Die Buchreihe WIDERSTÄNDIG beschreibt widerständiges Handeln in Betrieben und Verwaltungen. Im Mittelpunkt steht das konkrete Beispiel. Es geht vor allem um das gemeinsame, gewerkschaftlich orientierte widerständige Handeln, aber auch um das widerständige Handeln Einzelner.
Die Reihe „WIDERSTÄNDIG“ entsteht in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.
Immer kommen die Handelnden und Betroffenen selbst zu Wort. Das Beispiel soll Andere zum widerständigen Handeln ermuntern.
Zum besseren Verständnis werden ökonomische, juristische und historische Erläuterungen gegeben. Ökonomie als Kritik an den herrschenden Macht – und Eigentumsverhältnissen. Geschichte als Geschichte der abhängig Beschäftigten. Recht als Widerstandsrecht.
Die Lehren aus der Geschichte sollen nicht vergessen werden. Deshalb wird die Reihe „WIDERSTÄNDIG“ zusammen mit einem der Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN – BdA) und Historiker Dr. Ulrich Schneider herausgegeben, der in jedem Buch ein Vorwort schreibt.
Der Faschismus löste die Gewerkschaften auf und beseitigte alle kollektiven Rechte, die sich die Gewerkschaften erkämpft hatten. Das Tarifrecht, das Betriebsrätegesetz – alles wurde mit einem Federstrich zunichte gemacht. Eine „Deutsche Arbeitsfront“ mit den Unternehmern als „Betriebsführer“ und den Beschäftigten als „Gefolgschaft“ wurde etabliert. „Nie wieder Faschismus“ heißt dagegen Stärkung der Gewerkschaften und Verteidigung und Ausbau der Rechte der abhängig Beschäftigten. „Widerständiges“ Handeln im Betrieb ist in diesem Sinne immer auch antifaschistisches Handeln.
Die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald erklärten in dem Schwur von Buchenwald 1945: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Wir haben die historische Funktion des großen Kapitals als Wegbereiter des deutschen Faschismus nicht vergessen. Wir haben das Ziel nicht aufgegeben, einem Wiederaufleben des Faschismus diese ökonomische Grundlage zu entziehen. Die Bücher der Reihe „WIDERSTÄNDIG“ und das Handeln, das in diesen Büchern beschrieben wird, sind ein Beitrag im Kampf um dieses Ziel.
Die Reihe wird herausgegeben von der Gewerkschaftssekretärin Jana Seppelt, einem der Bundessprecher der VVN-BdA und Historiker Dr. Ulrich Schneider und dem Rechtsanwalt Benedikt Hopmann.
Im Jahr 2020 erschien zum 100. Jahrestages der Betriebsverfassung das Buch Gegenmacht statt Ohnmacht, das sich mit der Geschichte der Betriebsverfassung, dem Kampf der Lohnabhängig um grundlegende Veränderungen, Erfolge und Niederlagen beschäftigt. Alle anderen Bücher der Reihe beschäftigten sich mit gegenwärtigen Beispielen widerständigen Handelns in Betrieben und Verwaltungen.
Isaf Gün/Benedikt Hopmann/Reinhold Niemerg (Hrsg.): Gegenmacht statt Ohnmacht. 100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz. Der Kampf um Mitbestimmung, Gemeineigentum und Demokratisierung, Verlag VSA 2020, 160 Seiten, ISBN 978-3-96488-036-9, 14,80 Euro.
Noch während der Auslieferung zum Jahreswechsel 2019/20 waren die Exemplare der 1. Auflage durch ungewöhnliche Nachfrage aus IG Metall-Gremien vergriffen; es musste sofort unverändert nachgedruckt werden. Das Vorwort von Verena zu Dohna-Jaeger, Leiterin des Ressorts Betriebsverfassung und Mitbestimmungspolitik beim Vorstand der IG Metall, bringt es gradlinig auf den Punkt: “Wie vor hundert Jahren geht es um den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital.” (Und der wird im Buch ausführlich erklärt, gerät er doch selbst in Gewerkschaftskreisen aus “Sozialpartnerschaft” zuweilen in Vergessenheit.)
Kapitelmäßig wird der rote Faden verfolgt, wie Beschäftigte sich organisieren: Von den Anfängen der Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg, im Krieg und für die Novemberrevolution und danach, im Faschismus mit Anpassung bis zum Widerstand, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bei Wiederaufbau und Restauration, in der liberalen Reformzeit und im Neoliberalismus – bis zur Gegenwart.
Den Schwerpunkt mit elf von insgesamt 25 Beiträgen bildet die revolutionäre Zeit gegen den Krieg, mit besonderer Rolle der Revolutionären Obleute im Deutschen Metallarbeiter-Verband (Ralf Hoffrogge), um die Novemberrevolution als Geburtsstunde der ersten deutschen Republik und die Chancen für eine soziale Demokratie (Holger Czitrich-Stahl), mit Stinnes-Legien-Abkommen (Frank Deppe), Zielen und Ergebnissen der Rätebewegung (Axel Weipert und Dietmar Lange). Die Geschichte der Betriebsverfassung steht im Mittelpunkt: Das Betriebsrätegesetz von 1920 und die Demonstration dagegen, sowie der erfolgreiche Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch (Axel Weipert), der Sozialabbau in der Weltwirtschaftskrise 1920 bis 1932/33 (Reiner Zilkenat). Dem folgen die “Trümmer der Arbeiterbewegung”: Arbeitsrecht und Betriebsverfassung 1933 bis 1945 (Rüdiger Hachtmann), aber auch “geheime Netzwerke” als Basis für einen Neuanfang: Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen im Widerstand, 1933-45 (Michael Schneider).
Auf “Ein neuer Anfang?” (Ulrich Schneider) folgten ein Alliiertes Betriebsrätegesetz und Betriebsrätegesetze der Länder (Reinhold Niemerg). Benedikt Hopmann, einer der Initiatoren auch dieses Buches in der VSA-Reihe “Widerständig”, gibt eine Einschätzung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952, dem sich Franz Josef Düwell mit “Mehr Demokratie wagen!” über das Betriebsverfassungsgesetz 1972 und die Unternehmensmitbestimmung 1976 anschließt, gefolgt von Rudolf Buschmann mit der Betriebsverfassungsreform 2001 und ihrer Bewertung im Zeichen des Neoliberalismus.
Als “Ausblick” untersucht Andreas Fisahn, wieweit Sozialisierung und Wirtschaftsdemokratie durch Grundgesetz und EU-Recht möglich sind. Dirk Linder und Benedikt Hopmann stellen heraus, dass für den Aufbau von Gegenmacht alle gewerkschaftlichen Mittel genutzt werden müssen einschließlich zeitweiser kollektiver Arbeitsverweigerung, um eine ökologische und soziale Transformation zu erringen.
Während Henner Wolter die Praxis der “Umstrukturierung von Betrieben und Unternehmen” als “‘Klassenkampf über das Handelsregister’ (von oben)” darstellt, fassen abschließend Isaf Gün und Benedikt Hopmann das Wesentliche zusammen: Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, als “Nächstliegendes zuerst”, tarifvertragliche Regelungen für die Beschäftigten zum Schutz vor der Willkür des Marktes sowie gewerkschaftliche Gegenwehr zu organisieren (im Gegensatz zu geringem Widerstand in der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932/33), denn “Das Vergangene kehrt zurück”. – “Our Future in our hands”, und zwar “Innerhalb und außerhalb der Betriebe”. Es gilt noch immer Friedrich Schiller in seinem “Wilhelm Tell”: “Verbunden werden auch die Schwachen mächtig”.
Außer Isaf Gün, Juristin, Gewerkschaftssekretärin beim IGM-Vorstand, sind immerhin zwei weitere Frauen Autorinnen: Claudia von Gélieu, Politologin, über “Arbeiterinnen und Sozialistinnen gegen den Krieg” und “Männer in die Räte – Frauen an den Herd”, sowie Mechthild Garweg, Fachanwältin für Arbeitsrecht, mit einem eher seltenen Bericht über die kurze Zeitspanne vom Kriegsende bis bald einsetzendem “Kalten Krieg”, über gewerkschaftliche Erfolge und Niederlagen bei “Währungsreform und ‘Freier Marktwirtschaft’”, über den Widerstand durch Generalstreik 1948, den Kampf um die Unternehmensmitbestimmung 1951und gegen das Betriebsverfassungsgesetz von 1952. Zu wünschen wäre, wenn gerade wegen der beachtenswerten Hervorhebung kämpferischer Frauen dieser kleine Band auch in Arbeitsbereichen mit hohem Frauenanteil (bei Ver.di und NGG) verbreitete Lektüre würde.
Unter “Brot und Rosen” wird an die immer noch aktuellen Forderungen für die Frauen, immerhin auch in Deutschland die Hälfte der Menschen, erinnert. Claudia von Gélieu würdigt mit einer Kurzbiografie Cläre Casper (USPD/KPD, 1894-1976), einzige Frau im Kampfausschuss des Munitionsarbeiterstreiks Januar 1918. Toni Sender (USPD, 1888-1964) wird als Gewerkschaftsaktivistin porträtiert. Lena Fuhrmann, 22-jährige Betriebsrätin bei Salzgitter-Flachstahl, gibt abschließend ein aktuelles Statement für Kapitalismuskritik und Gegenmacht.
Unter den insgesamt 20 Autor/innen sind Historiker, Arbeitsrechtler, Gewerkschafter und Betriebsräte, die kurz und knapp die Geschichte der Arbeiterbewegung und ihre Kämpfe chronologisch, substanzreich und gut verständlich vermitteln. Auf wichtige historische Quellen-Texte wie Richard Müllers “Geschichte der Novemberrevolution” und die “Stenografischen Berichte über den Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Dezember 1918” wird hingewiesen. Ausführungen von Karl Marx über “Gewerksgenossenschaften”, Auszüge einer Rede von Oskar Cohn (USPD) in der Nationalversammlung 1919 über die “Sozialisierung”, und aus einer Grundsatzrede von Robert Dißmann auf der Generalversammlung des DMV 1919 über die Schuldigen an den Weltkriegs-Verbrechen, sowie eine Kurzbiografie des legendären Metallers Willi Bleicher (“Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken!”) u. a. zeitgenössische Zitate bereichern die Kapitel.
