1. Februar 2021 von benhop
Eine Altenpflegerin gewinnt vor dem EGMR gegen Deutschland
Benedikt Hopmann 1. Februar 2021 Brigitte Heinsch konnte die Missstände in dem Pflegeheim, in dem sie arbeitete nicht mehr ertragen. Es ging um schwere Pflegemängel wegen Personalmangel. Sie zeigte ihren Arbeitgeber deswegen bei der Staatsanwaltschaft an. Ihr wurde gekündigt. Sie klagte dagegen und gewann erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg1.
Ich habe damals Brigitte Heinisch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Anwalt vertreten und will den gesamten Rechtsstreit hier kurz schildern.
I. Sachverhalt:
1. Überlastungsanzeigen
Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch arbeitete in einem Altenpflegeheim der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH. Sie erlebte immer wieder die Überlastung der Pflegekräfte. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen beschwerten sich immer wieder, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. In einer Überlastungsanzeige vom 24. Januar 2003 teilten Brigitte Heinisch und sieben weitere Kolleginnen und Kollegen eines Wohnbereichs des Altenpflegeheims der Pflegedienstleitung Personalmangel und schwere Pflegemängel schriftlich mit2. Diese Überlastungsanzeige war whistleblowing.
Brigitte Heinisch beschreibt sehr anschaulich, welche Wirkung die gemeinsame Überlastungsanzeige auf sie hatte:
„Alle Kollegen hofften, endlich Gehör zu finden, damit sich die Arbeits- und Pflegebedingungen grundlegend verbessern würden“3.
Tatsächlich erfüllte sich diese Hoffnung nicht4. Der Personalmangel blieb und damit blieben auch die Pflegemängel.
Brigitte Heinisch und ihre Kolleginnen und Kollegen ließen weiter Überlastungsanzeigen folgen. Alle mit nur geringem oder keinem Erfolg.
2. Der Medizinische Dienst
Schon 2002 hatte der Medizinische Dienst der Krankenkassen in dem Pflegeheim eine gravierende Unterversorgung bei der täglichen Pflege festgestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kontrolliert die Pflegeheime und wird dazu von den Pflegekassen beauftragt wird. Im Juli 2003 untersuchte der Medizinische Dienst der Krankenkassen das Pflegeheim noch einmal. Er legte dazu seinen Bericht im November 2003 vor und fasste darin die festgestellten Pflegemängel zusammen: Unzureichende Personalbesetzung, mangelhafte Grundpflege, unzulängliche Versorgung. Der medizinische Dienst bemängelte auch die Dokumentation der Pflege. Der Medizinische Dienst drohte wegen der Mängel, den Versorgungsvertrag5 mit Vivantes zu beenden.
Es blieb bei der Drohung.
3. Die Strafanzeige
Im Mai 2003 erklärte Brigitte Heinisch gegenüber Vivantes, wegen der Unterbesetzung nicht mehr die Verantwortung für die Versorgungsmängel übernehmen zu können. Danach erkrankte Brigitte Heinisch wiederholt. Laut ärztlicher Bescheinigung war dies Folge der Arbeitsüberlastung6.
Im November 2004 wies der Anwalt von Brigitte Heinisch Vivantes schriftlich darauf hin7, dass wegen des Personalmangels eine ausreichende hygienische Grundversorgung nicht mehr garantiert werden könne. Er forderte die Geschäftsleitung auf, schriftlich zu erklären, wie sie vermeiden wolle, dass sich das Personal strafbar macht, und wie sie eine ausreichende Versorgung der Heimbewohner sicherstellen wolle. Er unterstrich gegenüber der Geschäftsleitung, dass sie nur dann, wenn dies gelänge, eine Strafanzeige oder eine öffentliche Debatte mit allen ihren negativen Implikationen vermeiden könne.
Die Geschäftsleitung wies diese Vorwürfe zurück8.
Anfang Dezember 20049 beauftragte Brigitte Heinisch ihren Rechtsanwalt Strafanzeige gegen Vivantes zu erstatten und bat die Staatsanwaltschaft, die Umstände des Falles unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu überprüfen10.
