. Februar 2009 ein zweites Mal, dieses Mal fristlos15.

Über diese Kündigung wurde in einem Fernsehbericht16 und zwei Zeitungen berichtet17. Am 25. April 2005 kündigt Vivantes Brigitte Heinisch ein drittes Mal – wieder fristlos18. In dieser dritten Kündigung warf Vivantes Brigitte Heinisch vor, der Zeitung „Neues Deutschland“ Informationen für einen Artikel über Pflegemängel geliefert zu haben – Pflegemängel aus dem Heim, in dem sie arbeitete.

5. Vivantes bringt Kolleginnen gegen Brigitte Heinisch in Stellung

Die Pflegedienstleitung verlangte von den Kolleginnen und Kollegen, die folgende Erklärung zu unterschreiben:

„Wir die Kollegen der ehemaligen Mitarbeiterin Brigitte, möchten uns von den Vorwürfen der schlechten und unterlassenen Pflege in unserem Haus distanzieren. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, dass wir seit dem Ausscheiden der Kollegin Brigitte eine ausgeglichene und gute Arbeitsatmosphäre in unserem Team haben. Jeder Kollege unseres Teams ist bereit, den Versorgungsauftrag sicherzustellen, wie unsere Bewohner es benötigen und wünschen.“

Fast alle Kollegen und Kolleginnen unterschrieben die von der Pflegedienstleitung initiierte Erklärung. Aber Brigitte Heinisch hatte nie die Bereitschaft ihrer Kolleginnen bezweifelt, den Versorgungsauftrag sicherzustellen. Es ging ihr immer nur um den Personalmangel, der auch bei bestem Willen nicht zuließ, den Versorgungsauftrag zu erfüllen. Kolleginnen, die sich jetzt von Brigitte Heinisch distanzierten, hatten vorher mit ihr Überlastungsanzeigen verfasst.

Personalmangel führt zu Pflegemängeln. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen überprüfte nach der Kündigung im Jahre 2006 noch einmal das Pflegeheim. Er begutachtete bei acht Bewohnern deren Pflegezustand. Allein für fünf dieser acht Bewohner wurde wegen der Unterversorgung eine Beratung „über die Möglichkeit der Vermittlung in ein anderes Pflegeheim zur nahtlosen Übernahme der pflegerischen Verantwortung“ empfohlen19.


II. Der innerstaatliche Rechtstreit

In der ersten Instanz begründete die Arbeitgeberin die Kündigung nur mit dem Flugblatt, das in der Öffentlichkeit verteilt worden war. Es ging ausschließlich darum, ob der Text auf diesem Flugblatt vom Recht auf freie Meinungsäußerung nicht geschützt war und deswegen die Arbeitgeberin der Brigitte Heinisch kündigen durfte. Brigitte Heinisch gewann in erster Instanz20. Der Inhalt des Flugblattes sei Brigitte Heinisch zwar zuzurechnen. Aber Brigitte Heinisch habe damit nicht ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Die Äußerungen dieses Flugblattes seien vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Der Wortlaut des Flugblattes sei zwar polemisch, beruhe aber auf objektiven Gründen und beeinträchtige das Arbeitsklima21 nicht. Das Arbeitsgericht entschied: Die Arbeitgeberin durfte Brigitte Heinisch nicht kündigen.

Die Arbeitgeberin musste einsehen, dass sie auf diesem Wege den Prozess nicht gewinnen konnte. Deshalb berief sie sich in der zweiten Instanz auf einen anderen Grund für ihre fristlose Kündigung: Die Strafanzeige der Brigitte Heinisch. Damit ging es allerdings wieder um das Recht auf freie Meinungsäußerung, jetzt jedoch nicht mehr als Text auf einem Flyer, das heißt in der Öffentlichkeit, sondern in Form einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.

Brigitte Heinisch verlor in dieser Instanz22. Das Landesarbeitsgericht rechtfertigte die Kündigung mit der Strafanzeige23. Brigitte Heinisch habe diese Strafanzeige auf Tatsachen gestützt, die sie im Laufe des Prozesses nicht habe beweisen können. Deswegen sei die Strafanzeige der Brigitte Heinisch ein „grober Verstoß gegen ihre arbeitsvertraglichen Rücksichtnahme-pflichten“24. Insbesondere reiche der behauptete Personalmangel nicht aus, um einen Abrechnungsbetrug anzuzeigen25. Das Landesarbeitsgericht hielt Brigitte Heinisch vor, sie habe ihre Behauptung, Mitarbeiter seien zur Fälschung von Berichten angewiesen worden, nicht konkretisiert. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Staatsanwaltschaft keinerlei Ermittlungen eingeleitet habe26.

