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Oxfam: “Klima der Ungleicheit”

“Trotz des Pariser Klimaabkommens steuert die Welt ungebremst auf eine katastrophale Entwicklung der Klimakrise zu. Regelmäßig lesen wir in den Nachrichten wie die Klimakrise Menschenleben kostet und Lebensgrundlagen, Häuser, Infrastruktur, Kultur und Traditionen zerstört. Diese Nachrichten kommen vor allem aus den Ländern des Globalen Südens. Zunehmend macht sich die Klimakrise aber auch in den wirtschaftlich privilegierten Ländern bemerkbar.

Dennoch verbrennen wir nach wie vor gewaltige Mengen an Erdöl, Erdgas und Kohle, betreiben industrielle Landwirtschaft und holzen oder brennen Wälder ab. Das alles verursacht große Mengen an Treibhausgasen, die die Atmosphäre aufheizen. Schon heute liegt deswegen die globale Durchschnittstemperatur um etwa 1,1°C höher als noch zu Beginn der Industrialisierung. Und das ist nur der Anfang: Obwohl im Pariser Abkommen vereinbart ist, die globale Erwärmung langfristig auf maximal 1,5°C zu begrenzen, bewegen wir uns derzeit auf plus 2,7°C bis Ende des Jahrhunderts zu. Denn fast kein Land ist bereit, fair und angemessen zum globalen Klimaschutz beizutragen – auch Deutschland nicht. Konzerne investieren weiter in die Förderung fossiler Ressourcen, und der Ausbau der erneuerbaren Energien geht viel zu langsam voran. Dabei sind die 1,5°C des Pariser Abkommens nicht zufällig gewählt. Sie stellen die Grenze dar zu einem Szenario, bei dem die klimatischen Veränderungen nach derzeitigem Wissensstand zunehmend außer Kontrolle geraten. Ohne eine rasche Verringerung der Treibhausgasemissionen dürfte diese Grenze schon bald nicht mehr zu halten sein.

Die Klimakrise und extreme soziale Ungleichheit sind keine voneinander getrennten Krisen, sondern eng miteinander verwoben. Extreme Ungleichheit und die Klimakrise verschärfen sich gegenseitig und müssen deswegen auch gemeinsam angegangen werden. Dabei gilt es nicht nur, die Länder und Konzerne für ihre aktuellen und historischen
Emissionen in die Verantwortung zu nehmen, sondern insbesondere auch die Reichen und Superreichen, die durch extremen Konsum, klimaschädliche Investitionsentscheidungen und politische Einflussnahme stark zur Klimakrise beitragen.”

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Mobilitätswende

Herzstück der Industrie im Krisengriff. Zehntausende Jobs in Gefahr. Die Krise ist geprägt von konjunkturellen Einbrüchen und globaler Konkurrenz.

Schwer wiegt vor allem die Debatte um Klimaveränderungen. Die Elektrifizierung des Individualverkehrs verläuft nur langsam. Die Umstellung vom Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr kommt noch weniger voran.

Die Beschäftigten sollen die Zeche zahlen.

Beiträge zur Transformation der Autoindustrie.

Inhaltsverzeichnis:

2021 – 2023: Zum Beispiel Daimler Marienfelde

2020 – 2022: tesla (Grünheide) und die Tarifbindung

2021: “Elektro-SUVs lösen keine Probleme”

28.12.2020: Stephan Krull “Zukunft ohne Auto?”

2018: ELAB 2.0 – Studie: Wirkung der Autoelektrifizierung auf die Arbeitsplätze in der Autoindustrie


Zum Beispiel: Die Daimler AG und das Werk in Berlin-Marienfelde
November 2020. Das Werk in Marienfelde ist das älteste produzierende Werk der Daimler AG. Es ist belegt, dass die Beschäftigten dieses Werkes zu den Metallerinnen und Metaller gehörten, die im Jahr 1918 das Ende des ersten Weltkrieges und der Monarchie und damit die erste deutsche Republik erzwangen. Auch während der Zeit des Faschismus leisteten Beschäftigte des Werkes in Marienfelde Widerstand.

Dieses Werk ist auch das kleinste Werk der Daimler AG. Dort arbeiten rund 2.500 Beschäftigte, davon ca. 50 % Arbeiterinnen und Arbeiter und 50 % Angestellte.

In Berlin-Marienfelde werden Getriebeteile, Kraftstoffsysteme, Nockenwellen, Pumpen und Dieselmotoren gefertigt. Der Betrieb hängt zu 90 % von der Autofertigung mit Verbrennungsmotor ab. Da Daimler bis 2039 diese Fertigung ganz einstellen will, fallen alle diese Arbeitsplätze weg. Weil es bisher keinen Plan gibt, ob und in welchem Umfang in Marienfelde Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden, ist der ganze Betrieb gefährdet. In jedem Fall besteht die akute Gefahr, eines gewaltigen Stellenabbaus. Weiterlesen hier:

30. März 2021. Daimler gab bekannt, dass Werk Berlin-Marienfelde zu einer digitalen Entwicklungsstätte umzubauen. Weitere Angaben der IG Metall hier:

25. Dezember 2023: Im Herbst 2021 gab Daimler bekannt, dass in Marienfelde die Elektromotoren für die Autos AMG, einer Tochter von Daimler, gefertigt werden sollen. Dazu sind allerdings keine aktuellen Angaben im Netz zu finden.


Tesla (Grünheide) und die Tarifbindung

Mitte des Jahres 2020. In Grünheide in Brandenburg hat Tesla mit der Errichtung einer Gigafactory begonnen. Es sollen Anlagen für ein Presswerk, eine Gießerei, Karosseriefertigung, Sitzfertigung, Endmontage und die notwendige Standortlogistik aufgebaut werden. Obwohl Tesla auch Batterien herstellen will, wurde bisher eine Batteriefertigung nicht genehmigt[1]. Es sollen dort 7.000 Menschen arbeiten. Schon 2021 soll begonnen werden.

Doch das Beispiel Tesla in Grünheide zeigt, dass bei solchen Neu-Ansiedlungen Forderungen über die   Bedingungen, unter denen zukünftig gearbeitet werden soll, zurückgestellt werden.

23. März 2022 Die erste Autofabrik mit viel Prominenz aber ohne Tarifbindung wird eröffnet. weiterlesen hier


“Elektro-SUVs lösen keine Probleme”

20. April 2021 Ein bedeutendes Interview in der Zeitung Freitag 12/2021 zum Thema Transformation mit Carsten Bätzold, Vorsitzender des Betriebsrates des zweitgrößten VW-Werks in Deutschland. Hier weiterlesen:


2018: ELAB 2.0 – Studie: Die Wirkung der Auto-Elektrifizierung auf die Arbeitsplätze der Automobilindustrie

Die Studie ELAB 2.0 untersucht die Wirkung der Auto-Elektrifizierung auf die Automobilindustrie

Die Fraunhofer Gesellschaft veröffentlichte am 15. November 2018 eine Studie mit dem Titel ELAB 2.0[1], die auf einer Studie ELAB aus dem Jahr 2012 aufbaut und die Wirkungen der Fahrzeugelektrifizierung auf die Beschäftigten der Automobilindustrie in Deutschland untersucht.

weiterlesen hier:


Zukunft ohne Auto?

28.12.2020: Herzstück der Industrie im Krisengriff. Zehntausende Jobs in Gefahr. Statt Mobilitätswende Prämien für Elektrofahrzeuge. Die Krise ist geprägt von konjunkturellen Einbrüchen, globaler Konkurrenz und neuem Protektionismus. Schwer wiegt vor allem die Debatte um Klimaveränderungen. Den folgenden Beitrag schrieb Stefan Krull für die Junge Welt. Wir danken dem Autor, den Beitrag hier veröffentlichen zu dürfen.

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Corbon majors report

10. Juli 2017: Eine neue historische Studie des CDP, das von institutionellen Anlegern zur Nr. 1 im Bereich Klimawandelforschung gewählt wurde, zeigt heute in Zusammenarbeit mit dem Climate Accountability Institute, dass 71 % aller globalen Treibhausgasemissionen seit 1988 auf nur 100 Produzenten fossiler Brennstoffe zurückzuführen sind. Diese Gruppe ist die Quelle von 635 Milliarden Tonnen Treibhausgasen, die seit 1988, dem Jahr, in dem der vom Menschen verursachte Klimawandel offiziell anerkannt wurde, ausgestoßen wurden. Die Daten zeigen auch, dass 32 % dieser Altlasten von Unternehmen stammen, die sich im Besitz öffentlicher Investoren befinden, was die Macht der Investoren beim Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft unterstreicht. Der Carbon-Majors-Bericht wurde auf der Grundlage des bisher umfassendsten Datensatzes über historische unternehmensbezogene Treibhausgasemissionen erstellt.

Der Bericht zeigt auch, dass sich diese Emissionen im globalen Maßstab auf eine kleine Anzahl von Produzenten konzentrieren. Von 1988 bis 2015 waren nur 25 Hersteller fossiler Brennstoffe für 51 % der weltweiten industriellen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Zu den Unternehmen mit den höchsten Emissionen im Zeitraum seit 1988 gehören:

Unternehmen im Besitz öffentlicher Investoren wie ExxonMobil, Shell, BP, Chevron, Peabody, Total und BHP Billiton;
Staatliche Unternehmen wie Saudi Aramco, Gazprom, National Iranian Oil, Coal India, Pemex, CNPC und chinesische Kohleunternehmen, von denen die Shenhua Group und die China National Coal Group wichtige Akteure sind.

Blickt man weiter zurück, so zeigt der Bericht, dass sich der Beitrag fossiler Brennstoffe zum Klimawandel seit 1988 verdoppelt hat. Alle Unternehmen, die fossile Brennstoffe einsetzen und herstellen, haben in den letzten 28 Jahren weltweit mehr Emissionen freigesetzt als in den 237 Jahren davor: 833 GtCO2e in den 28 Jahren von 1988 bis 2015, verglichen mit 820 GtCO2e in den 237 Jahren zwischen 1988 und dem Beginn der industriellen Revolution, gemessen ab 1751. Unter Einbeziehung aller historischen Datenjahre2 erfasst die Datenbank fast eine Billion Tonnen (923 Milliarden) Treibhausgase von den 1003 Produzenten, was 52 % aller jemals von der Industrie emittierten Treibhausgase entspricht.
Wenn sich der Trend bei der Förderung fossiler Brennstoffe in den nächsten 28 Jahren so fortsetzt wie in den letzten 28 Jahren, würden die globalen Durchschnittstemperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts um 4ºC ansteigen4 – was wahrscheinlich ein erhebliches Artensterben und ein großes Risiko der Nahrungsmittelknappheit weltweit mit sich bringen würde5.

Pedro Faria, Technischer Direktor beim CDP, sagt:

“Dieser bahnbrechende Bericht zeigt auf, wie eine relativ kleine Gruppe von nur 100 Herstellern fossiler Brennstoffe den Schlüssel zu einem systemischen Wandel bei den Kohlenstoffemissionen darstellen kann. Wir sehen kritische Veränderungen in der Politik, bei Innovationen und beim Finanzkapital, die den Wendepunkt für einen kohlenstoffarmen Übergang in greifbare Nähe rücken lassen, und diese historischen Daten zeigen, wie wichtig die Rolle der Carbon Majors und der Investoren, die sie besitzen, sein wird.”

“Der Bericht zeigt insbesondere, dass Investoren in Unternehmen, die fossile Brennstoffe herstellen, ein großes Erbe von fast einem Drittel aller industriellen THG-Emissionen besitzen und Einfluss auf ein Fünftel der heutigen industriellen THG-Emissionen der Welt haben. Daraus ergibt sich eine große Verantwortung für diese Investoren, sich mit den großen Kohlenstoffunternehmen auseinanderzusetzen und sie zu drängen, Klimarisiken im Einklang mit den Empfehlungen der FSB Task Force for Climate-related Financial Disclosure (TCFD) offenzulegen und ehrgeizige Emissionsreduktionsziele im Rahmen der Science Based Targets-Initiative festzulegen, um sicherzustellen, dass sie mit den Zielen des Pariser Abkommens in Einklang stehen.

Die neue CDP-Datenbank enthält auch Prognosen bis zum Jahr 2100, um die Rolle der Unternehmen bei der Bewältigung des Klimawandels zu veranschaulichen. Dies folgt auf einen kürzlich erschienenen CDP-Bericht6 über den Öl- und Gassektor, aus dem hervorgeht, dass die Branche beginnt, auf erneuerbare Energien umzustellen. Darin wird festgestellt, dass die großen europäischen Unternehmen ihre US-Konkurrenten bei der Umstellung auf Klimagovernance und strategische Investitionen in kohlenstoffarme Technologien übertreffen. Im Mai dieses Jahres forderten die Aktionäre von ExxonMobil das Unternehmen auf, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen.

Richard Heede vom The Climate Accountability Institute fügt hinzu:

“Von der Kohlenstoffabscheidung über saubere Energie und Methanreduzierung bis hin zu betrieblicher Effizienz müssen die großen fossilen Brennstoffkonzerne ihre Führungsrolle unter Beweis stellen, indem sie in dem erforderlichen Umfang und Tempo zum kohlenstoffarmen Übergang beitragen. Die Unternehmen, die fossile Brennstoffe fördern, müssen ihre Zukunft im Kontext einer radikalen Umgestaltung des globalen Energiesystems planen. Das sind sie den Millionen von Kunden schuldig, die bereits die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren bekommen, den Verbrauchern und Investoren und den vielen Millionen Menschen, die Energie für ihr tägliches Leben benötigen, aber nach Alternativen zu ihren Produkten suchen.”

Den vollständigen Bericht in Englisch hier lesen

“Alle Hemmungen fallen gelassen”

18. Dezember 2023: Dieser Beitrag ist eine aktuelle Ergänzung zum Thema “Israelische Besatzung palästinensischer Gebiete:

Es ging durch alle Nachrichten: Drei Israelis, Geiseln der Hamas, wurden durch israelische Soldaten erschossen. Die Umstände dokumentieren eine hemmungslose Brutalität der israelischen Soldaten, die sich nach Angaben des israelischen Armeesprechers “versehentlich” gegen Israelis richtete. Hier ein Bericht des Stern:

“Am Samstag gab die Armee neue Einzelheiten bekannt. Die getöteten Männer seien mehrere Dutzend Meter von den Truppen entfernt aus einem Gebäude gekommen, sagte ein israelischer Militärvertreter. Sie hätten keine Hemden getragen, einer habe einen Stock mit einem weißen Tuch in der Hand gehabt. Ein Soldat habe sich bedroht gefühlt und das Feuer eröffnet.

Zwei der Männer seien sofort getötet worden. Ein dritter Mann sei ins Haus geflüchtet. Ein Kommandeur habe befohlen, das Feuer einzustellen, doch als der dritte Mann wieder ins Freie trat, sei erneut geschossen worden. Dabei sei auch er getötet worden. “Ich möchte sehr deutlich sagen, dass dieses Vorgehen gegen unsere Einsatzregeln war”, sagte der Militärvertreter. Es sei auch ein Hilferuf in hebräischer Sprache zu hören gewesen.”Laut Armeesprecher Hagari wurden die drei Geiseln von Soldaten “versehentlich als Bedrohung identifiziert”[1]https://www.stern.de/politik/ausland/israelische-soldaten-toeten-drei-geiseln–wie-konnte-es-dazu-kommen–34293270.html.

Wieso fühlte sich ein Soldat von drei Männern bedroht, die keine Hemden tragen und von denen einer einen Stock mit einer weißen Fahne in der Hand hat? Wieso wird einer von diesen drei Männern, als er angeschossen in ein Haus flüchtet, sobald er wieder aus dem Haus kommt, erschossen?

