„Zur bis zu dieser Stunde nach wie vor unvollendeten Revolution von 1918“

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Mit diesen Worten leitete Rolf Becker sein Referat an diesem Abend ein. Seit 2018 erinnert die Initiative „1918 unvollendet“ jährlich an den letztendlich gescheiterten Aufstand. Dabei versucht die Initiative die Folgen für die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und die noch vor uns liegenden Aufgaben herauszuarbeiten. In diesem Jahr stand die Veranstaltung naturgemäß ganz unter dem Eindruck der erneut vom Imperialismus angezettelten Kriege um die Ukraine und um die Vorherrschaft in Nahost. Zu den Mitorganisatoren gehörten deshalb auch verschiedene friedenspolitische Initiativen, die sich anlässlich des Krieges um die Ukraine zusammengeschlossen haben und seither regelmäßig die Berliner Veranstaltungsreihe „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg“ in Berlin durchführen.

Wir geben im Folgenden das Referat von Rolf Becker wieder:

Zunächst, was Carl von Ossietzky als Zeitzeuge dazu schrieb – bereits am 31. Mai 1913, ahnend, was drohte:

„Unsere Regierung ist nicht verpflichtet, aus Katastrophen zu lernen. Wenn es nur das Volk täte.“

1. Februar 1919:

Deutschland hat bis zum Jahre 1848 nur eine einzige, alle Volksschichten erfassende Revolution gehabt: den Großen Bauernkrieg. Keinen Bastillen-Sturm kennt die deutsche Geschichte – nur so ist es denkbar, dass man in ratloser Verblüffung die neuen Typen (der Spartakus-Bewegung) bestaunt, die in den letzten Monaten zur Erscheinung gekommen sind. 

Wir erleben eine weltgeschichtliche Wende – matte Hirne, schwache Herzen mögen es verwünschen, Angehörige dieser Epoche sein zu müssen –, aber wer nur ein wenig Gefühl und Augenmaß hat, der wird sich auf den Boden des Tatsächlichen stellen, und das ist, dass eine Welt zusammengebrochen ist und neu errichtet werden muss.

Zusammengebrochen ist nicht nur ein Staat, der sich unbesiegbar wähnt  – zusammengebrochen ist nicht nur eine Wirtschaftsordnung, die von ihnen Nutznießern für bombensicher gehalten wurde, zusammengebrochen ist vor allem der bürgerlich-kapitalistische Geist, der seit hundert Jahren die Köpfe beherrschte und auch große Teile der sozialistischen Arbeiterschaft weit mehr im Banne hatte, als sie es gern wahrhaben möchte.

Was zusammengebrochen ist, war schlecht fundiert, war nicht Wahrheit, sondern Kulisse. Wir hatten eine wunderbar entwickelte Technik, eine aller

irdischen Gebundenheit spottende Wissenschaft. Wissenschaft und Technik aber waren nicht in erster Linie da, zu helfen: sie schufen Werkzeuge der Vernichtung, Werkzeuge grässlichsten Mordes.

Wir haben das kalte Fachwissen verwechselt mit dem großen Wissen vom Leben. –

Juni 1919 – Ossietzky ahnt, was der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und der damit verbundenen Niederschlagung der Revolution folgt:

„Revolution hat bisher Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. Die deutsche hat den bedenklichen Vorzug, diese Vorstellung gründlich revidiert zu haben: unsere Revolution ist keine Kopie der französischen. Sie ist deutsch bis auf die schwachen Knochen. Wir haben zwar gleichfalls Berg und Ebene. Aber sie sind bei uns gleich flach.“ –

4. Januar 1927 – Ossietzky bedauert, dass ihn die geschichtlichen Ereignisse bestätigen: 

„Der liberale Demokratismus erschöpft sich in der breiten Lobpreisung des Parlamentsstaates. Er sieht nichts Werdendes, ahnt nichts von einem Problem der Köpfe, geschweige denn von denen des Magens.

Der böse Satz von Anatole France „Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“, kennzeichnet eine Demokratie, die nur in ihren Institutionen und für ihre Institutionen lebt – in der unbedingten Ablehnung der Tatsache, dass selbst diese Republik revolutionären Ursprungs ist, dass es sie ohne den 9. November 1918 niemals gegeben hätte.

Wir fragen: Was haben die großen Parlamentspolitiker, diese Strategen der Opportunität, eigentlich erreicht? Die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sind schärfer als jemals. Die Hohenzollern haben ihre Millionen. Die Zensur ist wieder da. Das sind die Resultate. Und wenn auch sonst weiter nichts stabilisiert ist, so doch der Kapitalismus. Auf Klagen von Unten: dafür ist kein Geld da. Kein Geld für die Arbeitslosen, kein Geld für ein großes Wohnbau- und Siedlungs-Programm.