Brigitte Heinisch reichte Beschwerde beim Bundesarbeitsgericht ein27. Das Bundesarbeitsgericht wies diese Beschwerde zurück28.

Brigitte Heinisch reichte beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Annahme der Beschwerde ohne Begründung ab29.

Dann reichte Brigitte Heinisch Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein.


III. EGfMR: Heinisch ./. Deutschland

Der gesamte Kampf von der Kündigung im Jahr 2005 bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2011 drehte sich allein um die Begründung des Landesarbeitsgerichts. Es ging allein darum, ob die Strafanzeige der Brigitte Heinisch vom Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geschützt war oder nicht.

2. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Nicht nur ein Flugblatt über Missstände im Betrieb, sondern auch eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber ist eine Meinungsäußerung, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt wird30.

Das entscheidet der Gerichtshof über eine Interessenabwägung31.

3. Die Interessenabwägung

Diese Interessenabwägung kann man sich an einer Waage mit zwei Waagschalen veranschaulichen. Der Gerichtshof stellt die widerstreitenden Interessen von Beschäftigtem und Unternehmen gegenüber, wirft in die eine Waagschale die Interessen des Beschäftigten und in die andere Waagschale die Interessen des Unternehmens. Dann gewichtet er diese Interessen. Die Partei hat gewonnen, deren Waagschale sich am Ende herabsenkt, weil in ihrer Waagschale die Interessen mit dem größeren Gewicht versammelt sind.

Besonderes Gewicht bekommt das Interesse des Beschäftigten, seine Meinung frei zu äußern, wenn ein öffentliches Interesse an den aufgedeckten Informationen besteht32. Der Gerichtshof stellte im vorliegenden Fall fest: Die von Brigitte Heinisch aufgedeckten Informationen waren unbestreitbar von öffentlichem Interesse. In Gesellschaften, in denen ein ständig wachsender Teil ihrer älteren Bevölkerung auf Pflegeeinrichtungen angewiesen ist, und unter Berücksichtigung der besonderen Verwundbarkeit der Heimbewohner, die oft nicht in der Lage sein dürften, aus eigener Initiative die Aufmerksamkeit auf Pflegemängel zu lenken, ist die Verbreitung der Informationen über Qualität oder Mängel solcher Pflege zur Missbrauchsverhinderung von grundlegender Bedeutung.33.

Der Gerichtshof berücksichtigte in seiner Interessenabwägung zusätzliche Gesichtspunkte34, anhand derer er die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägt

Der Gerichtshof fasste das Ergebnis seiner Interessenabwägung so zusammen: „Angesichts dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Interesse der Allgemeinheit, über Defizite bei der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen informiert zu werden, in einer demokratischen Gesellschaft so wichtig ist, dass es das Interesse am Schutz des geschäftlichen Rufs und der Interessen dieses Unternehmens überwiegt“35. Die Waage der Justiz hatte sich zugunsten von Brigitte Heinisch geneigt.


1 Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg in diesem Rechtsstreit (Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland) können Sie im Internet nachlesen unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-108773

2 Aus der Überlastungsanzeige: „Durch extrem hohen Krankenstand, Resturlaube aus dem Jahre 2002 und Streichung bzw. extremes Einschränken der Fremdkräfte (Leasing) in unserer Einrichtung …:

– Eingeschränkte Grundpflege, teilweise nur Teilwaschungen möglich, Nagelpflege und Rasieren kaum möglich.

– Kein Baden und regelmäßiges Duschen der Bewohner.

– Keine psychosoziale Betreuung.

– Keine aktivierende Pflege und Mobilisation.

– Keine ausreichende Zeit für die Bewohner, eine für sie angepasste Flüssigkeit und Nahrungsaufnahme zu gewähren; …“

3 „Diese Überlastungsanzeige beschlossen wir nach tagelanger Diskussion. Nachdem ich unterschrieben hatte, fühlte ich mich richtig frei! In den Monaten davor war ich mit meinen Zweifeln und Gewissenskonflikten allein gewesen, doch jetzt hielt das Team zusammen und setzte sich gemeinsam zur Wehr. Die Tatsache, dass ich dem hohen Verantwortungsdruck nicht mehr alleine ausgesetzt war, erleichterte mich sehr – zuvor hatte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich alle im Wohnbereich mit ihrer Kritik so weit nach vorne wagen würden. Jetzt lag es für mich einmal mehr auf der Hand: Nicht das Personal trug die Verantwortung für die Zustände im Heim, sondern diejenigen, die zu wenig Kräfte einplanten. Alle Kollegen hofften, endlich Gehör zu finden, damit sich die Arbeits- und Pflegebedingungen grundlegend verbessern würden“ (Brigitte Heinisch „Satt und sauber?“, 2008 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Seite 107 ff)