Armeesprecher Hagari behauptet, dass “dieses Vorgehen gegen unsere Einsatzregeln war”. Doch wenn es entgegenstehende Einsatzregeln gab, warum geschah es trotzdem? Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte öffentlich , dass er “alle Hemmungen fallen gelassen” habe,[2]Emanuel Fabian and Jacob Magid, Gallant: Israel moving to full offense, Gaza will never go back to what it once was, Times of Israel, (10 Oct 2023). und dass die israelische Armee “gegen menschliche Tiere kämpft und entsprechend handeln wird[3]“We are fighting human animals” said Israeli Defence Minister Yoav Gallant: https://youtu.be/ZbPdR3E4hCk.

Am 17. Dezember berichtete Al Dschasira von einem israelischen Bulldozer, der einen großen Teil der Einrichtungen des Krankenhauses Kamal Awdan Hospital zerstörte. Al Dschasira zitiert Hani Mahmoud von Al Dschasira aus Rafah im südlichen Gazastreifen: “Die Planierraupe hat die Menschen und ihre Zelte im Innenhof des Krankenhauses zertrümmert, und etwa 20 Menschen wurden unter den Trümmern begraben”.

Die israelische Regierung beruft sich immer wieder auf Gräultaten der Hamas am 7. Oktober 2023. Wir wollen nicht bestreiten, dass es scheckliche Gräultaten an diesem 7. Oktober gab. Doch spricht alles dafür, dass mehrere der behaupteten Gräultaten, die auch von dem amerikanischen Präsidenten Biden verbreitet wurden, freie Erfindungen der ultraorthodoxen Freiwilligenorganisation ZAKA sind. Das kann in einem ausführlichen Artikel nachgelesen werden, den Max Blumenthal, ein ehemaliger Berater von Bill Clinton, vor knapp zwei Wochen vorlegte.

Damit bestätigt sich nur, was schon aus vorangegangenen Kriegen bekannt ist: In einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Erinnern wir uns noch an die Lüge, auf der der ganze Krieg der US-Amerikaner gegen den Irak aufgebaut war? Angeblich sollte der Irak Massenvernichtungswaffen besitzen. Später musse der damalige Verteidigungminister Colin Powell zugeben, dass dies eine Lüge war.

Vor allem aber kann der 7. Oktober 2023 nicht isoliert von der Situation im GAZA betrachtet werden. Michael Lüders beschrieb im Jahr 2018 den GAZA so: “Das ist ein Gebiet von der Größe Bremens, und es leben dort fast zwei Millionen Menschen unter sehr schwierigen Verhältnissen. Das Gebiet ist hermetisch abgeriegelt, es gibt keine Möglichkeit, hinein- oder hinauszukommen, ohne dass die israelischen Behörden zusagen. Das gilt auch für den Grenzübergang auf der ägyptischen Seite. Die Ägypter arbeiten eng mit den Israelis zusammen, und beide sind sich einig, man möchte die Palästinenser nicht rauslassen. Und das hat gravierende Folgen zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung, die in weiten Teilen zusammengebrochen ist. Die Kriegsfolgen 2014 sind noch immer nicht beseitigt. Es ist ein Freiluftgefängnis, von dem die Vereinten Nationen sagen, dass es im Jahr 2020 – das ist ja nun nicht mehr so weit weg – nicht mehr bewohnbar sein wird aufgrund der Versalzung der dortigen knappen Wasservorräte und des Zusammenbruchs der Versorgung mit Lebensmitteln.”[4]siehe Interview im Deutschlandfunk am 15.05.2018


References

References
1 https://www.stern.de/politik/ausland/israelische-soldaten-toeten-drei-geiseln–wie-konnte-es-dazu-kommen–34293270.html
2 Emanuel Fabian and Jacob Magid, Gallant: Israel moving to full offense, Gaza will never go back to what it once was, Times of Israel, (10 Oct 2023).
3 “We are fighting human animals” said Israeli Defence Minister Yoav Gallant: https://youtu.be/ZbPdR3E4hCk
4 siehe Interview im Deutschlandfunk am 15.05.2018

Entscheidung des EGMR zum Beamtenstreikrecht

14. Dezember 2023: Heute wurde die Entscheidung der großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) zum Beamtenstreikrecht veröffentlicht. Danach soll das Verbot des Streiks von Lehrerinnen und Lehrern nicht gegen Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen. Das Verbot verstößt aber weiterhin gegen die Europäische Sozialcharta, wie der zuständige internationale Sachverständigenausschuss in einem Bericht des Jahres 2022 erklärte. Diese Erklärung gilt weiterhin.

In der Presseerklärung des Kanzlers des EGMR wird eingeräumt: “In Bezug auf die Argumente der Kläger zum internationalen Arbeitsrecht stellte der Gerichtshof Folgendes fest: Deutschlands Ansatz, Streiks für alle Beamten, wie die Kläger, zu verbieten, stimmt nicht mit dem internationalen Trend überein. Internationale Überwachungsgremien hatten dieses statusbezogene Verbot in Deutschland wiederholt kritisiert.” Der Gerichtshof (EGMR) weist sodann darauf hin, dass er nicht auf der Grundlage der Europäischen Sozialcharta entschieden hat. Die internationale Kritik auf der Grundlage dieser Charta an dem deutschen Streikrechtsverbot für alle Beamtinnen und Beamte bleibt also auch nach der Auffassung des Gerichtshofes (EGMR) bestehen.

Wir bleiben dabei: Das noch aus der Kaiserzeit stammende Streikverbot für alle Beamtinnen und Beamte darf keinen Bestand haben. Sonst dehnt es sich noch über ganz Europa aus.

In Frankreich sind Streiks von Lehrerinnen und Lehrern nicht verboten[1]siehe als Beispiel auch Spiegelbericht. Das ist übrigens mit Artikel 11 EMRK vereinbar. Frankreich ist eben nur freier. Wir bleiben dabei: Was in Frankreich erlaubt ist, darf in Deutschland nicht verboten sein.

Gegen dieses Verbot muss verstoßen werden. Nur so kann es beendet werden. Es ist nicht einzusehen, dass Lehrerinnen und Lehrer eines der wichtigsten demokratischen Rechte verwehrt wird. Demokratie ist keine Feierabendveranstaltung – auch nicht für Lehrerinnen und Lehrer.

Die Junge Welt vom 14. Dezember 2023 berichtete, dass der britische Dachverband der Gewerkschaften auf einem Kongress Kampfmaßnahmen gegen die Einschränkungen des Streikrechts durch die Regierung der Tories beschloss: “Der Kongress votierte einstimmig dafür, das Gesetz nicht umzusetzen. Gewerkschaften werden ihren Mitgliedern nicht sagen, die Streikposten zu verlassen, wie es vom neuen Gesetz gefordert wird.[2]Junge Welt vom 14. Dezember 2023. Der Vorsitzende des TUC Nowak: »Die Regierung startet einen der größten Angriffe aller Zeiten auf Gewerkschaftsrechte. Aber lasst uns klarstellen: Gewerkschaften sind die letzte Bastion für Arbeiter. Wir werden diese ungerechtfertigte Gesetzgebung mit aller Kraft bekämpfen.«[3]Junge Welt vom 14. Dezember 2023 In dem Bericht der Jungen Welt heißt es weiter: “Wo Gewerkschaften aufgrund der neuen Gesetze mit Sanktionen konfrontiert werden, hohe Geldstrafen und die Beschlagnahmung von Vermögenswerten drohen, soll es »praktische, rechtliche, finanzielle und/oder politische Unterstützung« geben, die durch ein Sonderkomitee des TUC koordiniert wird.[4]Junge Welt vom 14. Dezember 2023.

Siehe auch die Grußbotschaft an die britischen Gewerkschaften der Kampagne RechtAufStreik.


Zu den einzelnen Veröffentlichungen:

In einer Pressemitteilung fasste der Kanzler des Gerichtshofes (EGMR) die Entscheidung zusammen: Pressemitteilung des Kanzlers des EGMR

Die gesamte Begründung der Entscheidung des EGMR in Englisch ist hier nachzulesen[5]http://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22],%22itemid%22:[%22001-229726%22]}. Sehr interessant sind die Stellungnahmen von zwei Richtern, die der Begründung angehängt sind. Richter Ravarani stimmte zwar der Entscheidung zu, äußerte aber erhebliche Bedenken, was die Begründung angeht: Stellungnahme des Richters Ravarani. Richter Serghides lehnte die Entscheidung der Mehrheit ab, weil er Art. 11 der Europäischen Menschenrechts-konvention (EMK) verletzt sah; er begründete dies in einer gesonderten ausführlichen Stellungnahme: Stellungnahme des Richters Serghides.

Die GEW nahm in einem Video zu dieser Entscheidung des EGMR Stellung: Stellungnahme der GEW


Inhaltsverzeichnis:

Pressemitteilung des Kanzlers des EGMR

Stellungnahme des Richters Ravarani

Stellungnahme des Richters Serghides

Stellungnahme der GEW


Bußgelder für streikende verbeamtete Lehrer verletzen keine Rechte

Mit dem heutigen Urteil der Großen Kammer1 in der Rechtssache Humpert u. a./Deutschland (Antrag Nr. 59433/18 und 3 andere) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit 16 gegen 1 Stimme entschieden, dass dass es keine Verletzung von Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Konvention zum Menschenrechte.

In der Rechtssache ging es um die Disziplinarstrafen, die gegen die Kläger, Lehrer im Beamtenverhältnis, verhängt wurden, weil sie während ihrer Arbeitszeit an einem von ihrer Gewerkschaft organisierten Streik teilgenommen hatten, um gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrer zu protestieren.

Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass das Streikverbot für verbeamtete Lehrer – das dazu diente, die Erfüllung staatlicher Aufgaben durch eine effiziente öffentliche Verwaltung, einschließlich der Bereitstellung von Bildung, zu gewährleisten – die Gewerkschaftsfreiheit der Lehrer nicht inhaltsleer machte, da die verschiedenen institutionellen Schutzmechanismen, die eingeführt worden waren, die Beamten und ihre Gewerkschaften in die Lage versetzten, ihre beruflichen Interessen wirksam zu vertreten.

Daraus folgt, stellte das Gericht fest, dass die Disziplinarmaßnahmen gegen die Kläger nach ihrer Teilnahme an Streiks innerhalb des Ermessensspielraums des Staates lagen (“margin of appreciation”).

Eine juristische Zusammenfassung dieses Falles wird in der Datenbank des Gerichtshofs HUDOC (Link) verfügbar sein.

Wesentlicher Sachverhalt

Die Kläger, Karin Humpert, Kerstin Wienrank, Eberhard Grabs und Monika Dahl, sind deutsche Staatsangehörige, die 1961, 1960, 1951 bzw. 1965 geboren wurden. Sie leben in Rantrum, Bremerhaven, Neuenhaus und Diemelstadt (alle in Deutschland). Zum fraglichen Zeitpunkt waren sie verschiedenen Bundesländern als verbeamtete Lehrer an staatlichen Schulen beschäftigt.

In den Jahren 2009 und 2010 erschienen die Kläger – allesamt Mitglieder der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – zwischen einer Stunde und drei Tagen nicht zur Arbeit und forderten eine Verbesserung der Lern- und und Arbeitsbedingungen. In der Folge wurden sie wegen ihres Streiks mit Disziplinarstrafen belegt.

Die Maßnahmen stützten sich auf das Verbot von Streiks im öffentlichen Dienst. Frau Humpert wurde vom schleswig-holsteinischen Ministerium für Bildung und Kultur wegen versäumten Unterrichts in zwei Klassen verwarnt. Die niedersächsische Schulbehörde verurteilte Frau Wienrank und Herrn Grabs zu einer Geldstrafe von jeweils 100 Euro, weil sie fünf Unterrichtsstunden versäumt hatten. Frau Dahl erhielt von der Bezirksregierung Köln eine Disziplinarverfügung gegen sie und eine Geldstrafe von 300 EUR (in der Berufung) für das unentschuldigte Fernbleiben von 12 Unterrichtsstunden.

Nachdem die Klägerinnen die gegen sie ergangenen Bescheide vor verschiedenen Verwaltungsgerichten erfolglos angefochten hatten, legten sie Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.

Im Juni 2018 entschied das Gericht gegen die Kläger, dass Art. 9 Absatz 3 (Koalitionsfreiheit) des Grundgesetzes für jeden Menschen, auch für Beamte, gelte und deshalb die Disziplinarmaßnahmen gegen die Kläger in ihr Recht, Vereinigungen zu bilden, eingriffen. Dieser Eingriff sei jedoch durch andere verfassungsrechtliche Belange gerechtfertigt, insbesondere die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nach Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes, zu denen auch das Streikverbot gehörte. Es diente dem Zweck, eine stabile Verwaltung zu gewährleisten, die Erfüllung staatlicher Aufgaben und damit das Funktionieren des Staates und seiner Institutionen zu gewährleisten. Ein Streikrecht, und sei es nur für einen Teil der Beamten, würde das gesamte System des Berufsbeamtentums in Deutschland in Frage stellen und würde zumindest grundlegende Änderungen des “Alimentationsprinzips”, der Treuepflicht, des Prinzips der Lebenszeitbeschäftigung und des Grundsatzes, dass materielle Rechte und Pflichten einschließlich der Besoldung vom Gesetzgeber zu regeln sind, nach sich ziehen. Es würde daher in die Garantien des Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes eingreifen. Insgesamt sei die Einschränkung der Rechte der Kläger nicht unangemessen und führe nicht zur Unwirksamkeit der Vereinigungsfreiheit. Insbesondere habe der Gesetzgeber das Streikverbot dadurch hinreichend kompensiert, dass er den Dachverbänden der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ein Mitwirkungsrecht einräumt bei der Ausarbeitung neuer gesetzlicher Bestimmungen über den Status der Beamten und die Möglichkeit für Beamte, vor Gericht auf “angemessenen Unterhalt” zu klagen, gemäß dem “Grundsatz der Alimentation”.

Was Artikel 11 der Konvention betrifft, so hat das Bundesverfassungsgericht das Streikverbot für vereinbar mit dieser Bestimmung gehalten und begründet dies mit dem ersten Satz des Artikel 11 Absatz 2 (“Die Ausübung dieser Rechte darf nur insoweit beschränkt werden, als dies gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder öffentlichen Sicherheit öffentlichen Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer”). Das Gericht sah die Antragsteller außerdem als “Mitglieder der Staatsverwaltung”, denen nach der Konvention Beschränkungen auferlegt werden können.

Beschwerden, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs

Unter Berufung auf die Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention beschwerten sich die Kläger, dass die Disziplinarmaßnahmen gegen sie wegen ihrer Teilnahme an einem Streik während ihrer Arbeitszeit sowie das das allgemeine Streikverbot für Beamte nicht gesetzlich vorgeschrieben und unverhältnismäßig seien und im Vergleich zu Lehrern, die auf Vertragsbasis beschäftigt seien, diskriminierend. Sie haben auch 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) gerügt, dass das Bundesverfassungsgericht die einschlägigen internationalen Verträge nicht berücksichtigt habe.

Die Beschwerden wurden am 10. Dezember 2018 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Am 1. September 2022 gab die Kammer ihre Zuständigkeit zugunsten der Großen Kammer auf.

Am 1. März 2023 fand eine öffentliche Anhörung im Gebäude für Menschenrechte in Straßburg statt.

Das Urteil wurde von der Großen Kammer mit 17 Richtern gefällt, die wie folgt zusammengesetzt sind:
Síofra O’Leary (Irland), Präsidentin,
Georges Ravarani (Luxemburg),
Marko Bošnjak (Slowenien),
Gabriele Kucsko-Stadlmayer (Österreich),
Pere Pastor Vilanova (Andorra),
Arnfinn Bårdsen (Norwegen),
Faris Vehabović (Bosnien und Herzegowina),
Egidijus Kūris (Litauen),
Stéphanie Mourou-Vikström (Monaco),
Alena Poláčková (Slowakei),
Georgios A. Serghides (Zypern),
Tim Eicke (Vereinigtes Königreich),
Lətif Hüseynov (Aserbaidschan),
Raffaele Sabato (Italien),
Anja Seibert-Fohr (Deutschland),
Diana Sârcu (die Republik Moldau),
Mykola Gnatovskyy (Ukraine),
sowie Johan Callewaert, stellvertretender Kanzler der Großen Kammer.