Im Mai11 wurde Brigitte Heinisch als Zeugin durch die Staatsanwaltschaft in dem Ermittlungsverfahren gegen Vivantes angehört. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt12.
4. Kündigungen u. Veröffentlichungen
Gut einen Monat nach dieser Strafanzeige13 kündigte Vivantes am 19. Januar 2005 Brigitte Heinisch wegen zu hoher krankheitsbedingter Fehlzeiten.
Brigitte Heinisch nahm gleich nach ihrer Kündigung Kontakt mit Freunden und der Gewerkschaft ver.di auf. Wenige Tage später veröffentlichten diese ein Flugblatt, in dem die Kündigung als Einschüchterungsversuch beschrieben, zur Gründung eines Solidaritätskreises aufgerufen und auf die Überlastungsanzeigen hingewiesen wurde14.
Brigitte Heinisch faxte dieses Flugblatt an das Pflegeheim, wo es verteilt wurde. Über dieses Flugblatt erfuhr Vivantes auch von der Strafanzeige von Brigitte Heinisch. Wegen „des dringenden Verdachts der Initiierung eines Flugblattes“ kündigte Vivantes Brigitte Heinisch am 9. Februar 2009 ein zweites Mal, dieses Mal fristlos15.
Über diese Kündigung wurde in einem Fernsehbericht16 und zwei Zeitungen berichtet17. Am 25. April 2005 kündigt Vivantes Brigitte Heinisch ein drittes Mal – wieder fristlos18. In dieser dritten Kündigung warf Vivantes Brigitte Heinisch vor, der Zeitung „Neues Deutschland“ Informationen für einen Artikel über Pflegemängel geliefert zu haben – Pflegemängel aus dem Heim, in dem sie arbeitete.
5. Vivantes bringt Kolleginnen gegen Brigitte Heinisch in Stellung
Die Pflegedienstleitung verlangte von den Kolleginnen und Kollegen, die folgende Erklärung zu unterschreiben:
„Wir die Kollegen der ehemaligen Mitarbeiterin Brigitte, möchten uns von den Vorwürfen der schlechten und unterlassenen Pflege in unserem Haus distanzieren. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, dass wir seit dem Ausscheiden der Kollegin Brigitte eine ausgeglichene und gute Arbeitsatmosphäre in unserem Team haben. Jeder Kollege unseres Teams ist bereit, den Versorgungsauftrag sicherzustellen, wie unsere Bewohner es benötigen und wünschen.“
Fast alle Kollegen und Kolleginnen unterschrieben die von der Pflegedienstleitung initiierte Erklärung. Aber Brigitte Heinisch hatte nie die Bereitschaft ihrer Kolleginnen bezweifelt, den Versorgungsauftrag sicherzustellen. Es ging ihr immer nur um den Personalmangel, der auch bei bestem Willen nicht zuließ, den Versorgungsauftrag zu erfüllen. Kolleginnen, die sich jetzt von Brigitte Heinisch distanzierten, hatten vorher mit ihr Überlastungsanzeigen verfasst.
Personalmangel führt zu Pflegemängeln. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen überprüfte nach der Kündigung im Jahre 2006 noch einmal das Pflegeheim. Er begutachtete bei acht Bewohnern deren Pflegezustand. Allein für fünf dieser acht Bewohner wurde wegen der Unterversorgung eine Beratung „über die Möglichkeit der Vermittlung in ein anderes Pflegeheim zur nahtlosen Übernahme der pflegerischen Verantwortung“ empfohlen19.