Die Außenseiter aber fragen: zu diesem Effekt eine welthistorische Umwälzung? Deswegen soll einmal die rote Fahne über Deutschland geweht haben, damit ein paar Oberbürgermeister Minister spielen können, was schließlich auch unter Kaiser Wilhelm sporadisch gestattet war? Enthält nicht der revolutionäre Ursprung der Republik auch eine revolutionäre Verpflichtung?“

Soweit Ossietzky 1927. Und heute, 96 Jahre danach? Die Hohenzollern haben hier in Berlin ihr Schloss wieder, um die Millionen zu ihrer Entschädigung wird noch gefeilscht. Und die Zensur ist in Form von Verboten und als Staatsraison auch wieder da, oder als Propaganda, die unsereins besser nicht verletzt, wenn wir Konsequenzen ausweichen wollen wie kürzlich in Kassel, wo eine Hochschulrektorin vorsorglich eine Veranstaltung abbricht, um den von ihr befürchteten Vorwurf des Antisemitismus zu vermeiden. Oder wie vor einigen Tagen hier in Berlin, wo Jeremy Corbyn, vormals Vorsitzender der Labour-Party in England, von der Volksbühne ausgeladen wird, prophylaktisch, um keinen Ärger mit der Berliner oder mit der Bundesregierung zu bekommen, die sich auf den in England gegen ihn erhobenen Vorwurf des Antisemitismus beziehen könnten.

Ossietzky am 6. November 1928:

„Kein Politiker irgend einer Partei verschmäht, von der Verarmung und Verelendung zu sprechen, und zwar nicht von der durch die eignen Kapitalisten bewirkte, sondern von der Verarmung durch die Reparationszahlungen, und niemand spricht mehr von der Inflation, diesem gigantischen Raubzug durch die Ersparnisse der kleinen Leute.

Es gibt kein Bankett, wo nicht irgendein Schmerbauch feierlich versichert, dass wir nunmehr ein armes Volk sind. Von dieser kümmerlichen Phrase leben alle: ‚Sprengung der Grenzen, die uns einengen. Das deutsche Schicksal ist eine Raumfrage.‘

Das deutsche Schicksal ist keine Raumfrage: es kommt nicht darauf an, wie viel Platz ein Volk unter der Sonne einnimmt, sondern wie die Güter darauf verteilt sind. Wenn die herrschende Klasse über die (Kriegs-)Niederlage lamentiert so muss ihr klar gemacht werden, dass die glanzvollen Fassaden ihrer Industriepaläste die Monumente eines viel beweiskräftigeren Sieges sind: des Sieges über das eigne Volk.

Deutsche Revolution – ein kurzes pathetisches Emporrecken, und dann ein Niedersinken in die Alltäglichkeit. Massengräber in Berlin. Massengräber in München, an der Saale, am Rhein, an der Ruhr. Ein tiefes Vergessen liegt über diesen Gräbern, ein trauriges Umsonst. Ein verlorener Krieg kann schnell verwunden werden. Eine verspielte Revolution, das wissen wir, ist die Niederlage eines Jahrhunderts.“

Wir wissen heute, im bereits zweiten Jahrhundert nach der Revolution vom November 1918, dass die Folgen der Niederlage nach wie vor andauern, und dass sie weiterhin andauern werden solange diese Revolution eine „unvollendete Revolution“ bleibt.

Ossietzky am 29. Januar 1929:

„Es ist sehr merkwürdig, dass die Sozialdemokraten, die doch vom marxistischen Dogmatismus herkommen, heute die einzigen vom Glauben an den Parlamentarismus ganz Durchdrungenen sind. Jeden Demokraten muss eine Gänsehaut überlaufen, wenn er im parteiamtlichen „Sozialdemokratischen Pressedienst“ vom 21. Januar folgendes liest: ‚Die Demokratie innerhalb des Proletariats, echte demokratische Organisationsformen der Arbeiterschaft gibt es eben nur in der sogenannten bürgerlichen Demokratie‘.  

Heiliger Lassalle, bitte für deine Erben – das Endziel ist erreicht, wir haben die freieste Verfassung, die beste aller Republiken. Also Maul halten, denn das ist die letzte sozialistische Verkehrsordnung. Wer weitergeht, wird erschossen!“ –

Und am 24. November 1931:

„Wer gegen wen? Die Notverord­nungen, die Militarisierung des Innenministeriums, alles das sind Maßnahmen, die den Zustand von morgen oder übermorgen vor­wegnehmen. Hitler regiert nicht, aber er herrscht. Das Millionenheer, das sich dem Faschismus in die Arme wirft, fragt nicht, weil nichts schlimmer werden kann als es bereits ist. Darin liegt das Glück des Nationalsozialismus, das Ge­heimnis seiner Siege.