Entscheidung des Gerichtshofs

Der Gerichtshof bekräftigt, dass die Gewerkschaftsfreiheit kein eigenständiges Recht ist, sondern ein spezifischer Aspekt der Vereinigungsfreiheit, wie sie in Artikel 11 der Konvention anerkannt wird. Im Laufe der Zeit wurde dies im Laufe der Zeit näher ausgeführt; wesentliche Elemente dieser Freiheit: Das Recht auf Gründung und einer Gewerkschaft beizutreten, das Verbot von closed-shop agreements, das Recht einer Gewerkschaft, den Arbeitgeber davon zu überzeugen, sie im Namen ihrer Mitglieder anzuhören, und das Recht auf Tarifverhandlungen als wesentliche Elemente der Gewerkschaftsfreiheit. Es musste bisher offen gelassen werden, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit nach Artikel 11 des Übereinkommens berührt.

Um die Frage zu beantworten, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit berührt zu beantworten, musste das Gericht die Gesamtheit der vom beklagten Staat ergriffenen Maßnahmen zur Maßnahmen, die der beklagte Staat zur Sicherung der Gewerkschaftsfreiheit ergriffen hat, und die alternativen Mittel und Rechte, die den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern
zur Verteidigung ihrer Interessen gewährt werden, berücksichtigen. Es berücksichtigte auch andere Aspekte der Arbeitsbeziehungen in dem betreffenden System, wie Tarifverhandlungen, der betreffende Sektor und die besonderen Positionen. Selbst wenn ein Streikverbot nicht ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit in einem bestimmten Kontext berührte, würde es eine Kerntätigkeit der Gewerkschaften beeinträchtigen, wenn es sich um direkte Arbeitskampfmaßnahmen handelt. In jedem Fall war der dem Staat eingeräumte Ermessensspielraum (“margin of appreciation”) begrenzt.

Gegen die Kläger wurden Maßnahmen wegen ihrer Teilnahme an Streiks während der Arbeitszeit ergriffen. Diese Maßnahmen stellten somit einen Eingriff in ihre Vereinigungsfreiheit dar. Die Maßnahmen stützten sich auf Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes und die einschlägigen Teile der verschiedenen Beamtenstatusgesetze und Beamtengesetze der Länder. Das Bundesverfassungsgericht hatte
das Grundgesetz in ständiger Rechtsprechung so ausgelegt, dass es ein solches Streikverbot für alle Beamtinnen und Beamten vorsieht.
Die Einschränkung sei daher gesetzlich vorgeschrieben. Das Argument der Regierung, das Streikverbot für Beamte diene dazu, die Aufrechterhaltung einer stabilen Verwaltung, die Erfüllung der Staatsfunktionen und das ordnungsgemäße Funktionieren des Staates und seiner Institutionen zu gewährleisten, wurde vom Gerichtshof als legitimer Zweck anerkannt.

Der Gerichtshof stellte fest, dass das Streikverbot für Beamte, einschließlich Lehrer mit diesem Status absolut sei und als “strenge” Beschränkung eingestuft werden könne. Ein allgemeines Verbot von Streiks für alle Beamte warf spezifische Fragen im Rahmen der Konvention auf.

In Bezug auf die Argumente der Kläger zum internationalen Arbeitsrecht stellte der Gerichtshof Folgendes fest: Deutschlands Ansatz, Streiks für alle Beamten, wie die Kläger, zu verbieten, stimmt nicht dem internationalen Trend überein. Internationale Überwachungsgremien hatten dieses statusbezogene Verbot in Deutschland wiederholt kritisiert.

Ohne die von diesen Gremien vorgenommene Analyse in Frage zu stellen, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass seine Aufgabe war, zu prüfen, ob das einschlägige nationale Recht in seiner Anwendung auf die Kläger verhältnismäßig ist, wie in Artikel 11 Absatz 2 der Konvention gefordert, da seine Zuständigkeit auf die Konvention beschränkt ist.

Streiks sind ein wichtiger Teil der Gewerkschaftsarbeit, aber sie sind nicht das einzige Mittel für die Gewerkschaften und ihre Mitglieder, um ihre Interessen zu schützen. Deutsche Beamte konnten Gewerkschaften gründen und beitreten, und viele Beamte, darunter auch die Kläger, machten von diesem Recht Gebrauch.

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes hatten ein gesetzliches Mitwirkungsrecht bei der Erarbeitung von Dienstvorschriften.
Der Gerichtshof stellt fest, dass keine der anderen Vertragsparteien vergleichbare Mitwirkungsrechte der Gewerkschaften bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen als Ausgleich für ein Streikverbot für die betroffenen Arbeitnehmer haben. Außerdem hätten Beamte ein verfassungsmäßiges Recht auf einen “angemessenen Unterhalt”, der der Besoldungsgruppe und der Verantwortung des Beamten sowie der Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards (Alimentationsprinzip)n entspricht, die sie vor Gericht durchsetzen können.

Die Vielfalt der verschiedenen institutionellen Schutzmechanismen in ihrer Gesamtheit ermöglichte es den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und den Beamten selbst, ihre Interessen wirksam zu vertreten. Der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad unter den deutschen Beamten verdeutlicht die praktische Wirksamkeit der gewerkschaftlichen Rechte, wie sie den Beamten zugesichert wurden. Das Streikverbot machte die Gewerkschaftsfreiheit der Beamtinnen und Beamten nicht inhaltsleer.

Außerdem seien die gegen die Kläger verhängten Disziplinarmaßnahmen nicht schwerwiegend gewesen. Sie verfolgten das wichtige Ziel, den Schutz der in der Konvention verankerten Rechte durch eine wirksame öffentliche Verwaltung (im konkreten Fall das Recht anderer auf Bildung) zu gewährleisten, und die die innerstaatlichen Gerichte hatten sachdienliche und ausreichende Gründe angeführt, um diese Maßnahmen zu rechtfertigen, und zwar unter Abwägung der widerstreitenden Interessen und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs während des nationalen Verfahren. Die tatsächlichen Beschäftigungsbedingungen der verbeamteten Lehrer in Deutschland sprachen im vorliegenden Fall ebenso für die Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Maßnahmen im vorliegenden Fall, wie die Möglichkeit, als Lehrkräfte an staatlichen Schulen mit Streikrecht zu arbeiten.

Das Gericht kam daher zu dem Schluss, dass die gegen die Kläger ergriffenen Maßnahmen nicht das Ermessensspielraum des Staates nicht überschritten haben und in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten wichtigen legitimen Zielen standen.

Es lag kein Verstoß gegen Artikel 11 vor.

Die Kläger rügten, das Bundesverfassungsgericht habe sich nicht mit ihren Argumenten zum Streikrecht für Beamte nach internationalem Arbeitsrecht auseinandergesetzt.

Der Europäische Gerichtshof erklärte die Beschwerden für unzulässig, da das Bundesverfassungsgericht das internationale
das internationale Arbeitsrecht in der Hauptsache berücksichtigt habe.

Richter Ravarani gab eine zustimmende Stellungnahme ab. Die Richterin Serghides hat eine abweichende Meinung geäußert.

Diese Stellungnahmen sind dem Urteil als Anhang beigefügt.

Das Urteil ist auf Englisch und Französisch verfügbar.

Diese Pressemitteilung ist im Original in Englisch und wurde von DeepL übersetzt


Ich stimmte mit meinen Kollegen für die Feststellung, dass die Sanktion, die gegen die Kläger wegen ihrer Teilnahme an einem Streik verhängt wurde, keinen Verstoß gegen Artikel 11 der Konvention darstellt, obwohl für sie als Beamte ein generelles Streikverbot gilt.

Eine persönliche Entscheidung. Tatsächlich scheint Deutschland der einzige Mitgliedstaat des Europarats zu sein, der ein generelles Streikverbot für Beamte im Bildungssektor verhängt (siehe Randnummer 67 des Urteils). Das deutsche System weist noch eine weitere Besonderheit auf, nämlich die Dualität der Laufbahnen im Bildungswesen und die Möglichkeit, zwischen ihnen zu wählen, sogar mit dem Recht, von einer zur anderen zu wechseln: entweder als Beamter ohne Streikrecht oder als Angestellter des öffentlichen Dienstes mit einem solchen Recht. In dem Urteil wird ausführlich erläutert, dass das Bildungswesen im öffentlichen Sektor nicht nur von Beamten, sondern auch von staatlichen Vertragsbediensteten durchgeführt wird, die das Recht haben, zu streiken (siehe Rdnrn. 139 ff.). Wichtig ist, auch wenn dies von den Klägern bestritten wurde, dass es eine anfängliche Wahl gibt, welche Laufbahn eingeschlagen wird, und dass Lehrer, die im Beamtenstatus beschäftigt sind, in den Status eines staatlichen Vertragsbediensteten wechseln können. Natürlich könnte man sich fragen, warum die Vorteile des Beamtenstatus durch ein totales Streikverbot ausgeglichen werden müssen, aber dennoch, und ungeachtet der Frage, ob eine solche Wahl wirklich frei ist, kann das Fehlen des Streikrechts als Ergebnis einer Option betrachtet werden, die einen Verzicht auf dieses Recht für den Fall beinhaltet, dass eine Beamtenlaufbahn gewählt wird. Dieser Aspekt hat mich veranlasst, für die Feststellung zu stimmen, dass keine Verletzung von Artikel 11 des Übereinkommens vorliegt.

Einige Fragen. Ich sehe mich jedoch gezwungen, einige Erklärungen zu meinem Votum hinzuzufügen, da ich ernsthafte Zweifel an den meisten anderen von den deutschen Behörden angeführten Gründen für die Verhängung eines solchen pauschalen Streikverbots für Beamte im Bildungssektor habe. Meine Zweifel beziehen sich sowohl auf das legitime Ziel als auch auf die Verhältnismäßigkeit der verhängten Maßnahme. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass es unabhängig vom Umfang des Ermessensspielraums des Mitgliedstaates im vorliegenden Fall nicht um eine bloße Einschränkung des Streikrechts geht, sondern um ein pauschales Verbot dieses Rechts für eine bestimmte Personengruppe. Es beruht nicht auf den Besonderheiten ihrer Tätigkeit, sondern auf ihrem Status als Beamte.

Das Recht der anderen auf Bildung. Während es kein Problem ist, die gute Verwaltung als legitimes Ziel des Streikverbots und als gültiges Ziel der Maßnahme bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu betrachten, kann man sich fragen, ob der Schutz der Rechte anderer (siehe Randnummern 118 und 136 ff. des Urteils) ein solches Totalverbot rechtfertigen kann. Ein solches Ziel als legitim anzuerkennen, geht sehr weit, da ein Streik unter vielen Umständen tatsächlich die Rechte anderer beeinträchtigt, z. B. im Bereich des Zugangs zur medizinischen Versorgung. Ist es nicht gerade der Zweck eines Streiks, eine gewisse Störung zu verursachen und – zumindest indirekt – die Situation anderer zu beeinträchtigen, beispielsweise im Bereich des Verkehrs, der Müllabfuhr usw.? Wird die Anerkennung der Rechte anderer als legitimes Ziel für die Verhängung eines Streikverbots, das im Übrigen als verhältnismäßige Maßnahme betrachtet wird, nicht dazu führen, dass das Verbot von Streiks in jedem Tätigkeitsbereich möglich wird? Die menschlichen Tätigkeiten sind eng miteinander verknüpft, und jede Tätigkeit hat Auswirkungen auf die Rechte und das Wohlergehen anderer. Viele Aspekte des menschlichen Lebens sind durch die Rechte nach Artikel 8 der Konvention geschützt. Müsste jede einzelne negative Auswirkung eines Streiks auf diese Rechte als Eingriff in die Rechte anderer geprüft werden?

Ist Bildung eine “wesentliche Dienstleistung”? In seinem Urteil vertrat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass das Bildungswesen zu den Kerntätigkeiten der staatlichen Verwaltung gehört, ein Bereich, in dem Artikel 11 Absatz 2 des Übereinkommens Einschränkungen des Streikrechts zulässt. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass das Recht auf Bildung, dessen Bedeutung niemand ernsthaft bestreiten kann, im Allgemeinen nicht als wesentlicher Dienst – im Sinne der Ausübung öffentlicher Gewalt im Namen des Staates und/oder der Erbringung wesentlicher Dienstleistungen – im Rahmen der spezialisierten internationalen Instrumente angesehen wird (siehe Randnummern 55, 58 und 125 des Urteils). Es trifft zu, dass sich die Aufgabe des Gerichtshofs, wie in Randnummer 126 des Urteils hervorgehoben wird, auf die Auslegung des Übereinkommens und auf die Feststellung beschränkt, ob das einschlägige innerstaatliche Recht in seiner Anwendung auf die Kläger im Sinne von Artikel 11 § 2 des Übereinkommens verhältnismäßig war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die Konvention jedoch nicht im luftleeren Raum ausgelegt werden und sollte so weit wie möglich im Einklang mit anderen Regeln des Völkerrechts, zu denen sie gehört, ausgelegt werden (siehe zum Beispiel Demir und Baykara gegen die Türkei [GC], Nr. 34503/97, §§ 76 ff. vom 12. November 2008; siehe auch Al-Adsani gegen das Vereinigte Königreich [GC], no. 35763/97, § 55, 21. November 2001, und Hassan v. the United Kingdom, [GC], no. 29750/09, § 77, 16. September 2014). Hier ist die Diskrepanz zu der von praktisch allen internationalen Fachgremien vertretenen Position auffällig. Darüber hinaus fordert die eigene Rechtsprechung des Gerichtshofs einen restriktiven Ansatz für den Begriff der Mitglieder der Verwaltung[9]. Wenn das Bildungswesen als eine wesentliche Dienstleistung angesehen wird, die keine Unterbrechung zulässt, warum haben dann Lehrer, die in einem vertraglichen Arbeitsverhältnis stehen, das Recht zu streiken?

Ein weiteres Argument, das der Oberste Rat in seinem Urteil anführt, nämlich dass die Einteilung der Beamten in zwei Gruppen, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen streikberechtigt oder nicht streikberechtigt sind, zu Unterscheidungsschwierigkeiten führen würde, die mit dem Begriff der öffentlichen Gewalt zusammenhängen, überzeugt ebenfalls nicht, da andere Staaten, in denen einige Beamte das Streikrecht haben und andere nicht, eine solche Unterscheidung vornehmen können.

Das “Paket”-Argument. Nach Ansicht der deutschen Behörden ist das Streikverbot für Beamte Teil eines “ganzheitlichen Systems, das durch verschiedene Parameter gekennzeichnet ist”, so dass das Streikverbot durch verschiedene Faktoren ausgeglichen wird. Die deutschen Behörden sind der Ansicht, dass die Zulassung von Streiks zusätzlich zu allen anderen Vorteilen, die der Beamtenstatus bietet, einer Rosinenpickerei gleichkäme.

Ohne auf die Einzelheiten dieses “Pakets” einzugehen, können einige Punkte hervorgehoben werden. Während die Grundsätze der “Alimentation” und der lebenslangen Beschäftigung sicherlich gewichtige Argumente darstellen, stellt sich in diesem Zusammenhang einfach die Frage, warum die Loyalitätspflicht, die absehbare Laufbahn, die volle Einsatzbereitschaft und die Neutralitätspflicht Beamte vom Streik abhalten sollten. Wäre es loyal, in der Privatwirtschaft zu streiken, im öffentlichen Dienst aber nicht? Darf also ein Arzt, der im Angestelltenverhältnis arbeitet und Leben retten muss, streiken, während ein Beamter im Bildungssektor dies nicht darf? Warum sollte es für Beamte illoyal sein und für andere Beschäftigte des öffentlichen Sektors nicht? Ist es wirklich unmöglich, sich an alle einschlägigen Verpflichtungen zu halten und trotzdem das Recht zu streiken zu haben? Einfach ausgedrückt: Ist es an sich illoyal zu streiken? Natürlich kann die Organisation von Streiks illoyal sein, vor allem, wenn sie darauf abzielen, die Erbringung wesentlicher Dienstleistungen zu unterbrechen. Solche Aktionen können jedoch rechtmäßig verboten oder eingeschränkt und mit gerichtlichen Mitteln wirksam bekämpft werden.