Dieses Buch sollte in die Hände aller Beschäftigten, die für ihre Rechte und soziale Gerechtigkeit eintreten wollen. Ein kleines Pflicht-Lesebuch für Gewerkschaftsmitglieder, Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte, um aus der Geschichte zu lernen und zu handeln: Es geht ums Mitmachen, selbst aktiv zu werden für ein besseres Leben – für sich selbst und für alle. Auch den erst seit 30 Jahren unter neue Gesetze fallenden Arbeitenden mit DDR-Biografie vermittelt der Band eine gute Sicht über die bald 70-jährige Betriebsverfassung der BRD. Leider steht im gesamten Buch zum Thema bisher kein Wort, das die Lebenswirklichkeit der Menschen in den 40 Jahren DDR und den 30 Jahren danach berücksichtigt. Immerhin gehören sie mit ihren Lebens- und Arbeitserfahrungen dazu, wenn es nach 100 Jahren um eine Vollendung der Novemberrevolution von 1918/19 geht. In der nächsten Auflage sollte dem Rechnung getragen werden. “Gegenmacht statt Ohnmacht” setzt die verdienstvolle Reihe “Widerständig” im Verlag VSA fort.
Rainer Knirsch
In: Mitteilungen, Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V., Nr. 58, September 2020.
Betriebsrätegesetz – VSA-Band analysiert 100 Jahre „Gegenmacht statt Ohnmacht” Von Henrik Müller
Der Betriebsrat hat die Aufgabe, „darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden”. So lautet ein Kernsatz des Betriebsverfassungsgesetzes (Paragraf 80 BetrVG). Dass diese Rechte von den abhängig Beschäftigten und ihren Gewerkschaften allesamt mühsam errungen und hart erkämpft werden mussten und müssen: Auf diesen Aspekt konzentrieren sich die Autorinnen eines jüngst im Hamburger VSA-Verlag erschienenen Buchs mit dem Titel „Gegenmacht statt Ohnmacht”. Im Mittelpunkt steht dabei die Geschichte eben dieses Betriebsverfassungsgesetzes, das jetzt 100 Jahre alt ist. Es wurde – als „Betriebsrätegesetz” – am 18. Januar 1920 beschlossen und trat am 4. Februar 1920 in Kraft. Was heutzutage kaum jemand noch weiß, was aber, wie viele andere Hintergründe, aus dem vorliegenden Band zu erfahren ist: wie hoch der Blutzoll war, den unsere Kolleginnen dafür zu entrichten hatten. Fünf Tage vor der Entscheidung der Deutschen Nationalversammlung hatten sich während der Beratungen im Plenarsaal draußen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin mehr als 100.000 Menschen zu einer gewaltigen Demonstration gegen das geplante Betriebsrätegesetz versammelt, die einem Aufruf der linken Oppositionsparteien USPD und KPD, der Berliner Gewerkschaftskommission und der revolutionären Betriebsrätezentrale gefolgt waren.
Hoher Blutzoll
Im Verlauf der Kundgebung, so schreibt der Historiker Axel Weipert, sei es „zu einzelnen Handgreiflichkeiten im Gedränge zwischen den Demonstranten und der paramilitärischen Sicherheitspolizei” gekommen: „Rund zehn Minuten später eröffnete die Truppe mit Maschinengewehren und Karabinern das Feuer, warf sogar Handgranaten in die Menge. Sofort brach Panik aus, die Massen füchteten in den benachbarten Tiergarten. 42 Tote und weit über 100 Verletzte blieben auf dem Platz.” Noch am gleichen Tag verhängte Reichspräsident Friedrich Ebert, SPD, den Ausnahmezustand.
„Der 13. Januar 1920 ist in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück über die politischen Verhältnisse Deutschlands in jener Zeit”, resümiert Weipert. Denn was mit dem Betriebsrätegesetz an echtem Fortschritt für die abhängig Beschäftigten erreicht war, entsprach nur noch in Bruchstücken dem, was sich Millionen von Aktivistinnen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs unter einer umfassenden Demokratisierung des Staates und der Wirtschaft vorgestellt hatten. Von einem „entscheidenden Einfluss auf Produktions-, Lohn- und Arbeitsverhältnisse”, wie er Ziel der vorangegangenen Massenstreiks gewesen war, habe keine Rede mehr sein können, stellt der Autor fest. Dabei ist es im Grunde bis auf den heutigen Tag geblieben, wenn auch im Laufe der Jahre und Jahrzehnte erhebliche Fortschritte im Detail haben durchgesetzt und verteidigt werden können, ohne dass den abhängig Beschäftigten allerdings jemals etwas geschenkt worden wäre.
DDR-Zeit fehlt
Die Juristin Isaf Gün, Gewerkschaftssekretärin beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall in Frankfurt/Main, und die Berliner Rechtsanwälte Benedikt Hopmann und Reinhold Niemerg als Herausgeberinnen versammeln in dem Band „Gegenmacht statt Ohnmacht” etliche kompetente Autorinnen mit durchaus unterschiedlichen Sichtweisen. Ihre Analysen und Einschätzungen reichen von der bürgerlichen Revolution 1848/49 über das „Hilfsdienstgesetz” 1916, die Novemberrevolution 1918, das Betriebsrätegesetz 1920 und die – rechtlose – Zeit des Nazi-Terrors bis hin zum westdeutschen Betriebsverfassungsgesetz 1952, seiner Reform 1972 und seinen bescheidenen gesamtdeutschen Veränderungen 2001. Das waren und sind die gesetzlichen Grundlagen, auf denen die Arbeitnehmerinnen in der Privatwirtschaft und ihre Gewerkschaften Gegenmacht aufbauen konnten und sich nicht in Ohnmacht ergeben mussten und müssen.
Eine Lücke tut sich in dem VSA-Band allerdings auf: Wie auch immer man Funktion und Wirksamkeit der betrieblichen Interessenvertretungen in der DDR bewerten mag, in der vorliegenden Aufsatzsammlung fehlt ein Überblick über die Arbeit der Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) von 1949 bis 1990.
Isaf Gün, Benedikt Hopmann, Reinhold Niemerg (Hrsg.), Gegenmacht statt Ohnmacht – 100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz: Der Kampf um Mitbestimmung, Gemeineigentum und Demokratisierung, VSA-Verlag, Hamburg, 160 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3964880369
aus: „ver.di PUBLIK“ – Die Mitgliederzeitung – Ausgabe 01/2020 vom 15. Februar 2020
Die Ziele der Buchreihe WIDERSTÄNDIG lassen sich in zehn Punkten zusammenfassen.
Im Mittelpunkt soll das konkrete Beispiel widerständigen Handelns im Betrieb stehen. Es geht vor allem um das gemeinsame, gewerkschaftlich orientierte widerständige Handeln, aber auch um das widerständige Handeln Einzelner.
Die Reihe „WIDERSTÄNDIG“ entsteht in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.
Immer sollen die Handelnden und Betroffenen selbst zu Wort kommen.
Das Beispiel soll Andere zum widerständigen Handeln ermuntern.
Zum besseren Verständnis sollen ökonomische, juristische und historische Erläuterungen gegeben werden. Ökonomie als Kritik an den herrschenden Macht – und Eigentumsverhältnissen. Geschichte als Geschichte der abhängig Beschäftigten. Recht als Widerstandsrecht.
Jedes Buch der Reihe „WIDERSTÄNDIG“ soll auch für Seminare und Bildungsarbeit verwendbar sein.
Die Lehren aus der Geschichte sollen nicht vergessen werden. Deshalb wird die Reihe „WIDERSTÄNDIG“ zusammen mit einem der Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN – BdA) und Historiker Dr. Ulrich Schneider herausgegeben, der zu jedem Buch ein Vorwort schreibt.
Der Faschismus löste die Gewerkschaften auf und beseitigte alle kollektiven Rechte, die sich die Gewerkschaften erkämpft hatten. Das Tarifrecht, das Betriebsrätegesetz – alles wurde mit einem Federstrich zunichte gemacht. Eine „Deutsche Arbeitsfront“ mit den Unternehmern als „Betriebsführer“ und den Beschäftigten als „Gefolgschaft“ wurde etabliert. „Nie wieder Faschismus“ heißt dagegen Stärkung der Gewerkschaften und Verteidigung und Ausbau der Rechte der abhängig Beschäftigten. Widerständiges Handeln im Betrieb ist in diesem Sinne immer auch antifaschistisches Handeln.
„Wer den Privatbesitz an Produktionsmitteln nicht preisgeben will, der wird den Faschismus nicht loswerden, sondern brauchen“ (Bertolt Brecht).
Die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald schworen 1945: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Wir haben die historische Funktion des großen Kapitals als Wegbereiter des deutschen Faschismus nicht vergessen. Wir haben das Ziel nicht aufgegeben, einem Wiederaufleben des Faschismus diese ökonomische Grundlage zu entziehen. Die Bücher der Reihe „WIDERSTÄNDIG“ und das Handeln, das in diesen Büchern beschrieben wird, sind ein Beitrag im Kampf um dieses Ziel.
Der stellvertretende Leiter des Finanzamtes für Körperschaftssteuer teilte der VVN-BdA mit, dass „die grundsätzlichen Entscheidungen in Abstimmung mit der Senatsverwaltung getroffen wurden und werden“[13].
Für die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA ist der Berliner Finanzsenator Herr Kollatz voll verantwortlich: hier weiterlesen.
Es ist schon mehr als erstaunlich, dass sich der rot-rot-grüner Berliner Senat ausgerechnet vom bayrischen Verfassungsschutz vorschreiben lässt, was die VVN-BdA zu widerlegen habe, wenn sie weiter von der Berliner Finanzbehörde als gemeinnützig anerkannt werden will. Der Berliner Senat hat dabei offensichtlich keinerlei Bedenken, den Maßstab ‚linksextremistisch‘ in der Lesart des bayrischen Verfassungsschutzes zu übernehmen.
Cornelia Kerth in ihrem Bericht über das Gespräch der VVN-BdA mit der Berliner Finanzbehörde: „Es scheint tatsächlich die Linie des Senats und der Senatsverwaltung zu sein, uns davon überzeugen zu wollen, dass die Gesetzgebung sie zwinge, uns die Gemeinnützigkeit abzuerkennen“[14].
Die Berliner Finanzbehörde meint also, sie sei durch Gesetz dazu gezwungen, sich als Berliner Bär am Nasenring des bayrischen Verfassungsschutzes gegen die VVN-BdA als die älteste und größte antifaschistische Organisation in Stellung bringen lassen.