Hat der Faschismus einmal gesiegt, so werden die Sozialdemokraten ebenso wenig zu melden haben wie die Kommunisten. Auch hier lautet die Frage: wer gegen wen? Proletarier gegen Proletarier. Arbeitende ge­gen Arbeitende.

Wie viele Minuten oder Se­kunden vor zwölf es schon ist, lässt sich nicht sagen. Periculum in mora  – Gefahr im Verzuge.“

Ab 3. Mai 1932 wendet sich Ossietzky mehrmals an die Führungen der beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD und fordert sie zum gemeinsamen Widerstand gegen die faschistische Bewegung auf:

„Es geht nicht mehr um Programme und Doktrine, nicht mehr um ‚Endziele‘ und ‚Etappen‘, sondern um den Fundus der Arbeiterschaft, ihre Presse und Gewerkschaftshäuser, und schließlich um ihr lebendes Fleisch und Blut, das hoffen und vertrauen und kämpfen will. In diesen Tagen steht das Schicksal aller deutschen Sozialisten und Kommunisten zur Entscheidung.“  

Am 1. Juli 1932 – Ossietzkys Rede beim Prozess „Soldaten sind Mörder“
(Nach Notizen von Johannes Bückler, erschienen in „Die Weltbühne“, 5. Juli 1932)

Wegen der Veröffentlichung des Tucholsky-Textes „Soldaten sind Mörder“ in der Weltbühne vom 4. August 1931 wurde nicht Tucholsky angeklagt, der sich aus politischen Gründen bereits seit 1929 in Schweden aufhielt, sondern Carl von Ossietzky als verantwortlicher Redakteur. Aus seiner Verteidigungsrede:

„Wir Anhänger des Friedens haben die Pflicht, immer wieder darauf hinzuweisen, dass der Krieg nichts Heroisches bedeutet, sondern nur Schrecken und Verzweiflung über die Mensch­heit bringt.

Wir wissen, dass die machtpolitische Situa­tion für uns nicht günstig ist, grade deshalb müssen wir eine lapidare Sprache führen. Aber diese Sprache geht von Laotse über die Bibel und Kant durch die ganze Literatur. Alle haben den Krieg als Mord und das Soldatenhandwerk als Mörder­handwerk gekennzeichnet.

Seit zweitausend Jahren streitet man sich um diese Dinge herum. Das ist der ewige Zwiespalt zwischen der Staatsmoral und dem Indivi­duum. Man kann das auf die Formel bringen: dem kleinen Mörder schlägt man den Kopf ab, dem großen setzt man einen Lorbeer­kranz auf.

Wir greifen aber hier nicht nur an, sondern wir verteidigen das Recht auf Leben.“

Am 1. Januar 1933 veröffentlicht Ossietzky, der die Machtübernahme der Faschisten in Deutschland inzwischen für unabwendbar hält, in der „Weltbühne“, was sich wie eine an uns gerichtete testamentarische Verfügung liest:

„Neue politische und soziale Systeme werden kommen, aber die Folgen Hitlers werden aufstehen, und spätere Generationen noch werden zu jenem Kampf antreten müssen, zu dem die deutsche Republik zu feige war.“ –

Damit sind wir bei unserer Fragestellung: wie die unvollendete Revolution vollenden? Eine Frage, die angesichts dessen, was weltpolitisch seit der Herrschaft der Faschisten im 3. Reich und im 2. Weltkrieg gelaufen ist und was gegenwärtig mit kaum absehbaren Konsequenzen läuft, viele – auch unter uns – kaum noch zu denken wagen.

Zu den Konsequenzen aus Faschismus und 2. Weltkrieg: Esther Bejarano, aus ihrer Ansprache vom 27. Januar 2020: 

„Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.

Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt, erlebten, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg.

Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sie verantwortlich für Hunger, Not und Tod?

Dann brach die Eiszeit herein, der Kalte Krieg, der Antikommunismus. Es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern hin zur Fernsehserie “Holocaust” ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich die Wahrnehmung des NS-Unrechts.

Aber auch die Rechten, Alt- und Neonazis und Auschwitzleugner formierten sich. Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen da nicht.

Betroffenheit muss zum Handeln führen für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen! Dass Auschwitz nie wieder sei – dass dieses Land sich ändern muss.“

Zum Ukraine-Krieg, zur Unterdrückung der Palästinasolidarität, zur „deutschen Staatsräson“ – Themen, die den Rahmen unserer heutigen Veranstaltung überschreiten, zur Fortführung unserer notwendigen Gespräche aus Pablo Nerudas Gedicht „Ich erkläre einige Dinge“:

„…aus jedem toten Haus wird glühendes Metall,

aus jedem toten Kind wird ein Gewehr mit Augen,

aus jedem Verbrechen werden Kugeln geboren.“