Zwar haben die deutschen Beamten neben dem Streik noch andere Mittel, um ihre Interessen gegenüber ihrem Dienstherrn zu vertreten, nämlich das Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, ein gesetzlich verankertes Recht auf Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften für den öffentlichen Dienst und das Recht, den Staat zu verklagen, wenn sie der Auffassung sind, dass ihre Besoldung nicht mehr angemessen ist. Würde das Streikrecht diese Rechte jedoch grundsätzlich in Frage stellen? Gewisse Anpassungen könnten notwendig sein, aber das sollte kein Grund für ein generelles Verbot des Streikrechts für Beamte sein[10]. Außerdem ist der Umfang des Klagerechts nicht ganz klar. Geht es über das Recht hinaus, eine bessere Vergütung zu fordern, und umfasst es beispielsweise auch Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen?

Schlussfolgerung. Während die in Deutschland den Lehrern im staatlichen Bildungswesen gebotene Wahlmöglichkeit zwischen dem Beamtenstatus und dem Status eines staatlichen Vertragsbediensteten dazu dienen kann, die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit eines absoluten Streikverbots im Falle der Ersteren zu begründen, während Letztere streiken dürfen, können die anderen Gründe, die zur Rechtfertigung eines solchen Verbots angeführt werden, zumindest in Frage gestellt werden.


Einleitung
  1. Alle vier Kläger in der vorliegenden Rechtssache waren zum maßgeblichen Zeitpunkt Lehrer an staatlichen Schulen, die nach deutschem Recht verbeamtet waren. Sie rügten vor dem Gerichtshof, dass die Disziplinarmaßnahmen gegen sie wegen ihrer Teilnahme an einem Streik sowie das allgemeine Streikverbot für Beamte, auf das sich diese Maßnahmen stützten, ihr Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäß Artikel 11 der Konvention verletzt hätten, der wie folgt lautet

“(1) Jede Person hat das Recht, sich friedlich zu versammeln und mit anderen frei zusammenzuschließen, einschließlich des Rechts, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten.

  1. (2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur insoweit beschränkt werden, als dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Beschränkungen der Ausübung dieser Rechte durch Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.”

Insbesondere nahmen die vier Kläger an Streiks teil, zu denen auch eine Demonstration gehörte, die von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, der sie angehörten, während ihrer Arbeitszeit organisiert wurde, um gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrer zu protestieren (siehe Randnummer 8 des Urteils).

  1. Nach dem Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 2018 ist es allen Beamten in Deutschland, einschließlich der Kläger, untersagt, sich an gewerkschaftlichen oder Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Mit anderen Worten: Es besteht ein absolutes Streikverbot für alle Beamtinnen und Beamten, allein aufgrund ihres Status.
  2. Das Gericht stellt in seinem Urteil zu Recht fest, dass das Streikverbot für Beamte, einschließlich der Lehrer mit diesem Status, auf ihrem Status beruht und absolut ist, und fügt hinzu, dass die Beschränkung des Streikrechts für deutsche Beamte, einschließlich der Kläger, somit als schwerwiegend bezeichnet werden kann (siehe Randnrn. 123 und 144 des Urteils).
  3. Während ich für Punkt 1 des Tenors des vorliegenden Urteils gestimmt habe, indem ich die Beschwerde gegen Artikel 11 der Konvention für zulässig und die übrigen Beschwerden für unzulässig erklärt habe, habe ich gegen Punkt 2 des Tenors des Urteils gestimmt, wonach keine Verletzung von Artikel 11 der Konvention vorliegt. Ich habe methodische, konzeptionelle und inhaltliche Schwierigkeiten, dem Urteil zuzustimmen, insbesondere im Hinblick auf seinen Ansatz, der zu dem Schluss führt, dass keine Verletzung von Artikel 11 vorliegt.
I. Die Wechselbeziehung zwischen dem Recht auf Tarifverhandlungen und Streik und dem Recht auf Vereinigungsfreiheit
  1. Das Streikrecht ist ein kollektives Menschenrecht. Wie Ruth Ben-Israel erklärt[11]:

“Wenn das Streikrecht auf der Ebene der internationalen Menschenrechte als das Recht der Arbeitnehmer zu betrachten ist, ihre Arbeit in abgestimmter Weise zu verweigern, um Tarifverhandlungen voranzutreiben, dann folgt daraus, dass es auf dieser Ebene auch als kollektives Recht einzustufen ist. Der Grund dafür ist, dass die Elemente, aus denen sich dieses Recht zusammensetzt, mit der Definition der kollektiven Rechte übereinstimmen, zumindest was die Durchführung der Arbeitsniederlegung betrifft. Es handelt sich nämlich nicht um ein Recht, das dem Einzelnen zusteht, sondern um ein Recht, das zwar vom Einzelnen ausgeübt werden kann, aber nach einer Entscheidung der Gruppe und in Abstimmung mit den anderen Mitgliedern der Gruppe ausgeübt werden muss.”

  1. Der Gerichtshof hat das Recht auf Kollektivverhandlungen als wesentliches Element des Rechts auf Vereinigungsfreiheit gemäß Artikel 11 § 1 anerkannt (siehe Randnummer 100 des vorliegenden Urteils sowie Demir und Baykara [GC], Nr. 34503/97, § 154, ECHR 2008). Wie im vorliegenden Urteil anerkannt wird, “ermöglicht das Streikrecht einer Gewerkschaft, sich Gehör zu verschaffen, und stellt ein wichtiges Instrument für die Gewerkschaft dar, um die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen, und für die Mitglieder einer Gewerkschaft wiederum, um ihre Interessen zu verteidigen” (siehe Randnummer 104 des Urteils).
  2. In dem Urteil wird jedoch die Auffassung vertreten, dass die Frage, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit berührt, weil es diese Freiheit unter den gegebenen Umständen ins Leere laufen lässt – eine Frage, die der Gerichtshof bisher offen gelassen hat -, eine kontextspezifische Frage ist, die daher nicht abstrakt oder durch eine isolierte Betrachtung des Streikverbots beantwortet werden kann, sondern vielmehr eine Beurteilung aller Umstände des Falles unter Berücksichtigung der Gesamtheit der vom beklagten Staat ergriffenen Maßnahmen zur Sicherung der Gewerkschaftsfreiheit und einer Reihe anderer Aspekte, einschließlich der Rechte des Einzelnen, erfordert (siehe Randnummern 109-110 des Urteils). Ein solcher Ansatz erinnert an den umfassenden Fairness-Ansatz (und die damit verbundene Abwägung von Rechten), den der Gerichtshof in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der Konvention verwendet.
  3. Ich vertrete in dieser Frage respektvoll einen anderen Standpunkt. Ich bin der Auffassung, dass das Streikrecht unter allen Umständen ein unverzichtbarer Bestandteil oder ein Element oder ein Aspekt des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und insbesondere der Gewerkschaftsfreiheit gemäß Artikel 11 der Konvention ist[12]. Der Charakter und die Natur des Streikrechts als Bestandteil der Vereinigungsfreiheit können nicht von spezifischen Umständen abhängen und von Fall zu Fall variieren; dieses Recht ist Teil der “DNA” – und Norm der Wirksamkeit – der Vereinigungsfreiheit und sollte immer als solche behandelt werden. Es wäre paradox, wenn das Recht auf Kollektivverhandlungen von der Rechtsprechung (vgl. Demir und Baykara, a.a.O., Rdnr. 154) als wesentliches Element der Vereinigungsfreiheit anerkannt würde, während das Streikrecht, das untrennbar mit dem Recht auf Kollektivverhandlungen verbunden ist, nicht unter allen Umständen ebenfalls als wesentliches Element der Vereinigungsfreiheit angesehen wird, sondern vielmehr von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Wie die Kläger in diesem Zusammenhang zu Recht vorgetragen haben (siehe Randnummer 77 des Urteils):

“Die notwendige Verknüpfung des Rechts auf Tarifverhandlungen mit dem Streikrecht war ein weltweit anerkannter Rechtsgrundsatz und stellte internationales Gewohnheitsrecht dar … Er wurde durch den bekannten Grundsatz veranschaulicht: ‘Ohne das Streikrecht würden Tarifverhandlungen lediglich auf kollektives Betteln hinauslaufen’. Umgekehrt bedeutete die Verweigerung des Streikrechts für alle Beamten auch, dass ihnen das Recht auf Tarifverhandlungen verweigert wurde, das in Artikel 11 als wesentliches Element der Vereinigungsfreiheit anerkannt wurde. Ohne die tatsächliche Möglichkeit, sich an gewerkschaftlichen Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen, war das Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft allein unbeachtlich.

Es besteht also zweifellos ein funktionaler Zusammenhang zwischen dem Recht auf Kollektivverhandlungen und dem Streikrecht[13].

  1. Das Streikrecht ist ein zentraler Wert einer demokratischen Gesellschaft. Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Maina Kiai, hat in einer UN-Pressemitteilung (9. März 2017)[14] aufschlussreich anerkannt und unterstrichen, dass das Streikrecht eine untrennbare Folge des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit ist und dass ein Zusammenhang zwischen dem Streikrecht und der Demokratie besteht:

“Das Streikrecht ist auch eine untrennbare Folge des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit. Für Millionen von Frauen und Männern in der ganzen Welt ist es von entscheidender Bedeutung, ihre Rechte am Arbeitsplatz kollektiv durchzusetzen, einschließlich des Rechts auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen und auf Arbeit in Würde und ohne Angst vor Einschüchterung und Verfolgung. Darüber hinaus gehören Protestaktionen gegen die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung und gegen negative Unternehmenspraktiken zu den grundlegenden bürgerlichen Freiheiten, deren Achtung für die sinnvolle Ausübung der Gewerkschaftsrechte unerlässlich ist. Dieses Recht ermöglicht es ihnen, mit Unternehmen und Regierungen auf einer gleichberechtigteren Basis zu verhandeln, und die Mitgliedstaaten haben die positive Verpflichtung, dieses Recht zu schützen, und die negative Verpflichtung, seine Ausübung nicht zu behindern.

Darüber hinaus geht es beim Schutz des Streikrechts nicht nur darum, dass die Staaten ihren rechtlichen Verpflichtungen nachkommen. Es geht auch darum, dass sie demokratische und gerechte Gesellschaften schaffen, die auf lange Sicht tragfähig sind. Die Konzentration von Macht in einem Sektor – sei es in den Händen der Regierung oder der Wirtschaft – führt unweigerlich zur Aushöhlung der Demokratie und zu einer Zunahme von Ungleichheiten und Ausgrenzung mit allen damit verbundenen Folgen. Das Streikrecht ist eine Kontrolle dieser Machtkonzentration.

Ich bedaure die verschiedenen Versuche, das Streikrecht auf nationaler und multilateraler Ebene auszuhöhlen. In diesem Zusammenhang begrüße ich die positive Rolle, die die Regierungsgruppe der IAO bei der Wahrung des Streikrechts spielt, indem sie anerkennt, dass “ohne den Schutz des Streikrechts die Vereinigungsfreiheit, insbesondere das Recht, Tätigkeiten zur Förderung und zum Schutz der Arbeitnehmerinteressen zu organisieren, nicht voll verwirklicht werden kann”.

Ich fordere alle Beteiligten auf, dafür zu sorgen, dass das Streikrecht weltweit und in allen Bereichen uneingeschränkt gewahrt und respektiert wird.”

Der Zusammenhang zwischen Streik und Demokratie wurde von Jeffry Vogt, Janice Bellace, Lance Compa, K. D. Ewing, Lord Hendy QC, Klaus Lörcher und Tonia Novitz weiter ausgeführt[15].

  1. Das Urteil verkennt, dass der Streik auf Verhandlungen und Tarifverhandlungen abzielt und dass es das Recht auf Tarifverhandlungen ist, das durch die angefochtenen Maßnahmen ebenfalls beschnitten wird[16].
  2. Es sei darauf hingewiesen, dass das Wort “einschließlich” in Artikel 11 § 1 des Übereinkommens zeigt, dass die kurze Aufzählung der dort genannten Unterrechte nicht erschöpfend ist und daher Raum für die Einbeziehung des Streikrechts in diese Aufzählung lässt. Die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Vereinigungsfreiheit in Bezug auf die Frage, ob das Streikrecht ein Bestandteil dieser Freiheit ist, ist sehr restriktiv und widerspricht dem Grundsatz der Effektivität, der verlangt, dass die Rechte weit ausgelegt und angewandt werden sollten, während jede Einschränkung dieser Rechte eng und restriktiv auszulegen ist.
  3. Artikel 8 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1967, ein internationaler Text, der siebzehn Jahre jünger ist als die Konvention, übernimmt in seinem Absatz 2 wörtlich den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 der Konvention und sieht in Absatz 1 Buchstabe d ausdrücklich vor, dass sich die Vertragsstaaten verpflichten, das Streikrecht zu gewährleisten (siehe auch Randnummer 53 des vorliegenden Urteils). Darüber hinaus wurde Artikel 22 Absatz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966, obwohl er nicht ausdrücklich ein Streikrecht vorsieht, vom UN-Menschenrechtsausschuss so ausgelegt, dass er ein solches Recht vorsieht (siehe auch Randnummer 54 des vorliegenden Urteils). Wie in Randnummer 62 des vorliegenden Urteils festgestellt wird, hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte unter Berufung auf internationales Material erklärt, dass das Streikrecht als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts angesehen werden könne, da es ein “wesentlicher Bestandteil” der Vereinigungsfreiheit und der Organisationsfreiheit sei. Er hat jedoch die Auffassung vertreten, dass die Ausübung des Streikrechts eingeschränkt oder verboten werden kann, allerdings nur im Falle von Beamten, die als Teil der öffentlichen Gewalt dienen und im Namen des Staates Befugnisse ausüben, sowie von Beschäftigten in wesentlichen Diensten (ebd.). Vogt, Bellace, Compa, Ewing, Lord Hendy, Lörcher und Novitz sprechen sich mit überzeugenden Argumenten dafür aus, dass das Streikrecht als Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist[17].

Ich bin daher der Ansicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte denselben Ansatz wie der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verfolgen sollte. Wenn das Streikrecht ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts ist – was es meines Erachtens ist -, dann sollte es als solcher betrachtet und von allen internationalen und nationalen Gerichten respektiert werden. Schließlich ist das Übereinkommen Teil des Völkerrechts und sollte im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts ausgelegt werden, was eine Funktion oder ein Aspekt des Grundsatzes der Wirksamkeit ist.

  1. Darüber hinaus erinnert der Ausschuss der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinen Bemerkungen zu den Verpflichtungen Deutschlands aus den (von Deutschland ratifizierten) Übereinkommen Nr. 87 und 98 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes bzw. über das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kollektivverhandlungen u. a. daran, dass alle Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes mit Ausnahme derjenigen, die in der Verwaltung des Staates tätig sind, das Recht auf Kollektivverhandlungen und insbesondere auf Streik haben sollten (siehe Randnr. 56 des Urteils).
  2. Der Europäische Gewerkschaftsbund, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft haben als Streithelfer im Verfahren vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass ein absolutes Streikverbot für alle Beamten und insbesondere für Lehrer, die keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen, allein aufgrund ihres Status gegen Artikel 11 der Konvention verstößt (siehe Randnummer 95 des Urteils), und damit faktisch das Streikrecht als wesentliches Element des Rechts auf Vereinigungsfreiheit angesehen.
II. Die kritischen Passagen des Urteils, gegen die ich mich wende
  1. Die kritischen oder entscheidenden Passagen des Urteils, gegen die sich meine Ablehnung richtet, sind die Randnummern 114-115, die wie folgt lauten:

“114. Die Regierung argumentierte, dass die angefochtenen Maßnahmen gemäß dem ersten Satz von Artikel 11 § 2 gerechtfertigt seien, da sie insbesondere dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienten. Die Regierung erklärte, dass sie sich nicht in erster Linie auf den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 stütze (siehe Absatz 85 oben). Unter diesen Umständen hält es der Gerichtshof nicht für notwendig, zu bestimmen, ob die Beschwerdeführer als Lehrer mit Beamtenstatus als “Mitglieder der Staatsverwaltung” im Sinne von Artikel 11 § 2 im engeren Sinne bezeichnet werden können, eine Frage, die der Gerichtshof in der Rechtssache Vogt offen gelassen hat (siehe Vogt gegen Deutschland, 26. September 1995, § 68, Serie A Nr. 323). Der Gerichtshof weist jedoch erneut darauf hin, dass der Begriff “Verwaltung des Staates” im Lichte des Amtes, das der betreffende Beamte innehat, eng auszulegen ist (siehe Vogt, a.a.O., § 67; Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani gegen Italien, Nr. 35972/97, § 31, ECHR 2001-VIII; und Demir und Baykara, a.a.O., §§ 97 und 107).