II. Der innerstaatliche Rechtstreit
In der ersten Instanz begründete die Arbeitgeberin die Kündigung nur mit dem Flugblatt, das in der Öffentlichkeit verteilt worden war. Es ging ausschließlich darum, ob der Text auf diesem Flugblatt vom Recht auf freie Meinungsäußerung nicht geschützt war und deswegen die Arbeitgeberin der Brigitte Heinisch kündigen durfte. Brigitte Heinisch gewann in erster Instanz20. Der Inhalt des Flugblattes sei Brigitte Heinisch zwar zuzurechnen. Aber Brigitte Heinisch habe damit nicht ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Die Äußerungen dieses Flugblattes seien vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Der Wortlaut des Flugblattes sei zwar polemisch, beruhe aber auf objektiven Gründen und beeinträchtige das Arbeitsklima21 nicht. Das Arbeitsgericht entschied: Die Arbeitgeberin durfte Brigitte Heinisch nicht kündigen.
Die Arbeitgeberin musste einsehen, dass sie auf diesem Wege den Prozess nicht gewinnen konnte. Deshalb berief sie sich in der zweiten Instanz auf einen anderen Grund für ihre fristlose Kündigung: Die Strafanzeige der Brigitte Heinisch. Damit ging es allerdings wieder um das Recht auf freie Meinungsäußerung, jetzt jedoch nicht mehr als Text auf einem Flyer, das heißt in der Öffentlichkeit, sondern in Form einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.
Brigitte Heinisch verlor in dieser Instanz22. Das Landesarbeitsgericht rechtfertigte die Kündigung mit der Strafanzeige23. Brigitte Heinisch habe diese Strafanzeige auf Tatsachen gestützt, die sie im Laufe des Prozesses nicht habe beweisen können. Deswegen sei die Strafanzeige der Brigitte Heinisch ein „grober Verstoß gegen ihre arbeitsvertraglichen Rücksichtnahme-pflichten“24. Insbesondere reiche der behauptete Personalmangel nicht aus, um einen Abrechnungsbetrug anzuzeigen25. Das Landesarbeitsgericht hielt Brigitte Heinisch vor, sie habe ihre Behauptung, Mitarbeiter seien zur Fälschung von Berichten angewiesen worden, nicht konkretisiert. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Staatsanwaltschaft keinerlei Ermittlungen eingeleitet habe26.
Brigitte Heinisch reichte Beschwerde beim Bundesarbeitsgericht ein27. Das Bundesarbeitsgericht wies diese Beschwerde zurück28.
Brigitte Heinisch reichte beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Annahme der Beschwerde ohne Begründung ab29.
Dann reichte Brigitte Heinisch Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein.
III. EGfMR: Heinisch ./. Deutschland
Der gesamte Kampf von der Kündigung im Jahr 2005 bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2011 drehte sich allein um die Begründung des Landesarbeitsgerichts. Es ging allein darum, ob die Strafanzeige der Brigitte Heinisch vom Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geschützt war oder nicht.
2. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)
Nicht nur ein Flugblatt über Missstände im Betrieb, sondern auch eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber ist eine Meinungsäußerung, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt wird30.
Das entscheidet der Gerichtshof über eine Interessenabwägung31.
3. Die Interessenabwägung
Diese Interessenabwägung kann man sich an einer Waage mit zwei Waagschalen veranschaulichen. Der Gerichtshof stellt die widerstreitenden Interessen von Beschäftigtem und Unternehmen gegenüber, wirft in die eine Waagschale die Interessen des Beschäftigten und in die andere Waagschale die Interessen des Unternehmens. Dann gewichtet er diese Interessen. Die Partei hat gewonnen, deren Waagschale sich am Ende herabsenkt, weil in ihrer Waagschale die Interessen mit dem größeren Gewicht versammelt sind.
Besonderes Gewicht bekommt das Interesse des Beschäftigten, seine Meinung frei zu äußern, wenn ein öffentliches Interesse an den aufgedeckten Informationen besteht32. Der Gerichtshof stellte im vorliegenden Fall fest: Die von Brigitte Heinisch aufgedeckten Informationen waren unbestreitbar von öffentlichem Interesse. In Gesellschaften, in denen ein ständig wachsender Teil ihrer älteren Bevölkerung auf Pflegeeinrichtungen angewiesen ist, und unter Berücksichtigung der besonderen Verwundbarkeit der Heimbewohner, die oft nicht in der Lage sein dürften, aus eigener Initiative die Aufmerksamkeit auf Pflegemängel zu lenken, ist die Verbreitung der Informationen über Qualität oder Mängel solcher Pflege zur Missbrauchsverhinderung von grundlegender Bedeutung.33.