4 „Für die Leitung hätte diese Überlastungsanzeige ein Grund sein können, die Bedenken des Personals ernst zu nehmen und uns entgegenzukommen. Die Strategie von Vivantes war jedoch eine ganz andere. … Unser Arbeitsbereich wurde vergrößert und unser Team durchmischt, die Wohnbereiche im Haus wurden von vier auf drei zusammengelegt. Jetzt mussten die Pflegekräfte zum Teil über drei Etagen hetzen“ (Brigitte Heinisch „Satt und sauber?“, 2008 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Seite 107 ff). Im Urteil des Arbeitsgerichts Berlin 39 Ca 4775/05 heißt es: „Ab dem 24. April 2003 kam es zu dauerhaften Umstrukturierungen wegen Personalmangels. Die Pflegedienstleitung teilte mit Schreiben vom selben Tage … mit, dass der Nachtdienst im Wohnbereich 1 zur Zeit nicht durch das Stammpersonal besetzt werden könne und mithin durch die anderen Mitarbeiter der anderen Wohnbereiche mitversorgt werden müsse“.

5 Dienstleistungsvertrag zwischen den Kassen und Vivantes über die Versorgung der Heimbewohner

6 EGMR a.a.O. Rn. 8; Arbeitsunfähigkeit ab 19.5.2003

7 am 9. November 2004, EGMR a.a.O.Rn.11

8 am 22. November 2004, EGMR a.a.O. Rn. 13

9 am 7. Dezember 2004, EGMR a.a.O. Rn.14

10 Aus der Strafanzeige: „Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet … die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind … Gleichzeitig dient die Strafanzeige der Entlastung meiner Mandantin, da sie die Vivantes GmbH vielfach auf die bestehenden Missstände aufmerksam gemacht hat, indes keine Änderung herbeigeführt wurde und schlimmstenfalls auch meine Mandantin ein aufgrund der Missstände potentiell gegen sie einzuleitendes Ermittlungsverfahren zu gewärtigen hätte. … Den für die Unterbringung in der genannten Einrichtung aufgebrachten Kosten steht keine auch nur annähernd adäquate Gegenleistung gegenüber. … Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet. … die Pflegekräfte (wurden) durch die Heimleitung angehalten, den bestehenden Mangel gegenüber den Bewohnern und ihren Angehörigen zu verschweigen. … (Es) liegt nicht nur, wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen festgestellt hat, eine mangelhafte Dokumentation des Pflegeprozesses vor, sondern die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind …“.

11 am 26.5.2005, EGMR a.a.O. Rn. 26

12 gem. § 170 Abs.2 StPO; EGMR a.a.O. Rn. 26

13 Kündigungsschreiben vom 19.01.2005

14 Aus diesem Flugblatt vom 27.01.2005 (EGMR a.a.O. Rn. 18):

„Vivantes will Kolleginnen einschüchtern!!

Nicht mit uns!

Sofortige Rücknahme der politisch motivierten Kündigung unserer Kollegin Brigitte bei Vivantes Forum für Senioren.

Einladung zur Gründung eines überparteilichen Solidaritätskreises.“

Und weiter:

„Brigitte … schrieb regelmäßig Überlastungsanzeigen, um auf die unhaltbaren Zustände im Pflegebereich hinzuweisen. Da dies nicht zu einer Veränderung im Pflegebereich führte, stellte Brigitte im Dezember 2004 Strafanzeige gegen die Vivantes Geschäftsführung. Die Berliner Staatsanwaltschaft verweigerte die Aufnahme der Ermittlungen. Zeitgleich bekam sie die krankheitsbedingte Kündigung. … Wir lassen uns nicht einschüchtern und gehen weiter an die Öffentlichkeit. Wer einen von uns angreift, greift uns alle an! … Vivantes nutzt das soziale Engagement seines Personals schamlos aus. … hier geht es um weit mehr als um eine Kündigung! Dies ist eine politische Disziplinierung, um den berechtigten Widerstand vieler Beschäftigten im Gesundheitswesen für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung mundtot zu machen“.