  1. Um nach Artikel 11 § 2 Satz 1 gerechtfertigt zu sein, muss der beanstandete Eingriff nachweislich “gesetzlich vorgeschrieben” sein, ein oder mehrere legitime Ziele verfolgen und “in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” sein, um diese Ziele zu erreichen. Um als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft zu gelten, muss nachgewiesen werden, dass der Eingriff einem “dringenden sozialen Bedürfnis” entspricht, dass die von den nationalen Behörden zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe stichhaltig und ausreichend sind und dass der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht. Es muss ein gerechter Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft als Ganzes gefunden werden (vgl. Association of Academics, a.a.O., § 25).”
III. Kein absolutes Verbot kann als eine Beschränkung behandelt werden, die in den Anwendungsbereich des ersten Satzes von Artikel 11 Absatz 2 fällt
  1. Das Urteil erkennt zwar an, dass das Streikverbot für Beamte, einschließlich verbeamteter Lehrer, wie es die Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt in der vorliegenden Rechtssache waren, ein absolutes, totales und allgemeines Verbot des Rechts auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit darstellt, das nur auf dem Status von Personen als Beamte beruht, lässt jedoch außer Acht, dass ein solches Verbot naturgemäß keine Ausnahmen zulässt und unabhängig von den Tatsachen und Umständen des Falles keiner Verhältnismäßigkeits- oder Abwägungsprüfung unterzogen werden kann oder muss. Ein absolutes oder pauschales Verbot ist ein bedingungsloses Verbot und ist seinem Wesen nach der Inbegriff von Unflexibilität, ja von extremer Unflexibilität, die keinen Raum für Ausnahmen oder eine Interessenabwägung lässt. Ein pauschales Verbot ist ein umfassendes und vollständiges Verbot, das ausnahmslos alle mit dem Gegenstand zusammenhängenden Aspekte oder Elemente einbezieht. Folglich verkennt das Urteil, dass ein solches absolutes Verbot automatisch gegen Artikel 11 § 1 der Konvention verstößt, ohne dass eine weitere Prüfung nach Artikel 11 § 2 erforderlich wäre. Ein absolutes Verbot, eine absolute Beschränkung oder ein absolutes Verbot kommt einer vollständigen Verneinung des betreffenden Rechts gleich. Stattdessen betrachtet das Urteil das Streikverbot für Beamte als eine Beschränkung, die unter Artikel 11 § 2 Satz 1 der Konvention fällt, und prüft es anhand der Anforderungen dieser Bestimmung (siehe Randnummern 113-147).
  2. Eine solche Behandlung eines absoluten und totalen Verbots ist daher begrifflich falsch und führt zu einer völlig fehlerhaften Auslegung und Anwendung von Artikel 11, die dem Grundsatz des wirksamen Schutzes des betreffenden Rechts, dem Effektivitätsgrundsatz, zuwiderläuft, der gegen jede Inflexibilität und jeden Formalismus spricht. So macht es beispielsweise keinen Sinn, die Notwendigkeit eines absoluten Verbots in einer demokratischen Gesellschaft anhand der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu prüfen, wie es das Urteil in den Randnummern 119-147 tut, wenn ein solches Verbot seiner Natur nach dieser Prüfung nicht standhalten kann. Einfacher ausgedrückt: Die völlige Verneinung eines Rechts, wie sie das absolute Verbot im vorliegenden Fall bewirkt, kann ihrer Natur nach nicht verhältnismäßig sein. Da mit einem absoluten Verbot keine Verhältnismäßigkeitsprüfung verbunden werden kann, ist es meiner bescheidenen Meinung nach nicht nur irrelevant, sondern auch nicht sinnvoll, dass sich das Urteil überhaupt mit dem Recht der Beamten auf einen angemessenen Unterhalt durch den Staat (“Alimentationsprinzip”, vgl. Randnrn. 43-46 des Urteils) und die anderen den Beamten zuerkannten Rechte (vgl. Randnrn. 133-138 des Urteils) zu behandeln und anschließend diese Rechte, die zu statusbezogenen Leistungen und Vorteilen führen, als geeignet zu betrachten, das absolute Verbot auszugleichen. Auf jeden Fall verstößt ein absolutes Streikverbot unmittelbar und automatisch gegen das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und lässt keinen Raum für eine weitere Prüfung und Bewertung.

Ich behaupte, dass der Effektivitätsgrundsatz durch seine abwehrende Wirkung als Immunsystem des Rechts aus Artikel 11 § 1 fungiert. Er verhindert, dass ein absolutes Verbot einen Platz oder eine Präsenz im ersten Satz von Artikel 11 § 2 findet, sondern behandelt ein solches Verbot als Krankheitserreger oder Parasit.

  1. Der Gerichtshof kann und sollte nicht versuchen, die Natur eines absoluten Verbots, einer totalen Verneinung, die gegen Artikel 11 verstößt, zu verändern, indem er es als eine Beschränkung oder Einschränkung behandelt, die unter den ersten Satz von Artikel 11 § 2 fällt. Ein solcher Ansatz ist nicht nur begrifflich falsch, sondern auch unpragmatisch.
  2. Eine weitere Feststellung in dem Urteil, die für mich wirklich problematisch ist, ist, dass der Gerichtshof in Randnummer 144, nachdem er bekräftigt hat, “dass die angefochtene Einschränkung des Streikrechts von Beamten, einschließlich Lehrern mit diesem Status, wie den Klägern im vorliegenden Fall, schwerwiegend war”, feststellt:

“Das Streikrecht ist zwar ein wichtiges Element der Gewerkschaftsfreiheit, doch ist der Streik nicht das einzige Mittel, mit dem die Gewerkschaften und ihre Mitglieder die einschlägigen beruflichen Interessen schützen können, und es steht den Vertragsstaaten grundsätzlich frei zu entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um die Einhaltung von Artikel 11 zu gewährleisten, solange dadurch sichergestellt wird, dass die Gewerkschaftsfreiheit nicht durch etwaige Beschränkungen ihrer Substanz beraubt wird (siehe oben, Randnr. 128).”

Es fällt mir wirklich sehr schwer zu akzeptieren, dass die Wahl der Mittel zur Ausübung eines Menschenrechts oder einer Grundfreiheit nicht vom Willen des Trägers des betreffenden Rechts oder der betreffenden Freiheit abhängen soll, sondern vom Willen (“Freiheit”) des Vertragsstaates. Die in der Konvention geschützten Menschenrechte und Grundfreiheiten sind für den Einzelnen und nicht für die Staaten bestimmt. Aus demselben Grund und in Anbetracht all dessen, was ich in dieser Stellungnahme dargelegt habe, kann ich mich der Schlussfolgerung des Urteils (Ziffer 147) nicht anschließen:

“Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass die gegen die Antragsteller ergriffenen Maßnahmen den dem beklagten Staat unter den Umständen des vorliegenden Falles eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten haben und nachweislich in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten wichtigen legitimen Ziel stehen. Folglich liegt keine Verletzung von Artikel 11 der Konvention vor.”

Im Gegensatz zu den Ausführungen in Randnummer 147 des Urteils kann, wie oben erläutert, ein absolutes Streikverbot nicht im Rahmen von Artikel 11 § 2 Satz 1 geprüft werden; daher steht dem beklagten Staat kein Ermessensspielraum für eine solche Entscheidung nach dieser Bestimmung zu.

  1. Selbst wenn ich der Ansicht des Gerichtshofs folgen würde, dass der Charakter des Streikrechts als wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit kontextspezifisch ist, würde ich wiederum mit seinem Ansatz, das absolute Verbot innerhalb des ersten Satzes von Artikel 11 § 2 zu prüfen, nicht einverstanden sein, weil ein solcher Ansatz es nicht ermöglichen kann, ein absolutes Streikverbot zu prüfen, als ob es eine Beschränkung oder Einschränkung wäre, die unter diesen ersten Satz fällt; es ist das absolute Verbot, das keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Artikel 11 § 2 Satz 1 unterzogen werden kann, und nicht der Charakter des Streikrechts als wesentlicher Bestandteil des Rechts auf Vereinigungsfreiheit.
IV. Was hat den Gerichtshof dazu veranlasst, den vorliegenden Fall nur unter Berufung auf Artikel 11 § 2 Satz 1 zu entscheiden?
  1. Zur Analyse des oben zitierten Absatzes 114 des Urteils: Der Gerichtshof sagt dort, dass er “es nicht für notwendig hält, zu bestimmen, ob die Kläger als verbeamtete Lehrer als ‘Mitglieder der Staatsverwaltung’ im Sinne von Artikel 11 § 2 im engeren Sinne bezeichnet werden können”, weil “die Regierung [hatte] argumentiert, dass die angefochtenen Maßnahmen gemäß dem ersten Satz von Artikel 11 § 2 gerechtfertigt waren, da sie insbesondere dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienten”, und weil “die Regierung [hatte] erklärt, dass sie sich nicht in erster Linie auf den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 stützte”. Im nächsten Satz des Urteils bekräftigte der Gerichtshof jedoch, “dass der Begriff ‘Verwaltung des Staates’ im Lichte des Amtes, das der betreffende Beamte innehat, eng auszulegen ist”.
  2. Bei allem Respekt, die obigen Argumente sind nicht überzeugend, um zu erklären, warum der Gerichtshof den vorliegenden Fall nur unter Berufung auf den ersten Satz von Artikel 11 § 2 entschieden hat. Die Regierung hat nicht argumentiert, dass sie sich überhaupt nicht auf den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 stützt. Sie hat vielmehr argumentiert, dass sie sich nicht in erster Linie auf diesen zweiten Satz stützt, was bedeutet, dass sie sich in gewissem Maße auch auf diesen Satz stützt. Wichtig ist, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung vom 12. Juni 2018 eindeutig sowohl auf den ersten als auch auf den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 gestützt hat. Dies geht aus Randnummer 176 der genannten Entscheidung hervor:

“Unabhängig von der Frage, ob das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte einen Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK darstellt, ist es in jedem Fall nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Buchst. aa) und Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK (bb) aufgrund der Besonderheiten des deutschen Systems des Berufsbeamtentums gerechtfertigt.”

  1. Der Gerichtshof beschloss, die Frage gemäß Artikel 11 § 2 Satz 1 zu prüfen, wobei er den Standpunkt der Regierung akzeptierte, dass die angefochtenen Maßnahmen gemäß diesem Satz 1 gerechtfertigt waren, da sie legitime Ziele verfolgten und insbesondere dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer und einer guten Verwaltung dienten (siehe Randnummern 114, 118 und 136 des Urteils).
  2. Der Gerichtshof hat es vermieden, die Frage auch nach Artikel 11 § 2 Satz 2 zu prüfen, und gleichzeitig seine Schwierigkeit gezeigt, zu akzeptieren, dass die Maßnahme unter diesen Satz 2 fallen könnte, wenn er dies hätte feststellen müssen. Diese Schwierigkeit spiegelt sich in den folgenden Worten des Gerichtshofs wider: “Der Gerichtshof weist jedoch erneut darauf hin, dass der Begriff ‘Verwaltung des Staates’ [in Artikel 11 § 2 in fine] im Lichte des Amtes, das der betreffende Beamte innehat, eng auszulegen ist” (siehe Randnummer 114 des Urteils).
  3. Bei allem Respekt, da der Gerichtshof die Frage anhand des ersten Satzes von Artikel 11 § 2 geprüft hat, war ein solcher Ansatz absolut falsch, und es besteht keine Notwendigkeit, noch einmal auf das einzugehen, was oben unter Teil III dieser Stellungnahme gesagt wurde, nämlich dass kein absolutes Verbot als eine Beschränkung behandelt werden kann, die in den Geltungsbereich des ersten Satzes von Artikel 11 § 2 fällt.
V. Ob ein absolutes Verbot, wie das Streikverbot für Beamte, in den Anwendungsbereich von Artikel 11 § 2 in fine fallen kann
  1. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass “wir bisher wussten, dass die Konvention einige absolute Rechte vorsieht, aber keine absoluten Einschränkungen. Eine absolute Einschränkung führt zum Tod eines Rechts oder zu gar keinem Recht”[18]. In der gesamten Konvention und den dazugehörigen Protokollen findet sich jedoch eine einzige absolute Einschränkung, die die einzige zu sein scheint, nämlich die in Artikel 11 § 2 Satz 2 vorgesehene.
  2. Meines Erachtens kann ein absolutes Verbot unter zwei Bedingungen unter den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 fallen: (a) wenn es “rechtmäßig” ist; und (b) wenn es sich um die “Auferlegung rechtmäßiger Beschränkungen der Ausübung dieser Rechte durch Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung” handelt.
  3. Ein solches Verbot kann, wenn es rechtmäßig ist, ein absolutes Verbot innerhalb des Ermessensspielraums des betreffenden Mitgliedstaates sein, da im Gegensatz zum ersten Satz von Artikel 11 § 2 die Beschränkungen gemäß dem zweiten Satz nicht “in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” sein müssen (ein Satz, der im zweiten Satz von Artikel 11 § 2 fehlt) und daher kein Erfordernis der Verhältnismäßigkeit mit sich bringen. Das Wort “rechtmäßig” in Artikel 11 § 2 bedeutet im Klartext, dass “eine Beschränkung nur eine Grundlage im nationalen Recht haben muss und … [beinhaltet] nicht auch das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit”[19]. Wenn das Erfordernis der Erforderlichkeit auch für den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 gelten würde, dann wäre dieser Satz obsolet, da er nichts zum ersten Satz hinzufügt oder von ihm unterscheidet. Es wurde jedoch auch argumentiert, dass “die bloße Tatsache, dass sie zu den betreffenden Kategorien gehören [d. h. Bürger, die zu einer der drei Kategorien in Artikel 11 § 2 in fine gehören], nicht bedeutet, dass eine Beschränkung per se als gerechtfertigt angesehen werden muss”[20]. Im Gegensatz zu dieser Ansicht ist es für mich klar, dass die Vertragsparteien der Konvention nicht daran gehindert sind, Mitgliedern der drei in Artikel 11 § 2 Satz 2 genannten Kategorien rechtmäßige Beschränkungen der Ausübung ihrer Rechte nach Artikel 11 § 1 aufzuerlegen, selbst wenn dies ein absolutes Verbot bedeutet. Es ist natürlich eine andere Frage, ob ein demokratischer und sozialer Staat es 73 Jahre nach Inkrafttreten der Konvention für angemessen halten sollte, sein Ermessen auszuüben, um den Mitgliedern der drei betroffenen Kategorien eine Beschränkung in Form eines generellen Verbots aufzuerlegen.
  4. Somit ist der zweite Satz von Artikel 11 § 2 lex specialis im Verhältnis zu seinem ersten Satz: Er ist eine Ausnahme von seinem ersten Satz, also eine Ausnahme von einer Ausnahme vom Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, da er nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegt.