Der Gerichtshof berücksichtigte in seiner Interessenabwägung zusätzliche Gesichtspunkte34, anhand derer er die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägt
Der Gerichtshof fasste das Ergebnis seiner Interessenabwägung so zusammen: „Angesichts dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Interesse der Allgemeinheit, über Defizite bei der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen informiert zu werden, in einer demokratischen Gesellschaft so wichtig ist, dass es das Interesse am Schutz des geschäftlichen Rufs und der Interessen dieses Unternehmens überwiegt“35. Die Waage der Justiz hatte sich zugunsten von Brigitte Heinisch geneigt.
1 Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg in diesem Rechtsstreit (Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland) können Sie im Internet nachlesen unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-108773
2 Aus der Überlastungsanzeige: „Durch extrem hohen Krankenstand, Resturlaube aus dem Jahre 2002 und Streichung bzw. extremes Einschränken der Fremdkräfte (Leasing) in unserer Einrichtung …:
– Eingeschränkte Grundpflege, teilweise nur Teilwaschungen möglich, Nagelpflege und Rasieren kaum möglich.
– Kein Baden und regelmäßiges Duschen der Bewohner.
– Keine psychosoziale Betreuung.
– Keine aktivierende Pflege und Mobilisation.
– Keine ausreichende Zeit für die Bewohner, eine für sie angepasste Flüssigkeit und Nahrungsaufnahme zu gewähren; …“
3 „Diese Überlastungsanzeige beschlossen wir nach tagelanger Diskussion. Nachdem ich unterschrieben hatte, fühlte ich mich richtig frei! In den Monaten davor war ich mit meinen Zweifeln und Gewissenskonflikten allein gewesen, doch jetzt hielt das Team zusammen und setzte sich gemeinsam zur Wehr. Die Tatsache, dass ich dem hohen Verantwortungsdruck nicht mehr alleine ausgesetzt war, erleichterte mich sehr – zuvor hatte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich alle im Wohnbereich mit ihrer Kritik so weit nach vorne wagen würden. Jetzt lag es für mich einmal mehr auf der Hand: Nicht das Personal trug die Verantwortung für die Zustände im Heim, sondern diejenigen, die zu wenig Kräfte einplanten. Alle Kollegen hofften, endlich Gehör zu finden, damit sich die Arbeits- und Pflegebedingungen grundlegend verbessern würden“ (Brigitte Heinisch „Satt und sauber?“, 2008 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Seite 107 ff)
4 „Für die Leitung hätte diese Überlastungsanzeige ein Grund sein können, die Bedenken des Personals ernst zu nehmen und uns entgegenzukommen. Die Strategie von Vivantes war jedoch eine ganz andere. … Unser Arbeitsbereich wurde vergrößert und unser Team durchmischt, die Wohnbereiche im Haus wurden von vier auf drei zusammengelegt. Jetzt mussten die Pflegekräfte zum Teil über drei Etagen hetzen“ (Brigitte Heinisch „Satt und sauber?“, 2008 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Seite 107 ff). Im Urteil des Arbeitsgerichts Berlin 39 Ca 4775/05 heißt es: „Ab dem 24. April 2003 kam es zu dauerhaften Umstrukturierungen wegen Personalmangels. Die Pflegedienstleitung teilte mit Schreiben vom selben Tage … mit, dass der Nachtdienst im Wohnbereich 1 zur Zeit nicht durch das Stammpersonal besetzt werden könne und mithin durch die anderen Mitarbeiter der anderen Wohnbereiche mitversorgt werden müsse“.
