Wir wissen was uns erwartet

image_pdf

Schon bisherige Privatisierungsschritte waren folgenschwer. | Benedikt Hopmann

Es ist jetzt gut zehn Jahre her: Wir standen auf den Bahnsteigen und warteten. Manchmal kam eine S‐Bahn nach einer halben, manch­mal nach einer Stunde. Und manchmal kam sie gar nicht. Es war Winter, die Bahn­steige waren überfüllt, und wir klapperten mit den Zähnen. Das ging wochenlang so.
»Da sieht man es doch. Die öffentliche Hand kann es nicht«, schimpften diejenigen, die es schon immer besser wussten und das Wasser, die Gesundheitsversorgung und die S‐Bahn lieber heute als morgen privatisieren möchten.

Die S-Bahn Berlin GmbH gehört zu 100 Prozent der Deutschen Bahn AG (DB AG), und die Deutsche Bahn AG gehört zu 100 Prozent dem Staat. War das Desaster Ende der 2000er Jahre der Beweis dafür, dass die S-Bahn ausgeschrieben werden muss, damit sie besser wird?

Als GmbH muss die S-Bahn ihr Ergebnis, also Gewinn oder Verlust, jähr­lich veröffentlichen. Am 17. Juni 2020 legte das Verkehrsministerium den Bundestags-abgeordneten auf einer Sitzung des Verkehrsausschusses die Ergebnisse der Gewinn- und Ver­lust­rechnungen der S-Bahn Berlin GmbH aus den Jahren 2000 bis 2019 vor: Zwischen 2001 und 2005 schwankte das Ergebnis zwischen einem Verlust von vier Millionen Euro und einem Gewinn von 17 Millionen Euro. Der durchschnittliche Gewinn betrug neun Millionen Euro. Dann vervielfachte sich der Gewinn innerhalb weniger Jahre. Grund war der geplante Gang an die Börse. Ab 2006 bereitete Bahnchef Hart­mut Mehdorn den Verkauf der Bahn­aktien an der Börse vor. Die Bahn war schon vorher, im Zuge der Bahn­re­form 1994, in eine Aktien­gesell­schaft (AG) umgewandelt worden – eine formelle Privatisierung als erste Stufe einer Privatisie­rungs­kas­ka­de hat­te stattgefunden. Aber die Aktien waren noch zu 100 Prozent in staatlicher Hand. Damit sollte nun Schluss sein. Ziel war es, die Bahnaktien zu einem hohen Preis zu verkaufen. Das konnte nur erreicht werden, wenn die DB AG hohe Gewinne auswies.

Die S‐Bahn lieferte. Ihre Ge­win­ne, die sie an die DB AG abführt, ver­vielfachten sich von neun Millionen Euro im Jahr 2005 auf 54 Millionen Euro im Jahr 2008.

Wie erhöht man den Gewinn? Indem man die Kosten senkt. Wie lassen sich schnell und einfach Kosten sparen? Durch Kürzungen beim Personal: Hatte die S-Bahn Berlin GmbH im Jahr 2006 noch 3.766 Beschäftigte, waren es Ende 2008 fast 900 weniger. Auf der Suche nach weite­ren Einsparmöglichkeiten schloss das Unternehmen 2006 die wichtige Betriebswerkstatt Friedrichsfelde. Trotz aller Bemühungen konnten die Beschäftigten die Züge nicht mehr im notwendigen Umfang warten. Zudem verschrottete die Bahn angeblich überflüssige Züge, so dass es an Reserven fehlte.

Im Januar 2009 frieren die Fahrsperren ein. Am 1. Mai entgleist ein Zug durch Radbruch. S-Bahn-Chef Tobias Heinemann sieht keine Probleme. Wenige Tage später fordert die Aufsichtsbehörde, das Eisen­bahn-Bundesamt (EBA), zusätzliche Sicher­heitsprüfungen. Ende Juni stellt das EBA fest, dass die Prüfungen völlig unzureichend durchgeführt wurden. Alle nicht geprüften Fahrzeuge werden aus dem Verkehr gezogen. Nur noch 165 von 632 Viertelzügen sind einsatzbereit. Im Herbst werden defekte Brems­zylin­der festgestellt, dann Störungen an Türen und Antrieben. Mehrere Linien werden eingestellt, später wird nur mit ausgedünntem Fahrplan und verkürzten Zügen gefahren.

Doch dann muss der Börsengang als nächster Privatisierungsschritt abgesagt werden. Denn 2009 ist nicht nur ein Krisenjahr der Berliner S-Bahn, sondern zugleich der Höhe­punkt einer allgemeinen Wirtschafts- und Finanzkrise, in der sich Aktien nicht mehr gewinnbringend verkaufen lassen. Es beginnen die Aufräumarbeiten. Dazu gehört auch, dass die S-Bahn Berlin GmbH dem Land Berlin viel Geld als Schadensersatz zu zahlen hat. An eine Abführung von Gewinnen an die DB AG ist nicht mehr zu denken. Die desaströsen Folgen der geplanten Privatisierung führen in den Jahren 2009 bis 2012
zu hohen Verlusten der S-Bahn Berlin GmbH: 93 Millionen Euro Verlust im Jahr 2009, 222 Millionen Euro im Jahr 2010.

Seit 2013 führt die S-Bahn wieder Gewinne ab: 2013 einen Ge­winn von 43 Millionen Euro und zwischen 2015 und 2017 sogar jährlich rund 70 Millionen Euro. Heißt das, dass uns wieder ein Absturz im nächsten kalten Winter bevorsteht? Nein, die S-Bahn hat aus dem Desaster gelernt. Sie ist gut ausgelastet, hat wieder Personal eingestellt und die Werk­statt Friedrichsfelde reaktiviert. Es ist also das Gegenteil von dem richtig, was die Privatisierungsverfechter verbreiten. Schon die bisher vollzogenen beziehungsweise geplanten Privatisierungsschritte waren folgenschwer. Die öffentliche Hand kann es besser. Alle haben im Jahr 2009 zu spüren bekommen, was droht, wenn der öffentliche Nahverkehr privatisiert wird.
Wer beklagt, dass das Land Berlin jährlich viele Millionen Euro verliert, weil die S-Bahn Berlin GmbH sie an die DB AG abführen muss, und dass die S-Bahn die Preise diktiert, sollte nicht dem Kapital weiter die Türen öffnen. Schon die Rechtsformprivatisierung hat die Betriebskultur negativ verändert. Jeder weitere Privati­sierungsschritt verschlechtert die Lage, wie der geplante Börsengang in den 2000er Jahren belegt. Dem Land Berlin ist nicht damit gedient, dass Millionen Euro Gewinn nicht mehr an die DB AG, sondern an die privaten Mitbewerber abgeführt werden. Besser ist es, wenn Berlin das Betreiben der S‐Bahn in die eigene Hand nimmt und zügig mit den Vorbereitungen für eine kommunale S‐Bahn beginnt. Was jetzt als Gewinn abgeführt wird, bleibt dann im Land und kann dem Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs dienen.