VI. Schließen sich der erste und der zweite Satz von Artikel 11 § 2 gegenseitig aus?

  1. Meines Erachtens schließen sich der erste und der zweite Satz von Artikel 11 § 2 gegenseitig aus. Ein absolutes Verbot, das in den Anwendungsbereich von Artikel 11 § 2 in fine fällt, kann nicht gleichzeitig in den Anwendungsbereich von Artikel 11 § 2 Satz 1 fallen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist Artikel 11 § 2 in fine, wie bereits gesagt, lex specialis in Bezug auf Artikel 11 § 2 Satz 1, und daher können sie in Bezug auf denselben Sachverhalt nicht nebeneinander bestehen; und zweitens, weil ein absolutes Verbot seiner Natur nach nicht gleichzeitig eine Beschränkung sein kann, die in den Anwendungsbereich von Artikel 11 § 2 Satz 1 fällt, der solche pauschalen Verbote nicht zulässt.
  2. Es ist ein logischer Irrtum und verstößt gegen den fundamentalen aristotelischen Grundsatz des Nicht-Widerspruchs[21], das gegenteilige Argument vorzubringen – ein Argument, das die Regierung, der Gerichtshof und das deutsche Bundesverfassungsgericht zu akzeptieren scheinen -, dass die Frage sowohl unter Artikel 11 § 2 Satz 1 als auch unter Satz 2 fallen kann (unabhängig von der Frage, ob sie primär unter Artikel 11 § 2 Satz 1 und sekundär unter Satz 2 fällt).
VII. Ob die streitigen Maßnahmen nach Artikel 11 § 2 in fine gerechtfertigt werden können
  1. Die angefochtenen Maßnahmen könnten nur dann nach Artikel 11 § 2 Satz 2 gerechtfertigt sein, wenn sie (a) rechtmäßig wären und (b) Angehörige einer der drei in dieser Bestimmung genannten Gruppen beträfen, nämlich der Streitkräfte, der Polizei oder der Verwaltung des Staates.
  2. Die erste Voraussetzung (Rechtmäßigkeit) braucht nicht geprüft zu werden, da die zweite Voraussetzung (Zugehörigkeit zu einer der drei Gruppen), wie noch zu erläutern sein wird, im vorliegenden Fall nicht zutrifft.
  3. Da es sich bei den Klägern im vorliegenden Fall um verbeamtete Lehrer an staatlichen Schulen handelt, gehören sie weder den Streitkräften noch der Polizei an, und es stellt sich die Frage, ob sie Mitglieder der staatlichen Verwaltung sind. Der Gerichtshof weist in Randnummer 114 des vorliegenden Urteils, wie oben zitiert, erneut darauf hin, dass der Begriff ³eStaatsverwaltung³c im Lichte des Amtes, das der betreffende Beamte innehat, eng und restriktiv auszulegen ist, und verweist auf seine frühere einschlägige Rechtsprechung[22].
  4. Dies steht absolut im Einklang mit dem Grundsatz der Effektivität, der, wie bereits erwähnt, eine weite Auslegung des betreffenden Rechts und eine enge und restriktive Auslegung seiner Beschränkungen oder Einschränkungen erfordert. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in der Rechtssache Demir und Baykara (oben zitiert) festgestellt, dass “Einschränkungen von Rechten restriktiv ausgelegt werden müssen, und zwar so, dass die Menschenrechte praktisch und wirksam geschützt werden” (ebd., § 146). Zu diesem Punkt argumentiert Professor Schabas treffend[23]:

“…der Begriff der ‘Verwaltung des Staates’ ist eng auszulegen und die Position des Opfers einer Verletzung von Artikel 11(1) sorgfältig zu prüfen, um festzustellen, ob sie unter die Ausnahme des letzten Satzes von Artikel 11(2) fällt. So sind beispielsweise Lehrer zwar öffentlich Bedienstete, werden aber nicht als Teil der ‘Verwaltung des Staates’ angesehen.”

  1. Zweifellos wäre eine Auslegung der “Mitglieder der Staatsverwaltung”, die unterschiedslos alle Beamten eines Landes umfasst, nicht nur eine nicht enge, sondern sogar eine sehr weite Auslegung. Darüber hinaus würde eine solche Auslegung sowohl der wörtlichen als auch der teleologischen Auslegung des letzten Satzes von Artikel 11 § 2 und von Artikel 11 in seiner Gesamtheit zuwiderlaufen, denn wenn die Verfasser des Übereinkommens beabsichtigt hätten, dass der letzte Satz von Artikel 11 § 2 alle Beamten erfassen sollte, würden sie dies nicht unter dem Begriff “Verwaltung des Staates” andeuten, sondern dies vielmehr klar zum Ausdruck bringen. Wenn dieser Satz für alle Staatsbediensteten gelten würde, wäre es im Übrigen nicht notwendig, sich speziell auf drei bestimmte Kategorien zu beziehen. Aus dem zweiten Satz von Artikel 11 § 2 geht somit klar hervor, dass es kein absolutes Verbot gemäß Artikel 11 für Beamte geben sollte, die nicht zu den drei dort genannten Kategorien gehören, nämlich Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung, und daher wäre die Auslegung und Anwendung dieses Satzes als Auferlegung eines absoluten Verbots für alle Beamten eine contra legem-Auslegung und -Anwendung des Übereinkommens, die gegen den Grundsatz der Effektivität und Artikel 11 verstößt. Darüber hinaus wäre es absurd, den Anwendungsbereich von Artikel 11 § 2 Satz 2 auf alle Beamten auszudehnen, während sein Text seine Anwendung ausdrücklich nur auf die drei Kategorien beschränkt.
  2. In diesem Zusammenhang ist das Argument der Kläger in Randnummer 79 des Urteils gut zusammengefasst und sehr überzeugend:

“Die Ausübung der öffentlichen Gewalt im Namen des Staates sei das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Vereinbarkeit eines Streikverbots mit Artikel 11 der Konvention. Beamten könne das Recht auf Tarifverhandlungen und damit zusammenhängende Arbeitskampfmaßnahmen nur dann verweigert werden, wenn sie öffentliche Gewalt ausübten; für diejenigen, die keine öffentliche Gewalt ausübten, könnten keine Einschränkungen vorgenommen werden. Der Gerichtshof hatte zuvor festgestellt, dass ein Streikverbot nicht für alle Kategorien von Beamten gelten darf (sie verwiesen auf Enerji Yapı-Yol Sen gegen die Türkei, Nr. 68959/01, § 32, 21. April 2009) und dass verbeamtete Lehrer nicht zu den Kategorien gehören, für die das Streikrecht eingeschränkt werden kann (sie verwiesen auf Kaya und Seyhan gegen die Türkei, Nr. 30946/04, 15. September 2009; Urcan und andere gegen die Türkei, Nr. 23018/04 und 10 andere, 17. Juli 2008; Saime Özcan gegen die Türkei, Nr. 22943/04, 15. September 2009; und İsmail Sezer gegen die Türkei, Nr. 36807/07, 24. März 2015). Die Abschaffung des Rechts auf Tarifverhandlungen und des Streikrechts für alle Beamten, unabhängig davon, ob sie öffentliche Gewalt ausüben, und die Reduzierung dieser Rechte auf ein bloßes Recht auf Organisation und Konsultation wäre mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs und dem internationalen Arbeitsrecht unvereinbar. Mehrere internationale Gremien hatten sich besorgt über das in Deutschland geltende Streikverbot für Beamte geäußert, die keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen. Solche Beamten haben in anderen Vertragsstaaten der Konvention ein Streikrecht.”

  1. Auf der Grundlage der obigen Ausführungen wäre eine Auslegung von Artikel 11 § 2 in fine, die unter den Begriff “die Verwaltung des Staates” alle Beamten fallen ließe, nicht nur eine sehr weite Auslegung, die zu unangemessenen und absurden Ergebnissen führen würde, sondern sie würde auch dem Grundsatz der Wirksamkeit, einschließlich seines Aspekts des effet utile, sowie den lateinischen Konstruktionsmaximen, nämlich noscitur a sociis und ejusdem generis, zuwiderlaufen.
  2. Da Artikel 11 § 2 Satz 2 eine Ausnahme von einer Ausnahme ist, nämlich von Artikel 11 § 2 Satz 1, sollte der Aspekt oder die Funktion des Effektivitätsgrundsatzes, der verlangt, dass Beschränkungen oder Begrenzungen von Rechten eng und restriktiv auszulegen sind, im Fall der in Artikel 11 § 2 Satz 2 vorgesehenen Beschränkung mit noch größerer Strenge und äußerster Vorsicht gelten als im Fall der in Satz 1 vorgesehenen Beschränkung.
  3. Sara Jötten und Felix Machts bemerken in der Schlussfolgerung ihres einschlägigen Artikels[24], dass:

“Es ist zu fragen, ob der EGMR die Besonderheiten des deutschen Beamtentums, auf die das BVerfG häufig verweist, für ausreichend hält, um zu erklären, warum das Streikverbot für Beamte, die nicht ‘in der Verwaltung des Staates als solcher tätig’ sind, in der Türkei eine Menschenrechtsverletzung darstellt [offenbar unter Bezugnahme auf das oben zitierte Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache Demir und Baykara gegen die Türkei], während gleichzeitig das Streikverbot das identische Menschenrecht der Lehrer, die in Deutschland den Status von Beamten haben, nicht verletzen soll. Es bleibt zu hoffen, dass die Antwort eines Tages in Straßburg gegeben wird, und unabhängig vom Ergebnis wird sie einen Weg bieten, den deutschen öffentlichen Dienst ein für allemal zu stabilisieren oder zu verändern.”

Meiner bescheidenen Meinung nach lässt sich die unterschiedliche Behandlung und Schlussfolgerung des vorliegenden Falles im Vergleich zu Demir und Baykara (siehe oben) in keiner Weise rechtfertigen. Es geht nicht so sehr um irgendwelche Besonderheiten des deutschen öffentlichen Dienstes, sondern vielmehr um die kohärente Auslegung und Anwendung von Artikel 11 auf diese beiden Fälle. Anders ausgedrückt: Es darf keine doppelten Standards oder Maßnahmen geben. Bei allem Respekt, in Anbetracht der in der vorliegenden Stellungnahme dargelegten Argumente ist das Urteil des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache nicht der beste Weg, um den deutschen öffentlichen Dienst ein für alle Mal zu “stabilisieren”.

VIII. Der Gerichtshof hätte die Frage nicht gemäß Artikel 11 § 2 Satz 1 behandeln dürfen, ohne vorher zu entscheiden, dass sie nicht unter Artikel 11 § 2 fällt
  1. Ungeachtet der oben dargelegten stichhaltigen Argumente, nämlich dass die Frage weder unter den ersten noch unter den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 fällt, und ungeachtet der impliziten Andeutung des Gerichtshofs, dass die Frage möglicherweise nicht unter den zweiten Satz fällt, weil Beschränkungen eng auszulegen sind, hätte der Gerichtshof den Fall zunächst unter dem Blickwinkel des zweiten Satzes von Artikel 11 § 2 prüfen müssen, was er nicht getan hat. Das hätte bedeutet, die Tatsache zu berücksichtigen, dass für jeden Satz von Artikel 11 § 2 unterschiedliche Erwägungen gelten, und die Tatsache, dass der zweite Satz spezifischer ist als der erste, sowie, wie bereits gesagt, die Tatsache, dass der zweite Satz eine Ausnahme von einer Ausnahme darstellt.
  2. Wie oben dargelegt, ist es widersprüchlich, dass das Urteil, obwohl es den absoluten Charakter des Verbots anerkennt, es dennoch als nicht absolut behandelt, indem es es anhand des ersten Satzes von Artikel 11 § 2 geprüft wird. Abgesehen davon ist es auch paradox und unsinnig, dass das Urteil, anstatt das absolute Verbot anhand des zweiten Satzes von Artikel 11 § 2 zu prüfen, wo ein absolutes Verbot einen Platz haben könnte, wenn es unter eine der drei Beamtenkategorien fallen würde, dazu übergeht, es anhand des ersten Satzes von Artikel 11 § 2 zu prüfen, wo ein absolutes Verbot keinen Platz hat.
  3. Wenn ein absolutes Verbot im Rahmen des zweiten Satzes von Artikel 11 § 2 in Bezug auf Beamte, die nicht zu den drei in diesem Satz ausdrücklich genannten Kategorien gehören, nicht gerechtfertigt werden kann, ist es völlig klar, dass es im Rahmen des ersten Satzes von Artikel 11 § 2, der keine absoluten Verbote zulässt, nicht gerechtfertigt werden kann.
  4. Bedauerlicherweise hat der Gerichtshof erneut[25] eine wichtige Frage offen gelassen, nämlich die, ob verbeamtete Lehrer als Teil der “Verwaltung des Staates” angesehen werden.
IX. Nichtbeachtung des Grundsatzes der externen Kohärenz mit dem Völkerrecht und der internationalen Praxis
  1. Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich betonen, dass Artikel 11 des Übereinkommens nach dem Grundsatz der äußeren Kohärenz oder Harmonie – einem Aspekt des Effektivitätsgrundsatzes – zu lesen ist, was bedeutet, dass das Übereinkommen im Einklang mit dem Völkerrecht, zu dem es gehört, ausgelegt werden muss[26]. Das Urteil, das im Abschnitt “II. Internationales Recht und Praxis” (siehe Randnrn. 51-64) auf eine Vielzahl von internationalen Texten und Materialien. Sie stützen jedoch nicht nur nicht den Ansatz, den der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache verfolgt, sondern der Ansatz des Gerichtshofs steht im Gegenteil nicht im Einklang mit ihnen. Insbesondere steht der Ansatz des Gerichts, wie auch die Kläger und die in Randnummer 14 der vorliegenden Stellungnahme genannten Streithelfer vorgetragen haben, nicht im Einklang mit Artikel 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR – siehe Randnummer 54 des Urteils), Artikel 8 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR – siehe Randnummer 53 des Urteils) und dem Recht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO – siehe Randnummern 55 und 56 des Urteils), Artikel 6 § 4 der Europäischen Sozialcharta (siehe Rdnrn. 57-60 des Urteils) und Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (siehe Rdnr. 61 des Urteils), wie sie von den zuständigen Kontrollorganen ausgelegt werden, oder mit der Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der vor kurzem feststellte, dass das Streikrecht einen “allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts” darstellt (siehe Rdnr. 62 des Urteils), und argumentierte, dass das Streikrecht als wesentlicher Bestandteil der Vereinigungsfreiheit anerkannt werden sollte.
  2. Bedauerlicherweise verweist der Gerichtshof im Teil “Recht” seines Urteils zwar auf das Völkerrecht und die internationale Praxis, versäumt es jedoch, diese zu erörtern und zu berücksichtigen, wenn er sich später mit der Begründetheit des Falles befasst, und wählt schließlich einen Ansatz, der mit diesen Grundsätzen unvereinbar ist.
Schlussfolgerung
  1. Zusätzlich zu meiner Auffassung, dass das Streikrecht ein wesentliches Element des Rechts auf Vereinigungsfreiheit ist, kann der Schluss gezogen werden, dass die angefochtenen Maßnahmen gegen die Antragsteller nach keinem der beiden Sätze von Artikel 11 § 2 gerechtfertigt werden können und dass sie daher gegen Artikel 11 § 1 der Konvention verstoßen.
  2. Insbesondere können die angefochtenen Maßnahmen nicht nach Artikel 11 § 2 Satz 1 gerechtfertigt werden, weil sie auf einem absoluten Verbot beruhen, das in diesem Satz keinen Platz hat, und sie können nicht nach Artikel 11 § 2 Satz 2 gerechtfertigt werden, weil sie nicht die Mitglieder einer der drei dort genannten Gruppen betreffen.
  3. Da das fragliche absolute Verbot weder unter den ersten noch unter den zweiten Satz von Artikel 11 § 2 fiel, stand es unmittelbar dem fraglichen Recht gegenüber, das durch Artikel 11 § 1 geschützt wird, der für “jedermann” und somit auch für Beamte gilt (siehe auch Artikel 14 des Übereinkommens über das Verbot der Diskriminierung). Anders ausgedrückt, das fragliche absolute Verbot, das unter keinen der beiden Sätze von Artikel 11 § 2 fällt und unflexibel ist, hat per se und automatisch das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unwirksam gemacht und daher Artikel 11 § 1 der Konvention verletzt.
  4. Meiner bescheidenen Meinung nach waren der methodische Ansatz, den der Gerichtshof in Bezug auf Artikel 11 verwendet hat, sowie die Auslegung und Anwendung, die er in Bezug auf denselben Artikel vorgenommen hat, fehlerhaft und falsch.
  5. Bei allem Respekt bedauere ich, dass die vier Beschwerdeführer nicht den Schutz der Konvention erhalten haben, den sie verdient hätten, und mit ihnen, zumindest vorläufig, alle Beamten in Deutschland oder anderswo in Europa, die nicht der staatlichen Verwaltung angehören und die ihre Vereinigungsfreiheit und insbesondere ihr Streikrecht in der Gegenwart oder in der Zukunft ausüben wollen. Wie bereits erwähnt, wurde das Recht der Kläger auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nicht nur absolut und vollständig, sondern auch allgemein verboten. In diesem Zusammenhang ist die folgende Bemerkung gerechtfertigt. Die Kombination des Charakters des Verbots als absolutes und allgemeines Verbot, das sich auf alle Beamten und damit auf alle Mitglieder eines Sektors von Arbeitnehmern in der Gesellschaft, nämlich des öffentlichen Sektors im Gegensatz zum privaten Sektor, erstreckt, führt zu den problematischen Folgen eines absoluten Verbots für eine große Zahl von Personen in der Gesellschaft mit der Folge, dass ihre Rechte nach Artikel 11 verletzt werden können. Je allgemeiner die Anwendung eines absoluten Verbots ist, desto größer ist die Zahl der potenziellen Opfer einer Verletzung von Artikel 11.
  6. Das durch Artikel 11 geschützte Recht ist nicht nur ein Bürgerrecht, sondern auch ein soziales Recht mit einem vorherrschenden moralischen Element, das bei seiner Auslegung und Anwendung eine sorgfältige und besondere Prüfung durch den Gerichtshof erfordert.
  7. Mit der gebotenen Bescheidenheit bin ich der Meinung, dass das vorliegende Urteil nicht mit den Grundprinzipien der Konvention, nämlich der Wirksamkeit und der Achtung der Menschenwürde, übereinstimmt und in gewisser Weise einen Rückschlag für die Anwendung der Doktrin darstellt, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, das an die heutigen Bedingungen der Gesellschaft und an die Entwicklung des internationalen Rechts angepasst werden muss. Entgegen der Auffassung der Mehrheit wird der Ansatz des Urteils auch nicht durch das Subsidiaritätsprinzip gestützt, das den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum im Einklang mit dem Hauptziel der Konvention, nämlich dem wirksamen Schutz der Menschenrechte, einräumt.
  8. Das Protokoll Nr. 15 zur Konvention, mit dem der Grundsatz der Subsidiarität in die Präambel der Konvention eingefügt wurde, stärkt diesen Grundsatz, und zwar nicht dadurch, dass der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten weiter gefasst wird als zuvor, sondern im Gegenteil dadurch, dass in der Präambel die eigentliche Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips hervorgehoben wird, nämlich dass die Hauptverantwortung der Mitgliedstaaten unter der Kontrollbefugnis des Gerichtshofs darin besteht, den wirksamen Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten, wodurch sichergestellt wird, dass der Grundsatz der Wirksamkeit nicht nur vom Gerichtshof bei der Ausübung seiner Kontrollbefugnis, sondern auch von den Mitgliedstaaten angewandt wird. In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof in der Rechtssache Grzęda/Polen[27] fest, dass das Subsidiaritätsprinzip eine geteilte oder kollektive Verantwortung zwischen den Vertragsstaaten und dem Gerichtshof vorschreibt und dass die nationalen Behörden und Gerichte das innerstaatliche Recht in einer Weise auslegen und anwenden müssen, die der Konvention volle Wirkung verleiht. Im vorliegenden Fall haben die nationalen Behörden nicht nur ihren Ermessensspielraum überschritten, sondern auch eine völlig falsche methodische Auslegung und Anwendung von Artikel 11 vorgenommen und das einschlägige Völkerrecht ausgeklammert.
  9. Zusammenfassend würde ich feststellen, dass eine Verletzung des Rechts der Beschwerdeführer auf friedliche Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, wie in Artikel 11 § 1 der Konvention vorgesehen, stattgefunden hat. Ich sehe jedoch keine Notwendigkeit, auf die Frage der gerechten Entschädigung einzugehen.