5 Dienstleistungsvertrag zwischen den Kassen und Vivantes über die Versorgung der Heimbewohner
6 EGMR a.a.O. Rn. 8; Arbeitsunfähigkeit ab 19.5.2003
7 am 9. November 2004, EGMR a.a.O.Rn.11
8 am 22. November 2004, EGMR a.a.O. Rn. 13
9 am 7. Dezember 2004, EGMR a.a.O. Rn.14
10 Aus der Strafanzeige: „Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet … die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind … Gleichzeitig dient die Strafanzeige der Entlastung meiner Mandantin, da sie die Vivantes GmbH vielfach auf die bestehenden Missstände aufmerksam gemacht hat, indes keine Änderung herbeigeführt wurde und schlimmstenfalls auch meine Mandantin ein aufgrund der Missstände potentiell gegen sie einzuleitendes Ermittlungsverfahren zu gewärtigen hätte. … Den für die Unterbringung in der genannten Einrichtung aufgebrachten Kosten steht keine auch nur annähernd adäquate Gegenleistung gegenüber. … Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet. … die Pflegekräfte (wurden) durch die Heimleitung angehalten, den bestehenden Mangel gegenüber den Bewohnern und ihren Angehörigen zu verschweigen. … (Es) liegt nicht nur, wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen festgestellt hat, eine mangelhafte Dokumentation des Pflegeprozesses vor, sondern die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind …“.
11 am 26.5.2005, EGMR a.a.O. Rn. 26
12 gem. § 170 Abs.2 StPO; EGMR a.a.O. Rn. 26
13 Kündigungsschreiben vom 19.01.2005
14 Aus diesem Flugblatt vom 27.01.2005 (EGMR a.a.O. Rn. 18):
„Vivantes will Kolleginnen einschüchtern!!
Nicht mit uns!
Sofortige Rücknahme der politisch motivierten Kündigung unserer Kollegin Brigitte bei Vivantes Forum für Senioren.
Einladung zur Gründung eines überparteilichen Solidaritätskreises.“
Und weiter:
„Brigitte … schrieb regelmäßig Überlastungsanzeigen, um auf die unhaltbaren Zustände im Pflegebereich hinzuweisen. Da dies nicht zu einer Veränderung im Pflegebereich führte, stellte Brigitte im Dezember 2004 Strafanzeige gegen die Vivantes Geschäftsführung. Die Berliner Staatsanwaltschaft verweigerte die Aufnahme der Ermittlungen. Zeitgleich bekam sie die krankheitsbedingte Kündigung. … Wir lassen uns nicht einschüchtern und gehen weiter an die Öffentlichkeit. Wer einen von uns angreift, greift uns alle an! … Vivantes nutzt das soziale Engagement seines Personals schamlos aus. … hier geht es um weit mehr als um eine Kündigung! Dies ist eine politische Disziplinierung, um den berechtigten Widerstand vieler Beschäftigten im Gesundheitswesen für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung mundtot zu machen“.