Das Finanzamt übernahm die Meinung des bayrischen Verfassungsschutzes. Dessen Meinung teilte auch das Verwaltungsgericht München. Hintergrund dieser Rechtsmeinung ist eine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das seine Rechtsmeinung in einem „in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte beispiellosen Konflikt„[1] Battis/Grogoleit „Die Entwicklung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes – eine Analyse der neuen BVerfG-Entscheidungen“ NJW 2001, 2051, 2053 mit dem Oberverwaltungsgericht NRW durchsetzte.
Im Einzelnen:
a. Konkret wird der VVN-BdA vorgeworfen, sie habe dazu aufgerufen den Naziaufmarsches in Dresden im Jahr 2010 zu blockieren. Dazu haben wir schon Stellung genommen; der VVN-BdA ist nichts vorzuwerfen.
Zudem gab es einen von zahlreichen Organisationen unterstützten Aufruf vom 13.2.2010, der lautete: „Dresden kein Naziaufmarsch – Gemeinsam blockieren!“ und zur Begründung hieß es: „Im Jahr 2009 marschierten fast 7000 Nazis durch unsere Stadt. Ihr Ziel ist es, die Verbrechen des Nazi-Regimes zu leugnen und Nazi-Deutschland zum eigentlichen Opfer des 2. Weltkrieges um zu deuten. Wir aber wissen: Der verbrecherische Krieg ging von Nazi-Deutschland aus und kehrte 1945 nach Dresden zurück“. Und weiter: „Nie wieder werden wir den AnhängerInnen des verbrecherischen Nazi-Regimes unsere Städte überlassen!“. Für die Gegen-Demonstrierenden kam es darauf an, dass Nazis aus ganz Europa in Dresden demonstrieren.
Für das Verwaltungsgericht München war es jedoch genau umgekehrt. Dem Verwaltungsgericht reichte es, dass die Versammlung genehmigt wurde und die Gegendemonstranten diese genehmigte Versammlung blockieren wollten. Dem Verwaltungsgericht kam es erkennbar nicht darauf an, dass die Ausgangsdemonstration ein Naziaufmarsch war. Von dieser Position aus entwickelt es folgende Wertung der Blockaden von Nazi-Aufmärschen: „Die …. oft geäußerte Parole „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ … erscheint damit in einem anderen Licht. Wie der Beklagte (das ist der bayrische Verfassungsschutz, Anmerkung des Autors) zutreffend ausführt, dient die Parole schlicht der Bekämpfung und Diskreditierung missliebiger anderer Meinungen.”[34]
Die Gegenposition zu dieser Meinung des Verwaltungsgerichts München: Die Demonstranten haben mit zivilgesellschaftlichen Mitteln nur das getan, was Aufgabe des Staates gewesen wäre. Der Staat hätte diese Demonstration von mehreren tausend Nazis am 13.2.2010 in Dresden aus Anlass des 65. Jahrestages der alliierten Bombardierung verbieten müssen. Das eröffnet eine andere Sicht auf die Blockadeaktionen: Sie blockierten eine Demonstrations- und Meinungsäußerungsfreiheit, die es für die Nazis in Dresden nicht hätte geben dürfen.
Das Oberverwaltungsgericht NRW sah die Meinungsäußerungsfreiheit durch die Verfassung immanent begrenzt, weil das Grundgesetz eine antifaschistische Ausrichtung habe. Diese antifaschistische Ausrichtung verlange demonstrative Meinungsäußerungen, die die nationalsozialistische Diktatur, ihre führenden Vertreter und Symbolfiguren verherrlichen, auch dann zu verbieten, wenn (noch) kein Straftatbestand erfüllt ist. Dagegen erkannte das Bundesverfassungsgericht nur die im Strafgesetzbuch bestimmten Grenzen an (Beleidigung, Verleumdung, Volksverhetzung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen usw.). Nur wenn eine Meinungsäußerung strafbar sei, könne eine Versammlung mit diesem Inhalt verboten werden. Gleichzeitig hob das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung des hessischen Verwaltungsgerichthof auf. Der hessische Verwaltungsgerichtshof sah in dem Motto „Herren im eigenen Lande statt Knechte der Fremden“ den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht sah diesen Straftatbestand nicht erfüllt und begründete das in folgender Weise: Nach Ansicht des hessischen Verwaltungsgerichthofes werde mit dem Motto in Anknüpfung an die Herrenrassen-Ideologie des nationalsozialistischen Gedankenguts gesagt, dass „die deutsche Bevölkerung in der Knechtschaft der im Bundesgebiet ansässigen Ausländer“ leben müsse. Angesichts der Mehrdeutigkeit des Mottos hätte sich der Verwaltungsgerichtshof nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts jedoch mit der von den Veranstaltern geltend gemachten Deutungsalternative auseinandersetzen müssen. Danach soll sich mindestens der zweite Teil des Mottos, dass man nicht Knecht der Fremden sein möchte, auf eine in der Zukunft mögliche, von ihnen abgelehnte Entwicklung beziehen.
Das Bundesverfassungsgericht verbietet also demonstrative Meinungsäußerungen von Nazis nur dann, wenn sie einen Straftatbestand wie etwa Beleidigung, Volksverhetzung usw. erfüllen und legt gleichzeitig diese Meinungsäußerungen so aus, dass etwa der Straftatbestand Volksverhetzung nur selten erfüllt ist.
Das Bundesverfassungsgericht begründete seine Position mit der herausragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit: „Die Meinungsfreiheit ist für die freiheitlich demokratische Ordnung des Grundgesetzes schlechthin konstituierend“[44]. Und: „Die plurale Demokratie des Grundgesetzes vertraut auf die Fähigkeit der Gesamtheit der Bürger, sich mit der Kritik an der Verfassung auseinander zu setzen und sie dadurch abzuwehren“[45]. Aber die “plurale Demokratie” der Weimarer Republik konnte den folgenden Hitler-Faschismus nicht verhindern. Diese historische Tatsache bleibt auch 75 Jahre nach dem Ende des deutschen Faschismus und des 2. Weltkrieges aktuell. Sie war das Fundament, auf dem das Grundgesetz beschlossen wurde: Antifaschismus als Verfassungsauftrag. Das wird in den Begründungen des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts unter dem Vorsitz von Dr. Michael Bertrams mit den entsprechenden Konsequenzen berücksichtigt.
Der Streit wurde mit einem Beitrag des Bundesverfassungsrichters Hoffmann-Riem und einer Erwiderung von Dr. Bertrams in der Frankfurter Rundschau fortgesetzt:
Hoffmann-Riem gab seiner Veröffentlichung die Überschrift „Die Luftröhre der Demokratie“ – eine pointierte Formulierung, um Bedeutung und Funktion der Demonstrationsfreiheit zu veranschaulichen. Die Unterüberschrift seines Artikels lautete: „Der Rechtsstaat ist stark genug, um auch die Demonstrationsfreiheit für Neonazis auszuhalten“. Damit war auch schon die Kernaussage des Artikels zusammengefasst. Für die Demonstrationsfreiheit von Neonazis soll nicht gelten: ‘Wehret den Anfängen!’, sondern: ‘Das muss der Rechtsstaat aushalten!’
Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Bertrams fasste in seiner Erwiderung seine Position so zusammen: “Für den demokratischen Willensbildungsprozess sind die vom Grundgesetz geächteten Anschauungen von Neonazis ohne Bedeutung. Speziell diesen Anschauungen hat das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Andersdenkenden ist ein hohes Gut. Diese Freiheit muss in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes aber dort ihre Grenze finden, wo der Versuch unternommen wird, das menschenverachtende Gedankengut des Dritten Reiches wiederzubeleben. Handelt es sich bei der Demonstrationsfreiheit um die “Luftröhre der Demokratie”, dann gehen – um im Bild zu bleiben – Neonazis der Demokratie an die Gurgel. Eine wehrhafte Demokratie muss dem entgegentreten und dafür sorgen, dass ihr nicht irgendwann von geschichtsblinden Barbaren die Luft zum Atmen genommen wird“. Hier der Streit in der Frankfurter Rundschau im Detail.
c. In der Folgezeit wurden insbesondere die Nazi-Kundgebungen in Wunsiedel, wo Hitlers Stellvertreter Hess beerdigt war, immer größer. Sie konnten aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht verboten werden. Die ganz überwiegende Mehrheit im Bundestag wollte jedoch nicht weiter tatenlos zusehen und beschloss eine Ergänzung des Verbots der Volksverhetzung im Strafgesetzbuch[47]. Das führte zu einem Verbot der Nazi-Aufmärsche in Wunsiedel.
Im Jahr 2009 erklärte das Bundesverfassungsgericht dieses Verbot der Nazi-Aufmärsche in Wunsiedel und auch die unter anderem dafür geschaffene Ergänzung im Strafgesetzbuch für verfassungskonform[48].
d. Ob damit in der Sache der Konflikt beendet ist, der 2001 zwischen dem Oberverwaltungsgericht NRW und dem Bundesverfassungsgericht begann, wird kontrovers diskutiert[49]. Es ist unstreitig, dass die Ergänzung im Strafgesetzbuch aufgrund seiner spezifischen Ausgestaltung in der Praxis kaum angewendet werden kann. Auch für ein Verbot des Nazi-Aufmarsches in Dresden im Jahr 2010 reichte diese neu geschaffene Rechtsgrundlage nicht.
Anderes hätte wohl gegolten, wenn sich das Verständnis von der antifaschistischen Grundausrichtung der Verfassung, wie vom Oberverwaltungsgerichts NRW vertreten, beim Bundesverfassungsgericht durchgesetzt hätte. Dann hätte das Treffen von tausenden Nazis aus ganz Europa in Dresden verboten werden können. Es hätte also genau das durchgesetzt werden können, was so viele Demonstranten in Dresden forderten.