Brigitte Heinisch wird in dem Flugblatt mit folgenden Worten zitiert:

„Ich wünsche mir, jeden pflegebedürftigen Menschen ohne Hast und Eile bei der Ernährung zu unterstützen, bei der Körperpflege zu unterstützen, wie er es benötigt, die Möglichkeit eines Gesprächs zu bieten, die Möglichkeit einer optimales Begleitung in seiner letzten Lebensphase zu bieten.“

15 allerdings hilfsweise auch fristgemäß; hilfsweise heißt: Für den Fall, dass das Gericht die fristlose Kündigung für ungerechtfertigt hält, wird vorsorglich eine fristgerecht Kündigung ausgesprochen, so dass anschließend das Gericht über fristgerechte Kündigung entscheiden muss

16 Abendschau des Fernsehsenders RBB vom 7. März 2005

17 EGMR a.a.O.Rn. 22

18 allerdings auch hier wieder hilfsweise fristgemäß

19 Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 10.05.2006

20 Arbeitsgericht Berlin 39 Ca 4775/05; es stellte auch die Unwirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen fristgerechten Kündigung fest

21 Aufschlussreich ist, dass der EGMR den Begriff „Betriebsfrieden“ (so in der Begründung des Urteils des Arbeitsgerichts) mit „working climate“ übersetzt, EGMR a.a.O. Rn. 27. Anders als die Übersetzung in AuR, die „working climate“ mit ‚Arbeitsklima’ zurückübersetzt, lautet die Rückübersetzung der Bundesregierung für „working climate“ dann auch wieder ‚Betriebsfrieden’

22 LAG Berlin 28.03.2006 7 Sa 1884/05, AuR 2006, 51; dazu kontrovers Deiseroth, AuR 2007, 34; Binkert, AuR 2007, 195; Duplik von Deiseroth, AuR 2007, 198

23 Strafanzeige der Brigitte Heinisch vom 7.12.2004 S.2

24 LAG Berlin 7 Sa 1884/05 unter 2.1.2

25 Zusammenfassung d. Begründung d. Urteils des LAG Berlin siehe EGMR a.a.O. Rn. 28

26 EGMR a.a.O. Rn. 28

27 Das Landesarbeitsgericht Berlin ließ keine Revision beim Bundesarbeitsgericht zu. Dagegen richtete sich die Beschwerde von Brigitte Heinisch, eine so genannte Nichtzulassungsbeschwerde.

28 BAG v. 6. 06.2007 4 AZN 48706

29 Die Verfassungsbeschwerde wurde mit folgendem Wortlaut ohne Begründung abgelehnt: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen“ BVerfG v. 06.12.2007 Az.: 1 BvR 1905/07. Der Grund dafür kann sein, dass es Meinungsverschiedenheiten unter den Richtern gab; in solchen Fällen wird manchmal ohne Begründung entschieden.

30 EGMR a.a.O. Rn. 43; dies war zwischen allen Beteiligten unumstritten

31 EGMR a.a.O. Rn. 51-94

32 EGMR a.a.O. Rn. 66; der EGMR fügt hinzu: „Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach Art. 10 Abs.2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der öffentlichen Meinungsbildung gibt“.

33 EGMR a.a.O. Rn. 71

34 Der Gerichtshof stellt fest (EGMR a.a.O. dazu im vorliegenden Fall unter den Rn. 72 ff), dass Brigitte Heinisch nicht nur mehrmals zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 ihren Vorgesetzten gegenüber äußerte, dass sie überlastet sei, sondern mit dem Schreiben ihres Rechtsanwalts vom 9.11.2004 an die Geschäftsführung der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbHauch die Geschäftsleitung vor einer möglichen Strafanzeige warnte. Der Gerichtshof verweist überdies in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 3. Juli 2003 2 AZR 235/02; der EGMR verweist in Rn. 35 und Rn. 73 auf diese Entscheidung). Danach ist es einem Arbeitnehmer nicht zumutbar, zunächst eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anzustreben, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Eine vorherige innerbetriebliche Klärung ist auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist.

Entgegen der Meinung des Landesarbeitsgerichts Berlin, Brigitte Heinisch habe beabsichtigt, durch Provokation einer öffentlichen Debatte unangemessenen Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben, steht für den Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch in gutem Glauben und in der Überzeugung handelte, dass es im Interesse der Allgemeinheit ist, die mutmaßlichen Rechtsverletzungen ihrer Arbeitgeberin bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen (dazu der EGMR allgemein unter Rn. 69 und bezogen auf den vorliegenden Fall unter den Rn. 82 ff). In der Erfahrung der Brigitte Heinisch hatten die früheren Bemängelungen von Missständen im Pflegeheim durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu keinerlei Veränderungen geführt. Nach ihren zahlreichen innerbetrieblichen Beschwerden gegenüber Vivantes, die alle erfolglos waren, war sie der Ansicht, dass eine Strafanzeige das letzte Mittel zur Behebung der Pflegmängel sei (EGMR a.a.O. Rn. 84).