Brigitte Heinisch wird in dem Flugblatt mit folgenden Worten zitiert:
„Ich wünsche mir, jeden pflegebedürftigen Menschen ohne Hast und Eile bei der Ernährung zu unterstützen, bei der Körperpflege zu unterstützen, wie er es benötigt, die Möglichkeit eines Gesprächs zu bieten, die Möglichkeit einer optimales Begleitung in seiner letzten Lebensphase zu bieten.“
15 allerdings hilfsweise auch fristgemäß; hilfsweise heißt: Für den Fall, dass das Gericht die fristlose Kündigung für ungerechtfertigt hält, wird vorsorglich eine fristgerecht Kündigung ausgesprochen, so dass anschließend das Gericht über fristgerechte Kündigung entscheiden muss
16 Abendschau des Fernsehsenders RBB vom 7. März 2005
17 EGMR a.a.O.Rn. 22
18 allerdings auch hier wieder hilfsweise fristgemäß
19 Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 10.05.2006
20 Arbeitsgericht Berlin 39 Ca 4775/05; es stellte auch die Unwirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen fristgerechten Kündigung fest
21 Aufschlussreich ist, dass der EGMR den Begriff „Betriebsfrieden“ (so in der Begründung des Urteils des Arbeitsgerichts) mit „working climate“ übersetzt, EGMR a.a.O. Rn. 27. Anders als die Übersetzung in AuR, die „working climate“ mit ‚Arbeitsklima’ zurückübersetzt, lautet die Rückübersetzung der Bundesregierung für „working climate“ dann auch wieder ‚Betriebsfrieden’
22 LAG Berlin 28.03.2006 7 Sa 1884/05, AuR 2006, 51; dazu kontrovers Deiseroth, AuR 2007, 34; Binkert, AuR 2007, 195; Duplik von Deiseroth, AuR 2007, 198
23 Strafanzeige der Brigitte Heinisch vom 7.12.2004 S.2
24 LAG Berlin 7 Sa 1884/05 unter 2.1.2
25 Zusammenfassung d. Begründung d. Urteils des LAG Berlin siehe EGMR a.a.O. Rn. 28
26 EGMR a.a.O. Rn. 28
27 Das Landesarbeitsgericht Berlin ließ keine Revision beim Bundesarbeitsgericht zu. Dagegen richtete sich die Beschwerde von Brigitte Heinisch, eine so genannte Nichtzulassungsbeschwerde.
28 BAG v. 6. 06.2007 4 AZN 48706
29 Die Verfassungsbeschwerde wurde mit folgendem Wortlaut ohne Begründung abgelehnt: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen“ BVerfG v. 06.12.2007 Az.: 1 BvR 1905/07. Der Grund dafür kann sein, dass es Meinungsverschiedenheiten unter den Richtern gab; in solchen Fällen wird manchmal ohne Begründung entschieden.
30 EGMR a.a.O. Rn. 43; dies war zwischen allen Beteiligten unumstritten
31 EGMR a.a.O. Rn. 51-94
32 EGMR a.a.O. Rn. 66; der EGMR fügt hinzu: „Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach Art. 10 Abs.2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der öffentlichen Meinungsbildung gibt“.
33 EGMR a.a.O. Rn. 71
34 Der Gerichtshof stellt fest (EGMR a.a.O. dazu im vorliegenden Fall unter den Rn. 72 ff), dass Brigitte Heinisch nicht nur mehrmals zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 ihren Vorgesetzten gegenüber äußerte, dass sie überlastet sei, sondern mit dem Schreiben ihres Rechtsanwalts vom 9.11.2004 an die Geschäftsführung der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbHauch die Geschäftsleitung vor einer möglichen Strafanzeige warnte. Der Gerichtshof verweist überdies in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 3. Juli 2003 2 AZR 235/02; der EGMR verweist in Rn. 35 und Rn. 73 auf diese Entscheidung). Danach ist es einem Arbeitnehmer nicht zumutbar, zunächst eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anzustreben, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Eine vorherige innerbetriebliche Klärung ist auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist.
Entgegen der Meinung des Landesarbeitsgerichts Berlin, Brigitte Heinisch habe beabsichtigt, durch Provokation einer öffentlichen Debatte unangemessenen Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben, steht für den Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch in gutem Glauben und in der Überzeugung handelte, dass es im Interesse der Allgemeinheit ist, die mutmaßlichen Rechtsverletzungen ihrer Arbeitgeberin bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen (dazu der EGMR allgemein unter Rn. 69 und bezogen auf den vorliegenden Fall unter den Rn. 82 ff). In der Erfahrung der Brigitte Heinisch hatten die früheren Bemängelungen von Missständen im Pflegeheim durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu keinerlei Veränderungen geführt. Nach ihren zahlreichen innerbetrieblichen Beschwerden gegenüber Vivantes, die alle erfolglos waren, war sie der Ansicht, dass eine Strafanzeige das letzte Mittel zur Behebung der Pflegmängel sei (EGMR a.a.O. Rn. 84).
35 EGMR a.a.O Rn. 90.