Dr. Bertrams verabschiedete sich im Jahr 2013 in den Ruhestand, wiederholte aber seine Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder, zuletzt am 24. Juni 2019 im Kölner Stadtanzeiger: „Der liberale Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Meinungsfreiheit von Neonazis hat meines Erachtens einen hohen Anteil an der zunehmenden Unverfrorenheit ihres Auftretens und daran, dass diese Neonazis bei uns ein bedrohliches Klima geschaffen haben“[50]. Ein schwerwiegender Vorwurf an das Bundesverfassungsgericht.
e. Nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom Grundgesetz war genau das, was die Demonstranten in Dresden als einen großen Erfolg betrachteten – die Verhinderung einer Demonstration von tausenden Nazis aus ganz Europa – verfassungswidrig. Der Verfassungsrichter Hoffmann-Riem zu diesem Thema schon im Jahr 2002 in der Frankfurter Rundschau: “Dabei sind …. die Vorgaben zu respektieren, die in der Konsequenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen: „… Auch Gegendemonstrationen stehen dafür als Mittel bereit … Gegendemonstrationen, mit dem Ziel, die Durchführung eine anderen Demonstration zu verhindern, genießen in dieser Zielsetzung nicht den Schutz der Verfassung. Oberbürgermeister oder Stadträte würden den Schutzauftrag … verletzen, wenn sie dazu aufriefen, mit Gegendemonstrationen oder auf andere Weise möglichst viele staatliche Plätze zu besetzen, um der rechtsextremen Ausgangsdemonstration keinen Raum zu lassen.“ [51]
Was die Gegendemonstranten in Dresden als Erfolg feierten, war nach der Rechtsprechung im Sinne des Bundesverfassungsgerichts ein Misserfolg. Die Polizei erfüllte ihrer Schutzverpflichtung nicht so wie sie vom Bundesverfassungsgericht auch für Nazi-Aufzüge als notwendig erachtet wird. Sie war nicht in der Lage Demonstranten und Gegendemonstranten auseinander zu halten und löste auch nicht die Blockaden auf. Das führte wiederum dazu, dass es an der Aufhebungsverfügung der Blockaden durch die Polizei fehlte. Ohne vollziehbare Auflösungsverfügung besteht aber mit Sicherheit keine Verpflichtung, eine Sitzblockade zu beenden. Die Konsequenz: Es bleibt nichts, was der VVN-BdA im Zusammenhang mit dieser Blockade vorzuwerfen, dazu im Einzelnen hier:
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Einführung:
Es ist sehr wichtig, die Ursachen für die Aufheizung des Klimas zu erkennen. Ja, der Klimawandel ist von Menschen gemacht, aber man kann das genauer sagen: Die Aufheizung des Klimas ist eine unmittelbare Folge der Industrialisierung. Aber auch mit dem Begriff “Industrialisierung” sind die Ursachen nicht sehr präzise benannt. Denn dieser Begriff erfasst nicht, wer diese Industrialisierung in den vergangenen zwei Jahrhunderten und vor allem auch in den letzten Jahrzehnten in den industrialisierten Ländern vorangetrieben hat.
Laut carbon Majors Report sind seit 1988 hundert Konzerne für 71 % der weltweiten schädlichen Emissionen verantwortlich. Damit sind nur die Hersteller fossiler Brennstoffe wie ExxonMobil, Shell, BHP Billiton usw. erfasst. Hinzu kommen die Konzerne, die Autos, Stahl usw. produzieren und damit ebenfalls für einen erheblichen Teil der schädlichen Emissionen verantwortlich sind.
Zur Durchsetzung der Forderung, das Klima nicht um mehr als 1,5 Grad zu erhöhen, müssen drei Fragen beantwortet werden: Welche Maßnahmen sind notwendig, um dieses Ziel zu erreichen? Wie werden die notwendigen Maßnahmen durchgesetzt? Wer soll die notwendigen Maßnahmen bezahlen?
Bei der dritten Frage geht es nicht darum, die Finanzierung auf die lange Bank zu schieben und dadurch die notwendigen Maßnahmen noch teurer zu machen, sondern es geht darum, diejenigen heranzuziehen, die zahlen können. Nur so kann die Durchführbarkeit der notwendigen Maßnahmen gesichert und vermieden werden, diejenigen in den Widerstand gegen ein klimaneutrales Wirtschaften zu treiben, die am wenigsten für die klimaschädlichen Emissionen verantwortlich sind und die auch hohe finanzielle Belastungen am wenigsten tragen können. So fordert die Deutsche Umwelthilfe zu Recht die Co2 Preiserhöhungen für die Heizenergie zu 100 Prozent den Vermietern anzulasten und ihnen den Weg zu versperren, diese Preiserhöhungen auf die Mieter abzuwälzen.
Im Kern geht es um die Arbeit in den großen Konzernen – zum Beispiel um die Arbeit in der Mobilitätsindustrie (Autos, Bus und Bahn) oder im Bergbau oder in der Energiewirtschaft. Es geht um das “Was”, “Wie” und ”Wer” der Produktion:
Was muss mehr werden (zum Beispiel: Öffentlicher Nahverkehr, erneuerbare Energien) und was muss weniger werden (zum Beispiel der Individualverkehr) und was darf überhaupt nicht mehr produziert und gefördert werden (zum Beispiel: fossile Energie, Verbrennungsmotoren)?
Wie schnell muss diese Transformation durchgeführt werden?
Wer entscheidet die notwendigen Maßnahmen, wer überprüft sie und wer kann die Nichteinhaltung dieser Maßnahmen sanktionieren oder die Sanktionierung veranlassen?
Bisher haben alle diese Fragen die Unternehmen, also das große Kapital, nicht aber die Beschäftigten in diesen Unternehmen entschieden. Das muss sich ändern. Alle, die auf dieser Erde leben und arbeiten wollen, können gegen das große Kapital eine Gegenmacht bilden, um die Transformation hin zu einer umweltverträglichen Arbeit in dem notwendigen Ausmaß und Tempo zu erzwingen und die Lasten nicht auf die Beschäftigten abzuwälzen.
Kämpfe verbinden – Warum wir uns als Arbeiterinnen im Globalen Norden für eine Staatsschuldenstreichung im Globalen Süden einsetzen sollten
Ein Gastbeitrag von Debt for Climate
Im März 2023 streikten in Sri Lanka tausende Arbeiterinnen von insgesamt über 40 Gewerkschaften. Ungeachtet des von der Regierung verordneten Streikverbots stand der Betrieb in einigen Krankenhäusern, Banken und Häfen still. Die Arbeiterinnen protestierten mit ihrem Streik unter anderem gegen Steuererhöhungen, niedrige Zinsen und hohe Energiepreise – allesamt Maßnahmen, die die Regierung Sri Lankas umsetzte, um sich angesichts einer andauernden Schuldenkrise erneut für ein Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu qualifizieren. In einem offenen Brief machten 82 Gewerkschaften den IWF und die srilankische Regierung für das enorme Leid unter der arbeitenden Bevölkerung verantwortlich. Die vom IWF unterstützten Reformen seien unter anderem für steigende Unterernährung, gesundheitliche Probleme, Elektrizitäts- und Wasserknappheit, Wohnungslosigkeit und eine Abwanderung von qualifizierten Arbeiterinnen verantwortlich, heißt es in dem Brief.
„Trotz des Pariser Klimaabkommens steuert die Welt ungebremst auf eine katastrophale Entwicklung der Klimakrise zu. Regelmäßig lesen wir in den Nachrichten wie die Klimakrise Menschenleben kostet und Lebensgrundlagen, Häuser, Infrastruktur, Kultur und Traditionen zerstört. Diese Nachrichten kommen vor allem aus den Ländern des Globalen Südens. Zunehmend macht sich die Klimakrise aber auch in den wirtschaftlich privilegierten Ländern bemerkbar.
Dennoch verbrennen wir nach wie vor gewaltige Mengen an Erdöl, Erdgas und Kohle, betreiben industrielle Landwirtschaft und holzen oder brennen Wälder ab. Das alles verursacht große Mengen an Treibhausgasen, die die Atmosphäre aufheizen. Schon heute liegt deswegen die globale Durchschnittstemperatur um etwa 1,1°C höher als noch zu Beginn der Industrialisierung. Und das ist nur der Anfang: Obwohl im Pariser Abkommen vereinbart ist, die globale Erwärmung langfristig auf maximal 1,5°C zu begrenzen, bewegen wir uns derzeit auf plus 2,7°C bis Ende des Jahrhunderts zu. Denn fast kein Land ist bereit, fair und angemessen zum globalen Klimaschutz beizutragen – auch Deutschland nicht. Konzerne investieren weiter in die Förderung fossiler Ressourcen, und der Ausbau der erneuerbaren Energien geht viel zu langsam voran. Dabei sind die 1,5°C des Pariser Abkommens nicht zufällig gewählt. Sie stellen die Grenze dar zu einem Szenario, bei dem die klimatischen Veränderungen nach derzeitigem Wissensstand zunehmend außer Kontrolle geraten. Ohne eine rasche Verringerung der Treibhausgasemissionen dürfte diese Grenze schon bald nicht mehr zu halten sein.
…
Die Klimakrise und extreme soziale Ungleichheit sind keine voneinander getrennten Krisen, sondern eng miteinander verwoben. Extreme Ungleichheit und die Klimakrise verschärfen sich gegenseitig und müssen deswegen auch gemeinsam angegangen werden. Dabei gilt es nicht nur, die Länder und Konzerne für ihre aktuellen und historischen Emissionen in die Verantwortung zu nehmen, sondern insbesondere auch die Reichen und Superreichen, die durch extremen Konsum, klimaschädliche Investitionsentscheidungen und politische Einflussnahme stark zur Klimakrise beitragen.“
“Die zweiteilige Doku zeigt, wie Ölkonzerne und ihre Verbündeten in der Politik jahrzehntelang Zweifel an der Ursache des Klimawandels schürten und notwendige Gegenmaßnahmen behinderten. Sie fragt nach den Gründen für die lange Untätigkeit angesichts der wachsenden Bedrohung und nach der Verantwortung der mächtigen Ölkonzerne, insbesondere der von ExxonMobil. Die zweiteilige Dokumentation entstand über einen Zeitraum von über 40 Jahren
29.03.2023: Republik Vanuatu gegen Klimakatastrophe
Der Planet steht vor einer existenziellen Klimakrise.
Das Völkerrecht enthält bereits Verpflichtungen zur Vermeidung von Umweltschäden und zum Schutz der Menschenrechte. Wie können diese Verpflichtungen angewendet werden, um die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen der Staaten zu verstärken?
Die Republik Vanuatu führte erfolgreich eine Koalition von 132 Nationen an, die ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in den Haag (Niederlande) forderte, um Klarheit darüber zu gewinnen, wie bestehende internationale Gesetze angewendet werden können, um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu stärken, Menschen und Umwelt zu schützen und das Pariser Abkommen zu retten.
Die Klimaresolution an den IGHwurde am 29. März 2023 während der 77. Sitzung der UN-Generalversammlung im Konsens angenommen, in der sie den Internationalen Gerichtshof aufforderte, ein Gutachten über die Verpflichtungen der Staaten nach internationalem Recht vorzulegen, die Rechte heutiger und zukünftiger Generationen vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels zu schützen.