35 EGMR a.a.O Rn. 90.

Whistleblower oder Denunziant?

1. Februar 2021 von benhop

Whistelblower oder Denunziant?


Beispiel 1: Whistelblower oder Denunziant?
Wenn die Pflegedienstleitung, die die Angestellten mit dem offenen Brief gegen Brigitte Heinisch in Stellung brachte, aufgefordert worden wäre, Brigitte Heinisch Whistelblowerin oder Denunziantin zu nennen, für welche Bezeichnung hätte sich die Pflegedienstleitung entschieden?


Beispiel 2: Whistelblower oder Denunziant?
Angenommen Edward Snowden hätte eine weitere Person in seine Pläne eingeweiht und diese Person hätte Edward Snowden’s Offenlegungs-pläne vorzeitig an einen Vorgesetzen der NSA weiter gegeben, wen würden Sie als Denunziant bezeichnen, Edward Snowden oder die Person, die Edward Snowdens Pläne an Vorgesetzte der NSA weiter gibt? Wen würde die NSA als Denunzianten bezeichen?


1. Schlussfolgerung aus diesen beiden Beispielen:


Ohne die Beachtung der unterschiedlichen Interessen von Arbeitgeber und Whistleblower kann der Whistleblower nicht präzise vom Denunzianten abgegrenzt werden. Welche Bezeichnung man wählt, hängt davon ab, auf wessen Seite man sich stellt, oder, anders gesagt, wessen Interessen man vertreten will. Früher hätte man gesagt: Es kommt auf den Klassenstandpunkt an. Es ist zu wünschen dass diese Begriffe wieder mehr Verwendung finden, weil sie zum besseren Verständnis beitragen können.

2. Die Ächtung von Whistelblowern als Denunzianten:


Peter Bleser (CDU/CSU) bezeichnete im Bundestag ganz allgemein Whistelblowerschutz als Denunziantenschutz:
Sie haben verlangt – das ist der Kern Ihrer Botschaft -, dass wir den Denunziantenschutz in Deutschland einführen
(Waltraud Wolff (Wolmirstedt), SPD: Da ist es wieder!)
Das bedeutet, dass Mitarbeiter ihren eignen (! – Zusatz durch Verf.) Betrieb bei Behörden denunzieren, indem sie entsprechende Ereignisse melden.
(Waltraud Wolff (Wolmirstedt), SPD: Schützen ist für Sie
Denunziantentum
! – Kerstin Tack, SPD: Sie sollten sich was schämen!“
(Protokoll der 83. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 9288).


Dabei folgte die CDU der Auffassung der Unternehmerverbände. Für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände erklärte ein Herr Roland Wolf auf der Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 4.06.2008 zu ‚Regelungen des Informantenschutzes für Arbeitnehmer‘:
Das ist ein schwerer Schlag gegen die Loyalität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Betrieb und wird ohne weiteres … die Gefahr fördern, dass es zu einem stärkeren Verstoß gegen Loyalitätpflichten, ja man muss sogar von Denunziantentum sprechen, kommt.“ (Wortprotokoll der 81. Sitzung, S. 11).


Den Vogel in dieser schmutzigen Kampagne schoss Volker Kauder ab, der wistleblower als „Blockwarte“ bezeichnete (so der Vorwurf des Abgeordneten Kelber an Kauder, Protokoll der 83. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 9288).

3. In der Regel besteht keine Verpflichtung, Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber anzuzeigen1.

………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………..

1 Kittner/Däubler- Klebe BetrVG 16. Auflg. § 87 Rn. 62 mit Verweis auf Klebe/Wroblewski GS Zachert S. 314 (S. 318 ff. m.w.N.); LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 8.7.16 juris (Tz. 95 m.w.N.), Leitsatz: I.d.R. keine Verpflichtung, Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber anzuzeigen

