Wie binden Urteile des EGMR deutsche Gerichte?

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8. Februar 2021 von benhop

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und die Europäische Menschenrechtskonvention

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) – nicht zu verwechseln mit dem Gerichtshof der Europäischen Union in Brüssel (EuGH) – überwacht die Einhaltung der Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegt sind, und ist die ‚allerletzte Instanz’ für 800 Millionen Menschen. Dazu gehören alle Länder, die sich durch Vertrag an die EMRK gebunden haben. Das sind nicht nur alle Länder der EU, sondern auch Länder wie die Türkei und Russland und eben auch das Fürstentum Liechtenstein. Die EMRK wurde 1950 beschlossen und ist stark der Allgemeinen Erklärung der nachgebildet, die von der UNO beschlossen wurde. Die UNO, das sei hier auch erwähnt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Konsequenz aus den Verheerungen des Faschismus gegründet. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO und auch die EMRK stehen in dieser Tradition.

Nach Erfolg in Straßburg Wiederaufnahme in Deutschland möglich

Anders als die Menschenrechte der UNO haben die Menschenrechte der EMRK allerdings eine viel stärkere Bindungswirkung: Sie können individuell gerichtlich geltend gemacht werden, eben beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Wird dort eine Beschwerde gewonnen, so erlaubt sowohl die Strafprozessordnung (StPO) als auch die deutsche Zivilprozessordnung (ZPO), das ganze Verfahren in Deutschland wieder aufzurollen.

Dazu grundlegend dazu BVerfG v. 14.10.2004 2 BvR 1481/04:

„Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit ist festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber im Jahr 1998 mit § 359 Nr. 6 StPO einen neuen Wiederaufnahmegrund für strafrechtliche Verfahren in das Strafprozessrecht eingefügt hat … Danach ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht. Die Gesetzesänderung beruht auf dem Gedanken, dass eine im konkreten Einzelfall in ihrer Wirkung andauernden Konventionsverletzung jedenfalls in dem besonders grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts ungeachtet bereits eingetretener Rechtskraft beendet werden soll, wenn das Urteil des Gerichtshofs für das nationale Verfahren entscheidungserheblich ist …“

Diese Ausführungen des BVerfG stammen aus dem Jahr 2004. Inzwischen ist auch in der Zivilprozessordnung eine entsprechende Regelung aufgenommen worden. Eine so genannte Restitutionsklage (§ 580 Nr. 8 ZPO) ist möglich, „wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention für Menschenrechte zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 

Der Fall Heinisch ./. Vivantes

Auf dieser rechtlichen Grundlage hatte schon die Altenpflegerin Brigitte Heinisch nach erfolgreicher Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR vom 21.07.2011 Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland) ihren Rechtstreit um ihre Kündigung durch das Krankenhaus-Unternehmen Vivantes erfolgreich vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wieder aufrollen können.

„Eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als Völkervertragsrecht haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. … Die Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren Beteiligten Parteien verbindlich sind …“ (BVerfG v. 14.10.2004 2 BvR 1481/04 Rn. 38).

Der Fall Gawlik ./. Liechtenstein

Nun könnte man einwenden, dass Deutschland an dem Verfahren Gawlik ./. Liechtenstein (EGMR v. 16.02.2021 Nr. 23922/19) nicht als Partei beteiligt war und deshalb das Urteil für Deutschland nicht verbindlich ist. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Wenn sich ein solcher Fall in Deutschland ereignen würde und wenn dann in Deutschland so entschieden würde wie dieser Fall in Liechtenstein entschieden wurde, dann könnte die unterlegene Partei unter Berufung auf das Urteil Gawlik ./. Liechtenstein (EGMR v. 16.02.2021 Nr. 23922/19) zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen und wird Recht bekommen. Der EGMR wird gegenüber Deutschland nicht anders entscheiden wie gegenüber Liechtenstein. Genauso haben wir es im vorliegenden Fall gemacht, nur mit umgekehrten Rollen. Wir haben uns auf die Entscheidung der Altenpflegerin Heinisch ./. Deutschland (EGMR vom 21.07.2011 Nr. 28274/08) berufen, obwohl der vorliegende Whistleblower-Fall sich gegen Liechtenstein richtete. Liechtenstein hat verloren, weil der Fall Heinisch ./. Deutschland einen Rechtssatz, das heißt eine allgemeine Rechtsaussage, enthielt, die zu dem vorliegenden Fall passte und nach unserer Auffassung in der Entscheidung in Lichtenstein nicht beachtet wurde.