Nun wird der Gerichtshof das erbetene Gerichtsverfahren einleiten.
Der Beitrag von Arbeitsgruppe II zum Sechsten IPCC-Sachstandsbericht (AR6-WGII) wurde bei der 55. IPCC-Plenarsitzung (14.-27. Februar 2022, virtuell) verabschiedet.
15. Januar 2023 Klimaaktivistinnen und -aktivisten verteidigten das Dorf Lützerath gegen RWE, die die Braunkohle unter diesem Dorf abbaggern wollen. Braunkohle ist die Energie mit einem besonders hohen Ausstoß an klimaschädlichen CO2 – Emmissionen. Zu dem Polizeieinsatz gegen die Klimaaktivistinnen und — aktivisten im Intersse des RWE – Konzerns eine Erklärung der Sanitätsgruppe Süd-West e.V. und Anmerkungen der Redaktion der www.gewerkschaftliche-linke-berlin.de
10.08.2022: Mehr klimaschädliche Emissionen durch die Unternehmen
Das Handelsblatt berichtete am 10. August 2022: Die 40 DAX-Konzerne erhöhten ihre klimaschädlichen Emissionen im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 6 Prozent. Absolut sind das 16,5 Millionen Tonnen Treibhausgas, das mehr ausgestoßen wird. Das sei etwa so viel, wie die Großstadt Berlin im Jahr ausstößt. 2020 waren die globalen Emissionen wegen der Coronakrise erstmals gesunken.
08.02.2022: Bewertung und Kontrolle der Klimaschutzzusagen von Unternehmen
8. Februar 2022 Hopmann. Am 7. Februar 2022 wurde von “carbon market watch” eine Studie “Corporate Climate Responsibility Monitor” veröffentlicht. Susanne Ferschel, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagesfraktion der Partei DIE LINKE, forderte daraufhin mehr Vorgaben, Standards und Kontrolle der Unternehmen und mehr Mitbestimmung der Beschäftigten im Betrieb. Wolfgang Däubler und Thomas Berger haben dazu einen konkreten Vorschlag gemacht. Weiterlesen hier
07.01.2022: Kobaltreserven reichen noch 11 Jahre
7. Januar 2022 Hopmann: In einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) – eine Institut der Unternehmerverbände – wird davor gewarnt, dass „die bekannten Kobaltreserven beim heute absehbaren Bedarf nur noch 11 Jahre“ reichen. In dem Artikel wird als Lösung auf kobaltfreie Batterien und Recycling gesetzt [1]siehe: https://ecomento.de/2021/12/21/kobaltreserven-fuer-elektroautos-reichen-noch-11-jahre-studie/.
Die Versorgung mit anderen Rohstoffen wird ebenfalls als risikoreich eingeschätzt. „Die Versorgungssicherheit der Industrie mit 20 wichtigen Rohstoffen sei sehr kritisch. Hochriskant sei die Versorgung bei den für die Elektroauto-Batterien wichtigen Rohstoffen Kobalt, Lithium und Graphit“. Zum Schluss des Berichts über diese Studie heißt es, der „verlässliche und bezahlbare Bezug von Rohstoffen“ müsse außenpolitisch und in den Unternehmen Priorität haben.
So werden bei der Beschreibung von dem, was Priorität haben soll, Außenpolitik und die Interessen der Unternehmen in einem Atemzug genannt.
Was ist mit dem allgemeinen Begriff „Versorgungssicherheit“ gemeint? Der „verlässliche und bezahlbare Bezug von Rohstoffen“? Ein weites Feld.
Zur Möglichkeit kobaltfreier Batterien heißt es nur, „man darf den technischen Fortschritt nicht unterschätzen. Aber da muss man am Ball bleiben.“
Mit Ausnahme von Kobalt werden keine Angaben darüber gemacht, wie lange die Rohstoffe reichen, wenn die Batterieproduktion hoch gefahren wird. Was sind die Folgen, wenn Rohstoffe in entsprechendem Umfang verbraucht werden? Wie oft kann das Recycling wiederholt werden?
Die Umstellung auf Batterieproduktion zur uneingeschränkten Fortführung des Individualverkehrs gleicht einem Blindflug.
Besser wäre es, den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Anstatt den Wettbewerb, also die Privatisierung auf der Schiene voranzutreiben, wie es die Bundesegierung der Ampelkoalition plant, wäre der massive Ausbau der Bahn in öffentlicher Hand notwendig. Was in der Schweiz geht – die Bahn aus einer Hand mit umfassender Dienstleistung -, muss auch in Deutschland möglich sein. Zur Vertiefung empfehle ich den Beitrag von Dr. Bernhard Knierim auf der Homepage ‚Bündnis Bahn für alle‘: „Wie der Wettbewerb die Bahn beschädigt – Gefährliche Pläne der Ampelkoalition„.
01.11.2021: IG Metall und BUND fordern Transformationsfonds und Transformationsräte
Der Transformationsatlas der IG Metall im Jahr 2019 war ein wichtiger Auftakt, um mit dem Handeln für eine umweltverträgliche Arbeit zu beginnen.
01. November 2021. IG Metall und BUND fordern in einer gemeinsamen Erklärung eine zügige Energie – und Mobilitätswende. Um vor Ort den notwendigen Druck zur Durchsetzung aufzubauen, fordern sie Transformationsräte und Transformationsfonds. Jetzt sollten sich Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Betriebsräte und Menschen der Umweltbewegung zusammen finden und den Worten taten folgen lassen.
29.04.2021: Bundesverfassungsgericht reicht Klimapaket nicht
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Das Klimapaket der Bundesregierung reicht nicht.
Das Klimaschutzgesetz vom 12. Dezember 2019 ist mit den Grundrechten unvereinbar und muss neu geregelt werden.
Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, spätestens bis zum 31. Dezember 2022 das Klimaschutzgesetz zu überarbeiten und dabei die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu beachten.
Es ist an der Zeit, in den Regionen Nachhaltigkeitsräte zu bilden. Dieser sollte aus Gewerkschaftern, Mitgliedern von Umweltverbänden und Wissenschaftlern bestehen.
Herzstück der Industrie im Krisengriff. Zehntausende Jobs in Gefahr. Die Krise ist geprägt von konjunkturellen Einbrüchen, globaler Konkurrenz und neuem Protektionismus. Schwer wiegt vor allem die Debatte um Klimaveränderungen.
Wenn es um die Umstellung auf eine umweltfreundliche Arbeit und umweltfreundliche Produkte geht, ist da immer die Angst, mit der Umstellung der Produktion den Arbeitsplatz zu verlieren. Denn für die Unternehmen gibt es diese einfache Option: Die Kündigung.
Über das „Ob“, „Wann“ und „Wo“ von Produktion oder Dienstleistung und auch über Entlassungen entscheiden allein die Unternehmen. Es sind eben nicht die Beschäftigten, sondern die Unternehmer, die in den Betrieben das Sagen haben. Diese überlegene Stellung ist das Fundament der Angst.
Und es ist nicht nur die Angst vor Arbeitslosigkeit, sondern auch die Angst vor dem sozialen Abstieg. Dies gilt selbst dann, wenn dem Beschäftigten ein neuer Arbeitsplatz angeboten wird. In der Autoindustrie sind die Beschäftigten gut organisiert und so konnten die Gewerkschaften gute Löhne durchsetzen. Ein Arbeiter bei VW verdient ca. 3.500 € netto (incl. Schichtzulagen). Die Gefahr ist real, dass er diesen Lohn nach einem Ende bei VW und einem Neuanfang in einem anderen Unternehmen nie mehr erreicht.
Ebenso wie die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, geht die Angst vor einer Klimakatastrophe auf das Konto der Kapitaleigner. Die Produktion von Autos mit Benzin- oder Dieselmotor hätte schon längst eingestellt und eine Ersatzproduktion geschaffen werden müssen. Vorrang hätte der entschiedene Ausbau und die Forderung des Öffentlichen Personen Nahverkehrs haben müssen. Aber die Unternehmer haben alles getan, um eine Umstellung zu torpedieren.
Die Süddeutsche Zeitung zitierte am 19. September 2019 die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die mit Blick auf die notwendig Umstrukturierung der Autoindustrie im Jahr 2010 bemerkt hatte: „Die Welt schläft nicht“. Die Süddeutsche Zeitung dazu: „Acht Jahre später kann man festhalten: Deutschland schläft, immer noch“.
Das gilt auch für die Umstellung auf eine umweltfreundliche Energieversorgung, das gilt für andere Bereiche der Industrie und das gilt für die Landwirtschaft. Die Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft zusammen mit der Politik haben vollständig versagt. Aber hinter diesem Versagen stecken Interessen – die Interessen des großen Kapitals, dem mehr an einer guten Jahresbilanz als an einem besseren Schutz der Umwelt gelegen ist. Das ist die treibende Kraft, die das Klima weiter aufheizt und Angst erzeugt. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, die Angst in Mut umzuwandeln.
28.09.2020: Ein eigenes Transformationsprogramm aufstellen!
Die IG Metall hat einen Transformationsatlas im Jahr 2019 herausgegeben. Das war ein wichtiger Anfang.
Jetzt muss die Frage beantwortet werden: Was folgt daraus?
Doch muss die Frage beantwortet werden: Was folgt daraus?
Denn es reicht nicht, sich auf die Kritik zu beschränken, die Unternehmen hätten sich immer noch nicht auf die Transformation vorbereitet. Es reicht auch nicht, nur betriebs- bzw. unternehmensbezogen zu agieren. Schon jetzt läuft es in den Zuliefererfirmen Autoindustrie nach dem üblichen Strickmuster: Wo Arbeitsplätze wegfallen, wird der Betrieb dicht gemacht. Auch in den Stammbetrieben sind Beschäftigte von Arbeitslosigkeit bedroht.
Die Kritik am Klimapaket der Bundesregierung sollte Ausgangspunkt für ein eigenes Transformationsprogramm sein, das die Gewerkschaften gemeinsam mit der Klimaschutzbewegung dem Klimapaket der Bundesregierung entgegenstellen.
Die bahnbrechende „Carbon Majors“-Forschung zeigt, dass 100 aktive Hersteller fossiler Brennstoffe, darunter ExxonMobil, Shell, BHP Billiton und Gazprom, mit 71 % der industriellen Treibhausgasemissionen seit 1988 in Verbindung stehen.