Rechte des Betriebsrates

1. Februar 2021 von benhop

Rechte des Betriebsrates

1. Einigungsstelle nach § 85 BetrVG:

Bestehen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung der Beschwerde, so kann der Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen. Dies gilt jedoch nicht, soweit die Beschwerde ein Rechtsanspruch ist und damit der Beschäftigte, der sich beschwert, diesen Anspruch vor den Gerichten durchsetzen kann. Da die Entscheidung, ob eine Einigungsstelle eingesetzt wird oder nicht, nie weiter geht als bis zu den Landesarbeitsgerichten, wird je nach Bundesland unterschiedlich beurteilt, welche Beschwerden keine Rechtsansprüche sind und damit in einer Einigungsstelle über ihre Berechtigung entschieden werden kann. Typische Fälle sind in den Kommentaren zum § 85 BetrVG zu finden1. Nach einer Entscheidung des LAG Frankfurt kann eine Einigungsstelle über aus ableitbare Nebenansprüchen entscheiden, die nicht klar gegeben, nicht allgemein anerkannt und nicht oder nur schwer konkretisierbar sind2. Bejaht die Einigungsstelle die Berechtigung der Beschwerde, muss der Arbeitgeber ihr abhelfen3. Diese Möglichkeit der Beschwerde leidet unter nicht nur der Einschränkung, dass eine individuelle Beeinträchtigung verlangt wird (siehe oben), sondern darunter, dass die Einigungsstelle nur über die Beschwerde entscheiden kann, wenn kein Rechtsanspruch besteht.

Eine entsprechende Vorschrift fehlt im PersVG.

2. Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG

Sogenannte „Compliance-Regeln“ (Regeln zur Regeltreue) oder „Ethik-Richtlinien“ können mitbestimmungsfreie und mitbestimmungspflichtige Regeln enthalten. Mitbestimmungsfrei sind Regelungen, die lediglich die „UN-Philosophie“, allgemeine Programmsätze uns Selbstverpflichtungen des UN wiedergeben, oder Regeln, die ausschließlich das Arbeitsverhältnis betreffen. Mitbestimmungspflichtig sind dagegen Vorschriften zum allgemeinen Ordnungsverhalten, so z.B. Vorschriften zur Mitteilung von Verstößen gegen eine solche „Ethik-Richtlinie“, hotlines für Whistleblower, Telefonleitungen, auf denen Beschäftigte Verstöße von Kollegen gegen Gesetze oder interne Richtlinien persönlich oder anonym melden können/sollen/müssen. Allerdings sind solche Regelungen nur sehr begrenzt zulässig4.

3. Mitbestimmungsrechte abhängig vom Missstand

Der Betriebsrat hat, anhängig vom angezeigtem Missstand, Mitbestimmungsrechte, mit denen er ggfs. gegen die angezeigten Missstände vorgehen kann; z.B. im Fall der von Brigitte Heinisch angezeigten Missstände eine Gefährungsanalyse und die sich daraus ergebenden notwendigen Maßnahmen erzwingt (§ 5 ArbSchG).

4. Der Betriebsrat macht selbst Missstände öffentlich, nachdem interne und / oder externe Meldungen keinen Erfolg gebracht haben.

Hinweis: Eine Offenlegung (Öffentlichmachung) sollte unter allen Umständen nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.

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1 Z.B. Kittner/Däubler- Buschmann BetrVG 16. Auflg. § 85 Rn. 16

2 LAG Frankfurt15.9.92 – 4 TaBV 52/92; ebenso 12.3.02 – 4 TaBV 75/01 ; 3.3.09 – 4 TaBV14/09; Kittner/Däubler- Buschmann BetrVG 16. Auflg. § 85 Rn. 18

3 LAG München 27.11.90 – 2 Sa 542/90; Kittner/Däubler- Buschmann BetrVG 16. Auflg. § 85 Rn. 25

4 Kittner/Däubler- Klebe BetrVG 16. Auflg. § 87 Rn. 62 mit Verweis auf Klebe/Wroblewski GS Zachert S. 314 (S. 318 ff. m.w.N.); LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 8.7.16 juris (Tz. 95 m.w.N.), Leitsatz: I.d.R. keine Verpflichtung, Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber anzuzeigen

Für ein besseres Recht

Inhaltsverzeichnis:

  1. Forderung: Freie Wahl zwischen interner und externer Meldung beibehalten 
  2. Forderung: Allgemein interessierende Rechtsverstöße müssen veröffentlicht werden können
  3. Forderung: Anonymisierung
  4. Forderung: Allgemeiner Schutz des Whistleblowing, auch bei wesentlichen Sicherheitsinteressen und Verschlusssachen
  5. Forderung: Bei Strafanzeigen nur dann kein Schutz, wenn wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden 
  6. Forderung: Nicht nur Bekanntmachung von Rechtsverstössen, auch Bekanntmachung von Missständen schützen

2. Februar 2021 von benhop

Sechs Forderungen für einen besseren Whistleblower-Schutz

Im Folgenden seien sechs Punkte genannt, die bei der Umsetzung der EU-Verordnung in deutsches Recht beachtet werden sollten:  

1. Forderung: Freie Wahl zwischen interner und externer Meldung beibehalten 

Nach der EU-Richtlinie kann ein Whistleblower frei wählen zwischen der unternehmensinternen Meldung und der externen Meldung an eine zuständige Behörde[1]Art. 10 der EU-Richtlinie. Diese Regelung war nicht selbstverständlich[2] Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und … Continue reading.