Die Stellungnahme der GEW beginnt erst ab 10:32 Minute

Der Ruf nach Atomwaffen für die EU

10. Dezember 2023 IALANA Submissions View online: Die Internationale der Juristen gegen den Atomkrieg (IALANA) ruft am 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte dazu auf, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NVV) zu stärken und dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten. Sie verurteilt entschieden die jüngsten Erklärungen des ehemaligen Außenministers der GRÜNEN, Joseph Fischer[1]Süddeutsche Zeitung vom 3.12.2023 mit Verweis auf Zeit online vom 3.12.2023, und des Historikers, Herfried Münkler[2]Spiegel vom 29.11.2023. Im Folgenden die Erklärung der IALANA in vollem Wortlaut.

Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet. Seitdem nehmen Menschenrechtsorganisationen diesen Internationalen Gedenktag zum Anlass, die Menschenrechtssituation weltweit kritisch zu betrachten.

In diesem Jahr, in dem sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum 75. mal jährt, richtet sich die Betrachtung natürlich zu allererst auf die Tausende von Zivilpersonen, welche in den laufenden Kriegsgeschehen getötet wurden unter Missachtung des Humanitären Völkerrechts, unter Missachtung des ihnen garantierten Internationalen Menschenrechtes auf Leben.

Es besteht im Hinblick auf die beiden Kriege, die aktuell in der Ukraine und im Gaza-Streifen geführt werden, die berechtigte Sorge, dass diese Konflikte sich nicht nur ausweiten, sondern im schlimmsten Falle sogar in den Einsatz von Atomwaffen münden könnten. Diese Sorge gibt Anlass darauf hinzuweisen, dass nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, sondern bereits dessen Androhung eine Verletzung sowohl des Humanitären Völkerrechts als auch des Menschenrechtes auf Leben bedeutet. Diese Feststellung wurde allen Staaten, die Atomwaffen besitzen oder danach streben, mit einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofes im Jahre 1996 ins Stammbuch geschrieben. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat daran in zahlreichen Resolutionen immer wieder erinnert.

Das Recht auf Leben (Right to Life) ist verankert in Art. 6 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) der lautet: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“ Der Schutzbereich dieses Artikels deckt sich mit dem Ziel des Humanitären Völkerrechts, das Leben der an der Kriegsführung nicht unmittelbar beteiligten Zivilbevölkerung zu schonen.

Die Tragweite des Right to Life-Schutzbereichs wird präzisiert und ausgelegt durch ein von den Vereinten Nationen eingesetztes Kontrollorgan, welches die Umsetzung und Einhaltung des UN-Zivilpaktes durch die Vertragsstaaten überwacht: den UN-Menschenrechtsausschuss (CCPR).

Das CCPR hat in einer Allgemeinen Bemerkung zum Recht auf Leben (General Comment Nr. 36 vom 30. Oktober 2018) nicht nur die Feststellungen des IGH bekräftigt, sondern darüber hinaus für alle Staaten, die dem Vertrag beigetreten sind, verbindlich festgestellt, – dass sie alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um die Verbreitung von Atomwaffen – wie aller anderen Massenvernichtungswaffen – zu stoppen,
– dass sie es unterlassen müssen, solche Waffen zu entwickeln, zu produzieren, zu testen, zu erwerben, zu lagern, zu verkaufen, zu übertragen und zu nutzen,
– dass sie alle bestehenden Lagerbestände vernichten und angemessene Schutzmaßnahmen gegen unbeabsichtigte Verwendung treffen müssen, sowie unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle ihren Abrüstungsverpflichtungen nachkommen müssen, und
– Opfern, deren Recht auf Leben durch die Erprobung oder den Gebrauch von Atomwaffen beeinträchtigt wurde, angemessene Wiedergutmachung leisten müssen.

Vor dem dargestellten Hintergrund sind die in jüngster Zeit von zwei prominenten Persönlichkeiten (H. Münkler und J. Fischer) verlautbarten Empfehlungen, die Europäische Union möge sich zu Zwecken der Abschreckung mit Atomwaffen ausrüsten, schlichtweg empörend; denn sie zielen auf eine eklatante Verletzung von Völkerrecht ab. Die Mitgliedstaaten der EU sind in mehrfacherweise an die Gebote und Verbote des Humanitären Völkerrechts und der im Zivilpakt verankerten Menschenrechte gebunden: Sie sind alle dem UN-Zivilpakt beigetreten, und sie haben sich zusätzlich im EU-Vertrag verpflichtet, das Völkerrecht zu respektieren und insbesondere die Menschenrechte zu wahren und zu schützen (Art.2, Art.3 Abs.5, Art.6 Abs.1 bis 3 und Art.21 Abs.1 EU-Vertrag unter Einbeziehung der Charta der Grundrechte der EU sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten).

Darüber hinaus ist es den Mitgliedstaaten, die keine Atomwaffen besitzen, durch den Atomwaffensperrvertrag (NVV) untersagt, Atomwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber unmittelbar oder mittelbar anzunehmen oder sonstwie zu erwerben (Art.2 NVV). Und Frankreich – der einzigen Atommacht innerhalb der EU – ist es durch den NVV verboten, Atomwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber an einen Nichtkernwaffenstaat unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben (Art.1 NVV). Diese im NVV vereinbarten Verbote sind daher für alle Mitgliedstaaten verbindlich. Die Bedeutung des NVV wird in allen Erklärungen der EU-Organe – des Parlamentes, des Rates und der Kommission – immer wieder hervorgehoben, und zwar einschließlich der Verpflichtung aller Staaten, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“ (Art.6 NVV). Wir verweisen beispielhaft auf die Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 21.10.2020 zur Vorbereitung des 10. NVV-Prüfungskonferenz und auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15.12.2021 zu den Herausforderungen und Chancen für multilaterale Systeme der Rüstungskontrolle und Abrüstung in Bezug auf Massenvernichtungswaffen.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich hat in einem Kommentar vom 08.12.2023 dem Ruf nach Atomwaffen für die EU widersprochen und hat sich dabei auf politische Argumente beschränkt: “Die EU braucht keine Atombombe. Für die Sicherheit sind andere Schritte nötig.“ (https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/atomare-gespenster-vertreiben-92718768.html) Wir halten es für dringend geboten, zusätzlich auch die völkerrechtlichen Aspekte einzubeziehen, welche der Europäischen Union und allen ihren Mitgliedstaaten nicht nur eine weitere Stärkung des NVV, sondern darüber hinaus einen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag nahelegen.

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Der verbandsfreie Streik im Hamburger Hafen

Am 6. und 7. November streikten die Hamburger Hafenarbeiterinnen und -arbeiter (HHLA) ohne dass die Gewerkschafft ver.di dazu aufgerufen hatte oder diesen Strek nachträglich übernahm. Es war also ein verbandsfreier (“wilder”) Streik. Er richtete sich gegen den geplanten Teilverkauf der HHLA an die weltweit größte Reederei MSC. Die HHLA ist noch überwiegend in städtischer Hand.

Über den Streik am 7. November heißt es im express 11/2023:

“… im Laufe des Tages erhöht die Geschäftsleitung den Druck auf die Beschäftigten. …  Am Abend des 7. November, nach insgesamt vier bestreikten Schichten, wird der Streik beendet. Bis zum Ende des Streiks am Dienstagabend haben mindestens 50 Beschäftigte eine Abmahnung erhalten. Die Ansage der Geschäftsleitung ist eindeutig und schüchtert viele Beschäftigte ein: Mit jedem weiteren Streiktag folgt eine weitere Abmahnung. 50 weitere Abmahnungen seien bereits vorbereitet und könnten sofort verteilt werden. Im Zweifel würden auch fristlose Kündigungen ausgesprochen werden. Unter dem Eindruck des massiven Drucks und der fehlenden Ausweitung des Streiks auf die anderen Terminals beenden die Beschäftigten ihre Aktion.”[1]express 11/2023, S. 1 f.; über die Abmahnungen berichtete auch die Hamburger Morgenpost, so die Perspektive vom 10.11.2023

Mit diesem verbandsfreien Streik haben die Beschäftigten des Hamburger Hafens demonstriert, dass sie sich nicht an die Kette des Rechts legen lassen. Denn nach der geltenden Rechtsprechung sollen verbandsfreie Streiks verboten sein. Auch könnte in Frage gestellt werden, ob das Ziel des Streiks – Verhinderung des Verkaufs an MSC – ein erlaubtes Streikziel ist.

Der Bericht zeigt aber auch die Waffen, die die Rechtsprechung den Unternehmern mit der Illegalisierung des verbandsfreien Streiks und den Beschränkungen der erlaubten Streikziele in die Hand gegeben hat: Die Abmahnung und dann die drohende fristlose Kündigung. 

Der Streik zeigt nachdrücklich, wie wichtig es ist, dass die restiktive deutsche Rechtsprechung zum Streikrecht beendet wird. Das gilt sowohl für das Verbot des verbandsfreien Streik als auch für die verbotenen Streikziele.

In dem zitierten Bericht über den Streik im Hamburger Hafen heißt es, dass die Beschäftigten nicht nur unter “dem Eindruck des massiven Drucks” ihren verbandsfreien Streik beendeten, sondern auch wegen der “fehlenden Ausweitung des Streiks auf die anderen Terminals.” Je mehr sich ein solcher Streik ausweitet, desto wirksamer ist er. Desto leichter ist es auch, Disziplinarmaßnahmen der Gegenseite abzuwehren. Die Möglichkeit, das Streikziel durchzusetzen, und der Schutz vor Disziplinarmaßnahmen wachsen mit der Masse der Streikenden.

Es gab Gründe genug für eine Ausweitung des Streiks: “Der vierte große Containerterminal im Hamburger Hafen gehört … Eurogate. Dort wird derzeit noch viel Ladung von MSC-Schiffen umgeschlagen. Diese Ladung von einem Eurogate- an einen HHLA-Terminal zu verlagern, ist keine Lösung für die geringe Auslastung des Hamburger Hafens.”[2]express 11/2023

“Neben den Beschäftigten der HHLA sind am Montagabend auch solidarische Beschäftigte von Eurogate und aus den sognannten Lasch-Betrieben vor Ort. Denn von einem Verkauf der HHLA-Anteile wären auch die umliegenden Hafenbetriebe betroffen.”[3]express 11/2023, S. 1 f. Sonja Petersen, Betriebsrätin und ver.di Vertrauensfrau bei der HHLA befürchte, dass durch das Verlegen von Umschlagsmengen die Reederei in Zukunft versuchen könne, die Beschäftigten der einzelnen Betriebe untereinander zu spalten. … Neu seien diese Spaltungsversuche durch die Konzernbosse nicht.[4]express 11/2023, S. 1 f. “Dieses Spiel gibt es seit vielen Jahren und hat den Beschäftigten auf keiner Seite langfristig geholfen. Leider stirbt aber derzeit jeder für sich allein”[5]express 11/2023, S. 1 f.. Nervös blicken die Arbeiter:innen während ihres Streiks auf die beiden weiteren Terminals der HHLA, das Containerterminal Altenwerden (CTA) und das Containerterminal Tollerort (CTT), in der Hoffnung, dass sich die Kolleg:innen dem spontanen Streik anschließen könnten. Bis zum Ende jedoch gelingt es nicht, den Streik auf diese Bereiche auszuweiten.”[6]express 11/2023, S. 1 f.

Dieser Streik belegt eindrucksvoll, wie wichtig es ist, dass sich die Beschäftigten über die völkerrechtswidrigen Einschränkungen des deutschen Streikrechts hinwegsetzen. Wie sollen sie sich sonst gegen die drohende Privatisierung und deren schlimmen Folgen für die Beschäftigten und die ganze Stadt wehren?