Die Zahl der Leiharbeitskräfte explodierte in den vergangenen 50 Jahren. 1973 wurden 19.417 Leiharbeitskräfte gezählt, 1990 rund einhunderttausend, 2015 knapp eine Millionen[1]Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitnehmerüberlassung, Leiharbeitnehmer – Zeitreihe ab 1973 November 2016, 2019 knapp 900.000[2]Bundesagentur für Arbeit 2020/07: Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit (PDF, 820KB) dort auf Seite 7 die Entwicklung der Zahl der Leiharbeitskräfte von 1990 bis 2019 und 2022 über 1 Millionen[3]Statistik destatis; https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/atyp-kernerwerb-erwerbsform-zr.html, abgerufen am 14.10.2023; auffallend, dass diese Angabe des … Continue reading Leiharbeitskräfte.
Nach Angaben des SPIEGEL schnellte im April 2020 die Zahl der Leiharbeiter, die arbeitslos wurden, um mehr als 30 Prozent in die Höhe und lag um rund 30 Prozent höher als im gleichen Monat des Vorjahrs. Auch im Mai 2020 lag der Wert noch rund 13 Prozent höher als im Mai des Vorjahres. Im Juni und Juli hat sich der Trend offensichtlich schon wieder gedreht. Seils von der Hans-Böckler-Stiftung: Ein “Großteil der Beschäftigungsverhältnisse hängt direkt von bestimmten Einsätzen beim Entleihunternehmen ab und wird oft in der Probezeit ohne große Fristen wieder gekündigt”. Früher war das so nicht möglich (so genanntes Synchronisationsverbot). Es lohnt sich mit der Geschichte der Leiharbeit zu befassen (siehe unten unten).
Ein Leiharbeiter schreibt in einem Leserbrief in der METALL-Zeitung von Oktober 2016 unter der Überschrift „Druck auf Kranke bei Randstadt“:
„Da ändert sich wohl nichts bei diesem Sklavenhändler. … Sobald ich eine Krankmeldung eingereicht hatte, wurde ich regelmäßig dazu genötigt, Freizeitausgleich oder Urlaub zu nehmen. Zudem wurde ich in die Geschäftsstelle beordert, wo man mich dann immer schön verbal plattmachte… Nie mehr wieder Zeitarbeit““
2016 wollte die zuständige Ministerin A. Nahles dem „Missbrauch“ bei Leiharbeit einen Riegel vorschieben[4] A. Nahles BT-Protokolle 18. Wahlperiode 190. Sitzung 22.09.2016 S. 18764. Die Erwiderung auf diese Rede durch die Abg. d. Fraktion DIE LINKE Sahra Wagenknecht BT-Protokolle 18. Wahlperiode 190. … Continue reading. Schon 1972, als das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verabschiedet wurde, war das Ziel, „Missstände“ zu beseitigen[5]Abg. Folger (SPD) Bundestagsdebatte v. 21.06.1972 BT-Protokolle 6. Wahlperiode 194. Sitzung S. 11378. Aber der Missstand ist die Leiharbeit selbst.
Dieses Gesetz gab nie, auch nicht vor Beginn seiner Demontage, den abhängig Beschäftigten den Schutz zurück, der ihnen durch die Aufhebung des Verbots der Leiharbeit genommen wurde.
Wie viele Zugeständnisse haben Betriebsräte gemacht, wie vielen Überstunden, wie vielen Sonderschichten haben sie zugestimmt, damit einige Leiharbeiter als Stammarbeiter eingestellt wurden? Was hätte von Betriebsräten durchgesetzt werden können, wenn Leiharbeit verboten gewesen wäre und nicht die Notwendigkeit dieser Umwandlung von Leiharbeitskräften in Stammarbeitskräfte bestanden hätte?
Die IG BAU, die IG Metall und auch der DGB forderten über Jahre ein Verbot der Leiharbeit. Alle Gewerkschaften sollten zu dieser Forderung zurückkehren.
Die IG BAU konnte 1981 ein Verbot der Leiharbeit in der Bauwirtschaft durchsetzen, das bis heute gilt[6]Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung v. 22.12.1981 BGBl. Teil I S. 1497; dort § 12a; jetzt: § 1b AÜG. Dieses Verbot wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht gekippt, sondern als … Continue reading.
Die abhängig Beschäftigten haben kein Interesse an der Verleihung von Arbeitskräften. Sie entwertet die Arbeitskraft der Leiharbeiter und ist die ständige Drohung an die Adresse der Stammarbeiter: Es geht auch billiger. Für einen Leiharbeiter ist es demütigend, in diese Rolle gedrängt zu werden.
Noch erniedrigender sind die besonderen Repressionsmöglichkeiten, die gegen einen Leiharbeiter eingesetzt werden können. Die Versetzung, schon bei Stammarbeitskräften als ein Instrument zur Disziplinierung bekannt, wird in der Hand eines Verleihers zu einem extrem scharfen Einschüchterungsinstrument, weil der Verleiher seinen Leiharbeiter jederzeit aus einem Betrieb abmelden und in den Betrieb eines anderen Unternehmens schicken kann. Die Arbeitsbedingungen können sich dadurch komplett verschlechtern: Wegezeiten, Arbeitszeiten, Arbeitsbelastungen usw. Die Umsetzung der Forderung ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘ entschärft diese Disziplinierungswirkung nicht, eher im Gegenteil. Denn der Leiharbeiter kann jederzeit in den Betrieb einer anderen Branche mit erheblich schlechterer Vergütung auch für die Stammarbeiter geschickt werden. Diese besonderen Disziplinierungsmöglichkeiten können nicht unterbunden werden ohne die Leiharbeit insgesamt zu unterbinden. Leiharbeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass der Leiharbeiter nicht mehr selbst entscheidet, in welchem Unternehmen er arbeitet. Das ist das Wesen der Leiharbeit. Und gerade das hat dem Verleiher den Namen Sklavenhändler eingebracht[7]Ton-Steine-Scherben sangen schon vor über 40 Jahren: „Sklavenhändler hast Du Arbeit für mich? Sklavenhändler ich tu’ alles für Dich.“.
Kleine Geschichte der Leiharbeit
– Inhaltsverzeichnis –
jede der folgenden blauen Zeile kann man zum Weiterlesen anklicken und weiterlesen:
Leiharbeitskräfte haben einen Arbeitsvertrag, der erlaubt, dass ihre Arbeitskraft an andere Unternehmen verliehen wird. Damit können sie nicht mehr darüber entscheiden, in welchem Unternehmen sie arbeiten. Genau darin unterscheiden sie sich von einer Stammarbeitskraft: Während die Stammarbeiter zum Beispiel im Mercedes Werk in Bremen ihre Arbeitskraft – in einem Arbeitsvertrag – selbst an Daimler vermietet haben, überlassen die Leiharbeiter das ihrem Verleiher, der einen so genannten Arbeitnehmerüberlassungsvertrag mit Daimler abschließt. Die Leiharbeitskräfte haben gar keinen Arbeitsvertrag mit Daimler, sondern nur mit ihrem Verleiher.
Verleihfirmen sprechen nicht von Leiharbeit, sondern von “Zeitarbeit”. Für diese Unternehmen geht es um ein Geschäft, das nicht prinzipiell in Frage gestellt werden soll. Deshalb verwenden sie den unverfänglichen Begriff ‚Zeitarbeit‘, der eher verschleiert und beschönigt. Das Gesetz (AÜG) spricht von Arbeitnehmerüberlassung, Verleiher und Entleiher.
Juristisch genauer als der Begriff ‚Leihe‘ wäre allerdings der Begriff ‚Miete‘ – ebenso wie Mietwagen präziser ist als Leihwagen; denn Geliehenes gibt es umsonst, für Gemietetes muss man jedoch zahlen.
Der Begriff „Arbeitnehmerüberlassung“ stellt jedenfalls klar, dass nicht Arbeit überlassen wird. Es ist die Arbeitskraft, die überlassen, genauer: weiter vermietet wird. Aus ihrer Arbeit zieht der Entleiher seinen Gewinn – wie bei den Stammarbeitskräften auch – und verbucht die Miete für die Leiharbeitskraft – anders als bei den Stammarbeitskräften – als Sachkosten. Dann zieht der Verleiher seinen Gewinn ab und zahlt den Rest an die Leiharbeitskraft als Lohn bzw. Gehalt.
In dem Wort “Arbeitnehmerüberlassung” ist der Begriff “Arbeitnehmer” enthalten. Dieser Begriff “Arbeitnehmer” ist ebenso von den Interessen der Unternehmer geleitet wie der Begriff “Zeitarbeit”. Jeder, ob Arbeiter oder Angestellter, weiss, dass er arbeitet, also Arbeit gibt und nicht nimmt.
Der Einsatz von Leiharbeitskräften ist für den Entleiher deswegen kostengünstig, weil er sie jederzeit wieder aus dem Betrieb entfernen kann, ohne Kündigung, ohne Kündigungsfristen, ohne Kündigungsschutzprozesse, ohne Abfindungen, ohne die Vereinbarung von Sozialplänen. Die Kehrseite für die Leiharbeitskraft: Sie kann jederzeit abgemeldet werden und wird niemals Teil der Belegschaft wie eine Stammarbeitskraft.
So wird die Belegschaft gespalten und es wird schwerer gegen Ausbeutung und Unterdrückung gemeinsam zu kämpfen.
Wir werden, obwohl nicht korrekt, im Weiteren von ‚Leihe‘, ‚Verleihung‘ oder ‚Leiharbeit‘ sprechen, weil das gebräuchlicher ist als der im Gesetz verwendete Begriff ‚Arbeitnehmerüberlassung‘. Im Übrigen werden wir aber wie im Gesetz von ‚Verleiher‘ und ‚Entleiher‘ sprechen.
Statistik destatis; https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/atyp-kernerwerb-erwerbsform-zr.html, abgerufen am 14.10.2023; auffallend, dass diese Angabe des statistischen Bundesamtes für 2022 erheblich höher ist als die Zahl der Leiharbeitskräfte, die die Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2022 ausweist, siehe link zu den aktuellen Angaben in Fußnote 2
A. Nahles BT-Protokolle 18. Wahlperiode 190. Sitzung 22.09.2016 S. 18764. Die Erwiderung auf diese Rede durch die Abg. d. Fraktion DIE LINKE Sahra Wagenknecht BT-Protokolle 18. Wahlperiode 190. Sitzung v. 22.09.2016, S. 18765 ff
Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung v. 22.12.1981 BGBl. Teil I S. 1497; dort § 12a; jetzt: § 1b AÜG. Dieses Verbot wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht gekippt, sondern als vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt (BVerfG v. 6.101987 1 BvR 1086, 1468, 1623/82 in BVerfGE 77, 84). Die Bundesregierung hielt dieses Verbot auch bei der Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie der EG in deutsches Recht aufrecht (Kittner Arbeits- und Sozialordnung 41. Auflg. 2016, S. 128, 131).