Besonders massiv wurde diese freie Wahl von den Unternehmerverbänden bekämpft. Sie distanzieren sich einerseits von den „schwarzen Schafen“, deren bekannt gewordene Missstände sie nicht klein reden können, andererseits tun sie alles, nicht nur die Veröffentlichung, sondern schon die externe Meldung an Behörden oder andere zuständige Stellen zu verhindern und machen sich damit zum Fürsprecher eben dieser „schwarzen Schafe“, mit denen sie nichts zu tun haben wollen. Damit nehmen sie hin, dass sich diese „schwarzen Schafe“ durch rechtswidrige Praktiken Marktvorteile auf Kosten von Unternehmen verschaffen, die sich gesetzestreu verhalten.

Dagegen machte eine wirksame Zusammenarbeit von Journalistenverbänden und Gewerkschaften und dem Wistleblower-Netzwerk[3]https:// www.whistleblower-net.de erfolgreich mobil. Jetzt geht es darum, dass die in der EU-Verordnung enthaltene freie Wahl des Whistelblowers zwischen unternehmensinterner und externer Mitteilung (an eine zuständige Behörde)  in ein deutsches Gesetz übernommen wird. Diese freie Wahl muss auch in anderen Bereichen gelten wie etwa im Arbeitsschutz[4]Nach § 17 Abs. 2 ArbSchG ist die externe Meldung nur erlaubt, wenn der Arbeitgeber der internen Beschwerde von Beschäftigten nicht abhilft. Siehe dazu auch unter Nr. 8 in dem folgenden … Continue reading.

2. Forderung: Allgemein interessierenden Rechtsverstöße müssen veröffentlicht werden können

Eine Weitergabe von unternehmensinternen Rechtsverstößen an Journalisten und die Veröffentlichung in Presse, Funk und Fernsehen darf nicht  regelmäßig nur unter Vorbehalt erlaubt sein. Zur Voraussetzung darf also nicht gemacht werden, dass eine unternehmensinterne Meldung oder eine externe Meldung bei einer  zuständigen Behörde keinen Erfolg hatte[5]Abs. 1 a)  Art. 15 EU-Richtlinie.

Das Recht des Whistelblowing muss so gefasst sein, dass “bei allen Äußerungen von Beschäftigten, die nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen erfolgen sowie eine das öffentliche Interesse wesentlich berührende Frage betreffen, eine gesetzliche Vermutung für den Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit vor anderen rechtlich geschützten Interessen spricht“ [6]D. Deiseroth, Neue Vorgaben für die deutschen Gerichte aus Straßburg? Der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit von Beschäftigten nach Art.10 EMRK, in: ZRFC 2/12 S.66-71, S.71; siehe auch … Continue reading

Die effektivste Möglichkeit der Bekämpfung von Missständen und Rechtsverstößen in Unternehmen ist ihre Veröffentlichung.

3. Forderung: Anonymisierung

Viele Überwachungsbehörden (Medizinische Dienst der Krankenkassen, Lebensmittekontrollen, Landesämter für Arbeitsschutz  usw.) bemühen sich, die Namen der Beschäftigten, die Missstände angezeigt haben, nicht preiszugeben. Diese Verschwiegenheitspflicht muss durch Gesetz gestützt und, soweit das geht, zur Pflicht gemacht werden.    

4. Forderung: Allgemeiner Schutz des Whistleblowing, auch bei wesentlichen Sicherheitsinteressen und Verschlusssachen

Die EU-Richtlinie erfasst nur Informationen über Verstöße gegen EU-Recht, lässt aber eine Erweiterung des Anwendungsbereichs zu[7]Abs. 2 des Art. 2 der EU-Richtlinie und Abs. 5 der Erwägungsgründe der EU-Richtlinie.