“Alles zu retten Muss alles gewagt werden. Ein verzweifeltes Übel Will eine verwegene Tat” Friedrich Schiller: Aus “Die Verschwörung des Fiesco zu Genua”
Das Hinweisgeberschutzgesetz wurde im Bundesgesetzesblatt vom 2. Juni 2023 verkündet (BGBl. v. 2. 6. 2023 I Nr. 140) und trat am 2. Juli 2023 in Kraft. Es ist eine Gesetz geblieben, das Unternehmen mehr schützt als diejenigen, die Missstände in diesen Unternehmen bekannt machen wollen.
In zahlreichen Punkten bleibt es sogar hinter der EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern zurück. Die schwerwiegensten Mängel bestehen in dem Recht der Offenlegung: Das Verbot unrichtige Informationen offenzulegen, kann für Whistleblower eine unüberwindbare Hürde sein, weil sie zwar handfeste Anzeichen für schwere Missstände haben, aber nicht mit Sicherheit die Richtigkeit der Missstände beweisen können. Ebenso schwerwiegend ist das Verbot der Offenlegung, wenn nur geringe Aussichten bestehen, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden wirksam gegen einen Verstoß vorgehen werden. Auch die Pervertierung des Whistleblowerschutzes bei Beamtinnen und Beamten in einen Denunziantenschutz ist geblieben, siehe § 2 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes.
Hinweisgeberschutz-Gesetz: Whistleblowerschutz als Denunziantenschutz
Das Hinweisgeberschutzgesetz wurde im Februar 2023 vom Bundesrat gestoppt. Es hatte vorgesehen, dass auch die Meldung oder die Offenlegung von Informationen über “Äußerungen von Beamtinnen und Beamten des Bundes, die einen Verstoß gegen die Pflicht zur Verfassungstreue darstellen” geschützt werden [1]. Nun gibt es zahlreiche historischer Erfahrungen, wie das ausgelegt wird. Vom Gesetz zum Schutz der Republik des Jahres 1922 bis zu den Berufsverboten richtete sich das immer vor allem gegen Demokraten und Linke. Bisher war die Bekämpfung der Demokraten allerdings immer Sache der Obrigkeit. Neu ist nun, dass die Meldung und Offenlegung solcher Informationen zur Aufgabe der Kolleginnen und Kollegen gemacht wird.
Unternehmen erhalten einen besonderen Schutz vor Veröffentlichungen, der sonst im Zivilrecht oder Strafrecht nicht existiert. Menschen wie Daniel Ellsberg, Edward Snowden oder Chelsea Manning legen Verstösse im nationalen Sicherheitsbereich, Bundesnachrichtendienst usw. offen. Sie dürfen nicht vom Whistleblowerschutz ausgeschlossen werden. Im Übrigen müssen auch Whistleblower geschützt werden, die Missstände offenlegen, die keine Rechtsverstösse sind.
Menschen, die sich zum Whistleblowing entschieden haben
1. Whistleblower
Whistleblower sind Menschen, die unternehmensinterne Missstände bekannt macht. Eine Person ist auch ein whistleblower, die Missstände der öffentlichen Einrichtung, in der sie arbeitet, bekannt macht.
Edward Snowden war ein Whistleblower. Er gab Informationen an den Guardian-Journalisten Glenn Greenwald über streng geheime US-amerikanische und britische Programmen weiter, die der Überwachung der weltweiten Internetkommunikation dienten und zu denen er als Systemadministrator Zugang hatte. Er bekam für seinen Dienst an der Öffentlichkeit zahlreiche Preise, darunter den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis), den Whistleblower Preis der Vereinigung deutscher Wissenschaftler und die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Liga für Menschenrechte. In den USA wird er per Haftbefehl gesucht.
Daniell Ellsberg war ein Whistleblower. Er kopierte als Mitarbeiter im Verteidigungsministerium die so genannten Pentagon Papiere. Diese Papiere zeigten, dass bereits Vorbereitungen für einen Krieg gegen Vietnam getroffen worden waren, als US-Präsident Johnson noch behauptete, nicht in Vietnam intervenieren zu wollen. Die Papiere zeigten auch, dass der Krieg trotz steigender amerikanischer Verluste weiter geführt werden sollte, um Vietnam auszubluten. Die New York Times begann 1971, sie abzudrucken. US-Präsident Nixon verbot die weitere Veröffentlichung. Dieses Veröffentlichungsverbot wurde vom obersten Gerichtshof der USA aufgehoben. Das Geheimhaltungsinteresse des Staates müsse im Zweifelsfall hinter den Interessen der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit zurückstehen.
Katharin Gun gab an den Observer eine E-Mail der NASA vom 31. Januar 2003 weiter, in der britische Agenten aufgefordert wurden, den UN-Sicherheitsrat auszuspionieren, um eine Rechtfertigung für den Irak-Krieg zu finden. Diese E-Mail und weitere Recherchen veröffentlichte der Observer am 2. März 2003. Am 5. Februar 2003 hielt Colin Powell seine Rede, mit der den Sturz Saddam Husseins und den Krieg im März 2003 rechtfertige: Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. Diese Behauptung war falsch gewesen, wie Powell im Jahr 2005 in einem Interview enräumte, weiterlesen hier.
Chelsea Manning war eine Whistleblower. Sie übergab Material an Wikileaks weiter, darunter ein dienstlich aufgenommenes Bord-Video, das die gezielte Tötung von mindestens sieben Zivilpersonen durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers am 12.07.2007 im Irak zeigt (https://collateralmurder.wikileaks.org). Chelsea Manning hatte zu diesem Material Zugang als Nachrichtendienstanalytikerin der US-Army
Miroslav Strecker war ein Whistleblower. Ihm wird als LKW-Fahrer bekannt, dass die Wertfleich GmbH Wurst- und Fleischfabrik Fleischabfälle zu Dönerfleisch verarbeitet und gibt das an die Gewerbeaufsicht weiter. Der Bundesminister für Landwirtschaft und Forsten, Horst Seehofer, ehrt ihn 2007 mit der „Goldenen Plakette“ für Zivilcourage. Strecker wird krank wegen eines Rückenleidens. Nachdem er wieder gesund ist, erhält er die Kündigung. Jetzt arbeitet er als Busfahrer (https://www.anstageslicht.de/menschen-dahinter/miroslav-strecker/).
Brigitte Heinisch war ein Whistleblower. Sie bekam als einzige Nichtakademikerin den Whistleblower-Preis der Vereinigug deutscher Wissenschaftler. Wegen schwerer Pflegemängel in einem Altenpflegeheim von Vivantes, in dem sie als Altenpflegerin arbeitet, erstattete sie Strafanzeige gegen ihre eigene Arbeitgeberin, die Vivantes – Netzwerk für Gesundheit GmbH. Brigitte Heinisch wird krank, auch wegen der Belastungen in diesem Konflikt. Der Kern ihrer Kritik: Personalmangel führte zu schweren Pflegemängeln. Vivantes kündigt ihr zunächst wegen ihrer Krankheit, dann erneut, fristlos, wegen des „Verdachts der Initiierung eines Flugblattes“, in dem gegen die unhaltbaren Zustände in dem Pflegeheim und ihre erste Kündigung protestiert wurde. Brigitte Heinisch klagt gegen diese Kündigungen. In der ersten Instanz gewinnt sie, weil das Flugblatt durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. In der zweiten Instanz verliert sie wegen der Strafanzeige, die sie erstattet hatte. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wertet diese Strafanzeige als rechtmäßig. Die Kündigung war eine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit, auf die sich Brigitte Heinisch bei ihrer Strafanzeige berufen konnte (Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-108773).
Romana Knezevic ist Whistleblower. Sie arbeitet als Krankenpflegerin in der Asklepios-Klinik St. Georg in Hamburg, ist dort Mitglied des Betriebsrates und seit Jahren in der Bewegung für ein besseres Gesundheitswesen aktiv. Sie hatte im Fernsehen den Personalmangel in der Intensivstation der Asklepios-Klinik St. Georg kritisiert. Daraufhin forderte die Klinik die Zustimmung des Betriebsrates zur Kündigung von Ramona Knezevic. Der Betriebsrat lehnte ab. Die Klinik zog vor das Arbeitsgericht, um sich dort die Zustimmung ersetzen zu lassen, die der Betriebsrat verweigerte. Ramona Knezevic kämpfte zusammen mit dem Betriebsrat gegen ihre Kündigung und erfuhr große Zustimmung. Das war etwas ganz Besonderes, weil es häufig der Geschäftsleitung gelingt, die Kolleginnen und Kollegen gegen Whistleblower aufzubringen, so dass sie von ihren Kolleginnen und Kollegen gemieden werden. Das entschiedene Handeln von Ramona Knezevic zusammen mit der Unterstützung durch ihre Kolleginnen und Kollegen führten zu einer Solidaritätsbewegung über die Pflegekräfte hinaus: Hört auf die Beschäftigten! Diese Kraft war so wirksam, dass die Asklepios-Klinik St. Georg den Antrag beim Arbeitsgericht zurükzog.[2]https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/index.html
2. Whistleblower oder Unternehmen schützen?
Die Meinungsäußerungsfreiheit von Whistleblowern ist deswegen so bedeutsam, weil sie die Warnung vor drohenden Gefahren ermöglicht, denen die Allgemeinheit sonst schutzlos ausgeliefert wäre; niemand anderes weiß davon oder wir erfahren das erst, wenn es zu spät ist.
Doch die Machtmittel der Unternehmen und des Staates sind groß, Whistleblowing zu unterbinden. Denn das Arbeitsverhältnis ist ein Herrschaftsverhältnis. Ein Unternehmer muss nicht einmal zur Kündigung greifen, um seine Beschäftigten davon abzuhalten, Missstände im Betrieb oder Büro extern anzuzeigen oder öffentlich zu machen. Der Arbeitgeber hat über sein Direktionsrecht zahlreiche andere Möglichkeit, Druck auszuüben. Schikanen, Mobbing, Zuweisung schlechter Arbeit, Versetzung – alles das sind Repressalien, die die Arbeit auf Dauer unerträglich machen können.