Das deutsche Gesetz zum Whistleblowerschutz sollte allgemein gelten, also nicht nur für Verstöße gegen EU-Recht, und nicht nur für bestimmte Bereiche – Umweltschutz, Ernährung Gesundheit, usw. – wie sie in der EU-Richtlinie aufgezählt werden[8]Abs. 1 a) des Art. 2 der EU-Richtlinie. Im deutschen  Recht sollte auf eine Aufzählung bestimmter Anwendungsbereiche  verzichtet werden.  Auf die Freiheit der Meinungsäußerung darf auch dann nicht verzichtet werden, wenn es um die Gewährleistung der „nationalen Sicherheit“[9]Abs. 2 Art 3 der EU-Richtlinie oder um „wesentliche Sicherheitsinteressen“[10]Abs. 2 Art 3 der EU-Richtlinie oder den „Schutz von Verschlusssachen“[11]Abs. 3 a) des Art 3 der EU-Richtlinie geht. Wollen wir auf den Schutz von Whistleblowern wie Daniell Ellsberg, Edward Snowden oder Chelsea Manning verzichten? Es wäre fatal, wenn gerade in diesen Sicherheitsbereichen Rechtsverstöße nicht erkannt werden, weil sie wegen fehlendem Whistleblower-Schutz nicht offengelegt wurden. Ein deutsches Gesetz muss auch Whistleblower wie Chelsea Manning vor staatlicher Verfolgung schützen, auch Menschen wie Edward Snowden. Wäre Snowden nicht an die Öffentlichkeit gegangen, hätte das Bundesverfassungsgericht niemals eine Entscheidung treffen können, die  dem Bundesnachrichtedienst zumindest Grenzen bei der Überwachung internationaler Datenströme aufzeigt[12]Andre Meister am 19.05.2020 um 10:30 Uhr in https:// netzpolitik.org/2020/das-neue-bnd-gesetz-ist-verfassungswidrig/.

5. Forderung: Bei Strafanzeigen nur dann kein Schutz, wenn wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden 

Das Bundesverfassungsgericht  hat festgestellt, dass aus rechtsstaatlichen Gründen eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber  im Regelfall keine fristlose Kündigung rechtfertigen kann. Wer eine Strafanzeige erstattet, übt ein staatsbürgerliches Recht aus. Ein Whistleblower ist nur dann nicht mehr geschützt, wenn er in seiner Strafanzeige wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben macht[13]BVerfG v.  2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00; diese Entscheidung des BVerfG wird auch zitiert in EGfMR Nr. 28274/08 Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland Rn. 34. Nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts kommt es also nicht darauf an, ob der Verdacht begründet ist[14]so aber die EU-Richtlinie in Ziff. 2 Art. 6. Das zu prüfen ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft[15]EGfMR v.21.7.2011 Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland Rn. 80. Diese  Prüfung kann von der anzeigenden Person nicht verlangt werden. Es  kommt nicht einmal darauf an, ob die Angaben in der Strafanzeige wahr sind. Entscheidend ist das Kriterium des Bundesverfassungsgerichts: Der Anzeigende darf seinen Verdacht nicht mit wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben begründen.  

6. Forderung: Nicht nur bei der Bekanntmachung von Rechtsverstößen, auch Bekanntmachung von Missständen schützen!

Ein gesetzlicher Schutz von Whistleblowern sollte nicht nur die Weitergabe von Rechtsverstößen schützen, wie es die die EU-Richtlinie vorsieht. Wie in § 5 Nr. 2 Geschäftsgeheimnisgesetz sollte Whistleblowing auch dann geschützt werden, wenn es sich nicht um Rechtsverstöße, sondern um Missstände handelt.

References

References
1 Art. 10 der EU-Richtlinie
2  Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und externer-meldung-prof-dr-ninon-colneric
3 https:// www.whistleblower-net.de
4 Nach § 17 Abs. 2 ArbSchG ist die externe Meldung nur erlaubt, wenn der Arbeitgeber der internen Beschwerde von Beschäftigten nicht abhilft. Siehe dazu auch unter Nr. 8 in dem folgenden link: https://widerstaendig.de/2021/02/01/individuelle-rechte-ausfuehrlich/
5 Abs. 1 a)  Art. 15 EU-Richtlinie
6 D. Deiseroth, Neue Vorgaben für die deutschen Gerichte aus Straßburg? Der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit von Beschäftigten nach Art.10 EMRK, in: ZRFC 2/12 S.66-71, S.71; siehe auch Annegret Falter “Wistleblowerschutz in Deutschland vor der gesetzlichen Regelung” Festschrift Zöpel
7 Abs. 2 des Art. 2 der EU-Richtlinie und Abs. 5 der Erwägungsgründe der EU-Richtlinie
8 Abs. 1 a) des Art. 2 der EU-Richtlinie
9, 10 Abs. 2 Art 3 der EU-Richtlinie
11 Abs. 3 a) des Art 3 der EU-Richtlinie
12 Andre Meister am 19.05.2020 um 10:30 Uhr in https:// netzpolitik.org/2020/das-neue-bnd-gesetz-ist-verfassungswidrig/
13 BVerfG v.  2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00; diese Entscheidung des BVerfG wird auch zitiert in EGfMR Nr. 28274/08 Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland Rn. 34
14 so aber die EU-Richtlinie in Ziff. 2 Art. 6
15 EGfMR v.21.7.2011 Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland Rn. 80