So werden die privaten Betriebe und Büros zu einer Blackbox.
Der ehemalige Richter beim Bundesverfassungsgericht Dr. Jürgen Kühling beschrieb die Situation von Whistleblowern 1999 so: “Das Recht schützt – auch bei uns – die dunklen Geheimnisse der Mächtige. Wer rechtswidrige oder gemeinschädliche Handlungen staatlicher Stellen oder seines Arbeitgebers offen legt, verletzt regelmäßig Verschwiegenheitspflichten und setzt sich Maßregelungen aus … Im Arbeitsrecht gibt es kein allgemein anerkanntes gesetzliches Maßregelungsverbot für ‘Whistleblower’. Der strafrechtliche Schutz von Staats-, Amts- und Geschäftsgeheimnissenreicht weit und kennt ebenfalls keine generelle Ausnahme für rechtswidrige oder gemeinschädliche Tatsachen. Auch das gesellschaftliche Umfeld des Whistleblowers steht gewöhnlich nicht auf seiner Seite. Sein Verhalten wird als Verrat eingestuft, gilt als illoyal. Ein tief verwurzelter Ethos der Gefolgstreue überlagert die Grundsätze einer aufgeklärten Ethik, die sein Verhalten gutheißt. Zustimmung erfährt er, wenn überhaupt, gewöhnlich von weit her. … Von Freunden gemieden, vom Recht verfolgt – das ist das gewöhnlich Schicksal dessen, der sich im Interesse von Frieden, Umwelt oder anderen höchstrangigen Rechtsgütern zum Bruch der Verschwiegenheit entschließt … Das darf nicht so bleiben. Wer überragende Gemeinschaftsbelange, Überlebensinteressen der Menschheit über seine beruflichen oder allgemeinen Loyalitätsbindungen stellt, darf nicht zum Verfolgten werden. Das Recht muss auf seiner Seite stehen”[3]Geleitwort von Dr. Jürgen Kühling zur Verleihung des Whistelblowerpreises 1999 an Alexander Nikitin.
So ist es im Wesentlichen bis heute geblieben. Das Wichtigste, was ein Whistelblower braucht, ist die Solidarität. Aber auch “das Recht muss auf seiner Seite stehen”. Erster Schritte sind die Verabschiedung des Geschäftsgeheimnisgesetzes und der Whistelbower-Richtlinie der EU. Aber das reicht nicht.
Angenommen Edward Snowden hätte eine weitere Person in seine Pläne eingeweiht und diese Person hätte Edward Snowden’s Offenlegungspläne vorzeitig an einen Vorgesetzen der NSA weiter gegeben, wen würden Sie als Denunziant bezeichnen, Edward Snowden oder die Person, die Edward Snowdens Pläne an Vorgesetzte der NSA weiter gibt? Wen würde die NSA als Denunzianten bezeichen?
Welche Rechte haben Whistleblower Nach der EU-Richtlinie?
Whistleblower können betriebliche Missstände intern oder extern melden oder sie können diese Missstände öffentlich machen (offenlegen). Im Folgenden kurzgefasst die individuellen Rechte von Whistleblowern nach der Whistleblowing Richtlinie der EU 2019/1937.
I. Interne Meldung
Eine interne Meldung ist eine Meldung, die nicht den Betrieb bzw. das Unternehmen verlässt.
Schon jetzt eröffnet zum Beispiel das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) die Möglichkeit der internen Beschwerde bei allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit.
Die Artikel 8 und 9 der EU-Richtlinie 2018/0106 zum Whistleblowerschutz verpflichten bei mehr als 50 Beschäftigten zur Einrichtung einer internen Stelle zur Meldung von Verstößen gegen EU-Recht und regeln das Verfahren für diese interne Meldungen und die Folgemaßnahmen.
II. Externe Meldung
Eine externe Meldung ist eine Meldung an die zuständigen Behörden, wie z.B. den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, die Heimaufsicht, die Lebensmittelkontrollen oder die Gewerbeaufsichtsämter.
Die EU-Richtlinie 2018/0106 verlangt in jedem Fall, dass Vertraulichkeit gewährleistet wird. Es wird darauf ankommen, dass beide Regelungen – freie Wahl interner oder externer Meldung und Vertraulichkeit – bei der Umsetzung in deutsches Recht nicht aufgegeben oder verwässert werden.
III. Offenlegung regelmäßig letztes Mittel
Eine Offenlegung ist die Mitteilung eines betrieblichen Missstandes an die Öffentlichkeit, also Presse, Funk und Fernsehen. Nach der Rechtsprechung des EGfMR ist die Offenlegung das letzte Mittel zur Beseitigung von Missständen und die Whistleblowing-Richtlinie (EU) 2019/1937 verlangt: Regelmäßig erst interne und externe Meldung oder nur externe Meldung, dann Offenlegung[4]https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2019/1937/oj?locale=de. Nur in Ausnahme darf ohne vorherige interne oder externe Meldung die Öffentlichkeit informiert werden. Wenn die Öffentlichkeit informiert wird, ist besonders sorgfältigdie Richtigkeit der Angaben zu prüfen, die an die Öffentlichkeit gegeben werden.
Hinweis: Eine Offenlegung (Öffentlichmachung) sollte nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.
Das ist das größte Problem aller bisherigen Bemühungen. einen besseren gesetzlichen Schutz für Whistleblower durchzusetzen: Das, was am meisten Druck auf das Kapital und den Staat erzeugt, Missstände im Büro oder Betrieb zu vermeiden, ist zugleich das, was am stärksten eingehegt wird: Die Öffentlichmachung dieser Missstände in Presse, Funk und Fernsehen.
Eine ausführliche Darstellung der WhistleblowerRechte weiterlesen hier:
Für ein besseres Whistleblower-Recht
Im Folgenden seien sechs Punkte genannt, die bei der Umsetzung der EU-Verordnung in deutsches Recht beachtet und das Whistelblower-Recht verbessern sollten:
1. Forderung: Veröffentlichung von Rechtsverstößen vorbehaltslos ermöglichen
Eine Weitergabe von unternehmensinternen Rechtsverstößen an Journalisten und die Veröffentlichung in Presse, Funk und Fernsehen darf nicht regelmäßig nur unter Vorbehalt erlaubt sein. Zur Voraussetzung darf also nicht gemacht werden, dass eine unternehmensinterne Meldung oder eine externe Meldung bei einer zuständigen Behörde keinen Erfolg hatte[5]Abs. 1 a) Art. 15 EU-Richtlinie.
Das Recht des Whistelblowing muss so gefasst sein, dass „bei allen Äußerungen von Beschäftigten, die nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen erfolgen sowie eine das öffentliche Interesse wesentlich berührende Frage betreffen, eine gesetzliche Vermutung für den Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit vor anderen rechtlich geschützten Interessen spricht“ [6]D. Deiseroth, Neue Vorgaben für die deutschen Gerichte aus Straßburg? Der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit von Beschäftigten nach Art.10 EMRK, in: ZRFC 2/12 S.66-71, S.71; siehe auch … Continue reading
Die effektivste Möglichkeit der Bekämpfung von Missständen und Rechtsverstößen in Unternehmen ist ihre Veröffentlichung.
2. Forderung: Freie Wahl zwischen interner und externer Meldung beibehalten
3. Forderung: Anonymisierung
4. Forderung: Allgemeiner Schutz des Whistleblowing, auch bei wesentlichen Sicherheitsinteressen und Verschlusssachen
5. Forderung: Bei Strafanzeigen nur dann kein Schutz, wenn wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden
6. Forderung: Schutz nicht nur bei der Bekanntmachung von Rechtsverstößen
Whistelblowing erneut durch großen Kammer des EGMR verbessert
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte im Fall Halet v. Luxembourg (no. 21884/18) einen ermutigenden Schritt zugunsten des öffentlichen Whistleblowings getan. Ein Kammer-Urteil wurde der Großen Kammer zur Überprüfung und Entscheidung vorgelegt.
Am 14. Febraur 2023 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschieden: Sie hat das Urteil der Vorinstanzen revidiert und Raphaël Halet eine Entschädigung zugesprochen.
Dr. Gawlik kämpft für die Rechte von Whistleblowern
Whistleblower-Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 16.2.2021 für Menschenrechte (EGMR Nr. 23922/19 Gawlik ./. Liechtenstein)
Der deutsche Arzt Dr. Gawlik klagte, weil ihm im Jahr 2014 sein Arbeitgeber, das Landesspital Liechtensteins, gekündigt hatte. Dr. Gawlik hatte den Chefarzt des Landesspitals bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Euthanasie angezeigt. Deswegen wurde ihm fristlos gekündigt. Die Gerichte Liechtensteins billigten die Kündigung.
Auch wenn er sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht durchsetzen konnte und auch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den Fall nicht noch einmal überprüfen wollte, warf Dr. Gawlik wichtige Fragen auf, die gelöst werden müssen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bedarf in folgenden Fragen einer dringenden Korrektur:
Was kann von einem Beschäftigten verlangt werden, der gegen seinen Chef Strafanzeige wegen des Verdachts der Tötung stellt?
Darf einem Menschen gekündigt werden, weil er bei der Staatsanwaltschaft den Verdacht einer schweren Straftat seines Chefs anzeigt, dazu auch wahre Tatsachen hinterlegt, aber nicht weiter ermittelt?
Verdienen Unternehmer oder Arbeitgeber einen größeren Schutz vor Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft als alle anderen Personen?
Was ist wichtiger: Das Ansehen einer Klinik oder die Sorge um das Leben der Patientinnen und Patienten?
Im deutschen Recht wird die Entscheidung Gawlik ./. Liechtenstein voraussichtlich keine Auswirkungen haben. Dr. Gawlik hat aber dazu beigetragen, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Fragen auf Dauer nicht wird entziehen können.
Ein sehr gutes Portrait von Dr. Gawlik kann gelesen werden in: Katharina Kutsche, Süddeutsche Zeitung vom 1. Juli 2021 „Der Arzt, der seinen Chef verdächtigt“: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/whistleblower-kriminalitaet-sterbehilfe-1.5337099?reduced=true
D. Deiseroth, Neue Vorgaben für die deutschen Gerichte aus Straßburg? Der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit von Beschäftigten nach Art.10 EMRK, in: ZRFC 2/12 S.66-71, S.71; siehe auch Annegret Falter „Wistleblowerschutz in Deutschland vor der gesetzlichen Regelung“ Festschrift Zöpel