“Insgesamt arbeiten im HHLA-Konzern 6.700 Beschäftigte, 2003 wurde die HHLA in einzelne GmbHs aufgespalten. “Ziel war es seinerzeit, Beteiligungen an einzelnen Terminals zu ermöglichen,” erläutert Sonja Pertersen im Gespräch. “Es gab die Erwartungshaltung, dass sich durch die Beteiligung von Partnern, im Wesentlichen von Reedern, Abfertigungsmenden und weiteres Geschäft an Terminals binden ließe.” Anders als die Beteiligungen an einzelnen Firmen blieb die HHLA-Holding als Dach der einzelnen GmbHs bis 2006 komplett im Besitz der Stadt.”[7]express 11/2023, S. 10 ff. Als der Senat versuchte, die HHLA wie viele andere städtische Betriebe um jeden Preis zu privatisieren, wehrten sich die Beschäftigten vehement, so dass der Versuch scheiterte.[8]express 11/2023, S. 10 ff.. Nur 30 Prozent der Aktien wurden in Streubesitz verkauft. “Für uns als Beschäftigte war und ist es wichtig, dass die HHLA ein öffentliches Unternehmen und der Einfluss der Freien und Hansestadt auf die Unternehmens- und damit auch Hafenpolitik erhalten bleibt,” wird Sonja Pertersen zitiert. Dabei waren auch schon die Beteiligungen an einzelnen Containerterminals unter den Hafenbeschäftigten nicht unumstritten.[9]express 11/2023, S. 10 ff.. Doch der jetzt geplante Teilverkauf der HHLA habe nun eine “völlig andere Qualität” als frühere Terminalbeteiligungen, gibt Sonja Petersen zu verstehen. Nach einer Umstrukturierung der HHLA soll MSC knapp unter 50 Prozent der Anteile kaufen, wobei MSC die 30 Prozent Aktien, die jetzt schon in Streubesitz sind, ebenfalls übernehmen will[10]siehe die Perspektive vom 10.11.2023 sowie die FAZ vom 7.11.2023. Allerdings meldete die ZEIT am 21.11.2023, MSC seien erst 3,9 Prozent der Aktien “angedient” worden habe.[11]die ZEIT vom 21.11.2023; siehe auch Tagesschau vom 23.11.2023 Die Stadt Hamburg soll knapp über 50 Prozent behalten.

Nach dem Bericht im express sind die Würfel noch nicht gefallen. Der express: “Noch ausstehend ist zudem die Zustimmung der Hamburger Bürgerschaft zu dem geplanten Deal. Die Teilprivatisierung kann also noch verhindert werden.”[12]siehe auch die Hamburger Morgenpost vom 7.11.2023 in Pressreader

Ein interessanter Bericht über eine Versammlung am 11. November 2023 vor dem Hamburger Rathaus unter dem Motto: “Kein Verkauf von Stadteigentum! Unser Hafen, nicht euer Casino!” ist hier nachzulesen. Siehe auch die Junge Welt vom 8.11.2023.

References

References
1 express 11/2023, S. 1 f.; über die Abmahnungen berichtete auch die Hamburger Morgenpost, so die Perspektive vom 10.11.2023
2 express 11/2023
3, 4, 5, 6 express 11/2023, S. 1 f.
7, 8, 9 express 11/2023, S. 10 ff.
10 siehe die Perspektive vom 10.11.2023 sowie die FAZ vom 7.11.2023
11 die ZEIT vom 21.11.2023; siehe auch Tagesschau vom 23.11.2023
12 siehe auch die Hamburger Morgenpost vom 7.11.2023 in Pressreader

Zwei Menschen – eine Rede

Iris Hefets und Nadja Samour hielten am 25. November 2023 auf der großen Kundgebung “Nein zum Kieg!” in Berlin eine bemerkenswerte Rede, auf die wir hier aufmerksam machen wollen.

Der Text der Rede kann auf der website von Evelyn Hecht-Galinski nachgelesen werden.

Die Rede der beiden in Ton und Bild:

weitere Info über Iris Hefets sind hier nachzulesen:

Iris Hefets (Jüdische Stimme) über Antisemitismus, Irsrael, Gaza, deutsche Schuld | MERATV

14.04.2015: Interview mit Iris Hefets: „Pilgerfahrt nach Ausschwitz“

09.03.2019: Rede von Iris Hefets anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises

weitere Info über Nadja Samour:

18.07.2019: „Say My Name“: Die Politik des Nicht-Namensgebens

18.10.2023: Wir treffen Nadija Samour, eine Strafverteidigerin, die mit einer Flut von Verfahren gegen Palästinenser und ihre Unterstützer in Berlin beschäftigt war.

Politik und Streik

Den folgenden Vortrag hielt RA Benedikt Hopmann aus Anlass des Hochschulaktionstages am 20. November 2023. Der Vortrag befasst sich mit der sehr wichtigen und zunehmenden Tendenz in den Gewerkschaften, politische Forderungen und Forderungen, die in Tarifverträgen geregelt werden können, zusammenzubringen. Das hat Folgen für das Thema politischer Streik.


Inhaltsverzeichnis:

Tarifforderungen und politische Forderungen zusammenbringen

Ist der politische Streik verboten?

Zunächst ein Ländervergleich

Verbot unvereinbar mit Wortlaut des Grundgesetzes

Verbot ist völkerrechtswidrig

Zur Geschichte des Verbots

Ohne umfassendes Streikrecht keine Demokratie

Was tun?


Der heutige Hochschulaktionstag ist nicht nur deswegen außergewöhnlich, weil die Gewerkschaften die Beschäftigten von 50 Hochschulen zum Streik aufgerufen haben, sondern auch, weil die Gewerkschaften zusammen mit den Studierenden diesen Hochschultag bestreiten.

Dabei drängt sich das Thema „Politischer Streik“ geradezu auf. Das ergibt sich aus den Forderungen, wie sie in dem Aufruf zum Hochschulaktionstag veröffentlicht wurden[1]: Neben höheren Löhnen und Gehälter für die Hochschulbeschäftigten wird

  • eine deutliche Anhebung der BAföG-Sätze für die Studierenden und
  • die „Ausfinanzierung von Forschung und Lehre“

gefordert.

Das BAföG ist ein Gesetz: Bundesausbildungsförderungsgesetz. Die Forderung nach Anhebung der BAföG-Sätze richtet sich also an den Staat als Gesetzgeber, der für die Anhebung der BAföG-Sätze das Gesetz ändern muss[2]. Damit handelt es sich um eine politische Forderung. 

Dies gilt ebenso für die Forderung nach „Ausfinanzierung von Forschung und Lehre“ als „stabile Grundfinanzierung, unabhängig von Drittmitteln und Projektförderung“. Auch das eine Forderung, die sich eher an den Gesetzgeber richtet.

Ein Streik, der auch nur eine politische Forderung enthält, wird juristisch insgesamt als politischer Streik gewertet.

Ein solcher politischer Streik wird dadurch vermieden, dass in den Streikforderungen die politischen Forderungen des Hochschulaktionstages nicht enthalten sind. Sie werden als Streikforderungen ausgeklammert[2a].

Ähnlich wird die Zusammenarbeit in der gemeinsamen Kampagne #wirfahrenzusammen von Fridays for future und ver.di praktiziert.

Die Kampagne begreift sich als ein Zusammenschluss von „Fahrgäste, Klimabewegung, ÖPNV-Beschäftigten und Gewerkschaft ver.di“[3]. Das birgt – wie auch dieser Hochschultag – ein großes Potential, wenn sich die Interessen aller Beteiligten in dieser Kampagne wiederfinden. Und daher werden auch die die Interessen der Fahrgäste und Klimabewegung aufgenommen. In den Worten der Kampagne: 

„Was fordern wir von der Politik? Der Nahverkehr kann verdoppelt werden, wenn jetzt investiert wird. Auf dem Land und in der Stadt wäre mit genügend Personal, mehr Bussen und Bahnen und günstigen Tickets mehr Mobilität für alle möglich – bei weniger Verkehrsbelastung. Die Bundesregierung kann wie beim Deutschlandticket den ÖPNV jetzt direkt mit unterstützen.“[4]

Das sind Forderungen, die sich an die Bundesregierung, aber auch an die Bundesländer als Gesetzgeber richten und damit politische Forderungen. Damit die Kampagne die Interessen aller Beteiligten wieder spiegelt, sind also auch bei dieser Kampagne politische Forderungen notwendig.

Das wird verbunden mit Forderungen nach der Verbesserung der Arbeitsbedingungen[5]. Gestreikt wurde jedoch ausschließlich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, nicht für die politischen Forderungen der Kampagne.[6]

Und ein drittes Beispiel: Am 17. November streikten die Kolleginnen und Kollegen der IG Metall Hanau-Fulda für Tarifforderungen der IG Metall und für denselben Tag rief die IG Metall zusammen mit dem DGB Südosthessen, ver.di Main-Kinzig, der Hanauer Friedensplattform, der VVN-BdA Main-Kinzig, DiDF Hanau, Fridays for future Hanau zu einer Kundgebung unter der Losung auf:

Auch hier im Bündnis die politischen Forderungen nach sofortiger Beendigung des Krieges in der Ukraine und Waffenstillstand zusammen mit der Forderung nach höheren Löhnen, wobei nur für die höheren Löhnen gestreikt wird.

Diese Zusammenarbeit der Gewerkschaften in Bündnissen, Kampagnen usw. stärkt die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften werden als eine Kraft wahrgenommen, die nicht nur einen Inflationsausgleich für ihre Mitglieder, sondern auch bei den Studierenden, die Ausfinanzierung von Lehre und Wissenschaft, Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr, preiswerte Tickets und den Schutz des Klimas und den Frieden im Blick haben.

Die Gewerkschaft wird als eine Kraft wahrgenommen, die auf notwendige umfassende Veränderungen in der Gesellschaft drängt. Die Gewerkschaft wird als eine gesellschaftsverändernde Kraft wahrgenommen.

Diejenigen, die dieses Verständnis von Gewerkschaften vorantreiben, machen die Gewerkschaften stark, indem sie die Zusammenarbeit suchen und dabei das Mögliche tun, um Tarifforderungen und notwendige politische Forderungen zusammenzubringen.

Das Mögliche heißt in den genannten Beispielen: Die politischen Forderungen im Bündnis unterstützen ohne dafür zu streiken.

Das ist die Grenze, bis zu der die Gewerkschaften gehen. Nur selten setzen sie sich über diese Grenzen hinweg.

Was fehlt, ist die Diskussion über diese Grenzen selbst, über die herrschende Meinung die seit Jahrzehnten predigt, der politische Streik sei in Deutschland verboten.

Nun könnte man einwenden: Merkt doch keiner. Die Gewerkschaften unterstützen das eine und das andere, und wenn sie dann nur für das eine streiken: Merkt doch keiner. Insofern wäre mein Vortrag hier und jetzt sogar kontraproduktiv, weil es dann zumindest diejenigen merken, die sich diesen Vortrag anhören.

Aber es wäre doch überzeugender, wenn die Gewerkschaften für alle Forderungen, die sie unterstützen, auch streiken würden.

Das angebliche Verbot des politischen Streiks ist jedenfalls nicht in Stein gehauen, wie die Gesetzestafeln des Hammurabi.

Grundlage für das Streikrecht ist neben Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz allein die Rechtsprechung. Die herrschende Meinung, nach der der politische Streik verboten sein soll, steht allerdings auf einem sehr schwankenden rechtlichen Boden. Das höchste deutsche Gericht für Arbeitsrechtsstreitigkeiten, das Bundesarbeitsgericht, hat noch nie darüber entschieden.

Die herrschende Meinung stützt sich auf eine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach Streikziele auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sein müssen. Forderung nach besseren Gesetzen oder Forderungen, die schlechtere Gesetze abwehren wollen, sind auf Gesetze gerichtet und nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen. Daraus schließt die herrschende Meinung: Der politische Streik ist verboten. Die Frage lautet also: Müssen Streiks immer auf tariflich regelbare Ziele gerichtet sein?

Zunächst ein Ländervergleich:

Die Europäischen Union hat 27 Staaten.

Davon ist in 9 Staaten der politische Streik illegalisiert:

Deutschland, Luxemburg

Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei und Tschechien

Folgende Hinweise machen die herausragende Stellung Deutschlands deutlich, wo nach der herrschenden Meinung seit 70 Jahren der politische Streik verboten sein soll:

  • In Dänemark ist ein “reiner” politischer Streik erlaubt, wenn er von kurzer Dauer und “gerechtfertigt” ist,[10] nach a.A. verboten[11]
  • In Österreich sind politische Streiks zwar legitim, aber unüblich. Im Mai und Juni 2003 streikten in Österreich an drei Tagen eine dreiviertel Millionen gegen die Rentenreform der Regierung Schüssel.[12]
  • Lettland, Litauen, Polen, Slowakei und Tschechien traten erst 2004 der EU bei, Rumänien erst 2007; vorher war nur in Deutschland, Luxemburg[9] und England der politische Strek verboten.
  • England trat 2020 aus der EU aus, in England wurden politische Streik erst unter der Thatcher-Regierung verboten[7]; trotzdem gab es Massenstreiks 2006 und 2011 zur Verteidigung der Rentenansprüche[8].

Immer wieder wird behauptet, der politische Streik sei demokratiefeindlich, weil er das demokratisch gewählte Parlament unter Druck setze. Doch in anderen Ländern gehört der politische Streik zur selbstverständlichen demokratischen Tradition. Man denke nur an die heftigen politischen Streiks, die immer wieder Frankreich erschüttern. Die massiven Streiks gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters haben wir noch in Erinnerung und waren beeindruckend. Dagegen beschränkte sich der gewerkschaftliche Widerstand gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters, der in Deutschland unter der Schröderregierung durchgesetzt wurde, auf einige wenige Stunden Arbeitsniederlegung der IG Metall. Es war ein politischer Streik in homöopathischen Dosen. Danach war die gesetzliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit durchgesetzt.

Es gibt jedoch gute Gründe für die Auffassung, dass der politische Streik auch in Deutschland nicht verboten, sondern erlaubt ist. Auf drei Gründe möchte ich näher eingehen: Das Grundgesetz, das Völkerrecht, das Grundgesetz und die Geschichte des Streikrechts.

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.” (Art. 9 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz).

  • Auch Arbeitskämpfe sind durch das Grundgesetz geschützt. Ihr Schutz wurde im Rahmen der Notstandsgesetze in das Grundgesetz aufgenommen.[13]
  • Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“: Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen werden nicht nur in Tarifverträgen, sondern auch in Gesetzen und anderen staatlichen Maßnahmen geregelt. Damit muss auch der Streik, der auf solche staatliche Regelungen über die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtet ist, also der politische Streik erlaubt sein. .
  • Vereinigungen ist weiter gefasst als Gewerkschaften; “Vereinigungen” kann seinem Wortlaut also nicht nur Gewerkschaften, sondern auch sogenannte ad-hoc Koalitionen erfassen, die sich im Zusammenhang von verbandsfreien Streiks bilden, also von Streiks, zu denen die Gewerkschaften nicht aufgerufen und die sie auch nicht nachträglich übernommen haben.
b. Ein Verbot des politischen Streiks ist völkerrechtswidrig (Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC)

Die Bundesregierung ratifiziert schon vor 60 Jahren die Europäische Sozialcharta (ESC). Dort heißt es:

Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, anerkennen die Vertragsparteien das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten ...” (Teil II Artikel 6 Nr. 4 ESC)[14]

  • Das Streikrecht dient dazu, das Recht auf Kollektivverhandlungen wirksam auszuüben. 
  • Dieses Recht haben Arbeitnehmer für den Fall von Interessenkonflikten“, nicht nur wenn es um Interessenkonflikte mit den Unternehmern, sondern auch mit dem Staat geht (jedenfalls dann, wenn es sich um Interessenkonflikte auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen handelt). 
  • Kollektivverhandlungen erfasst nicht nur Tarifverhandlungen
  • Recht der Arbeitnehmer erfasst nicht nur das Recht der Gewerkschaften. Recht der “Arbeitnehmer” ist ein individuelles Recht.

Auf dieser Grundlage erklärte der Sachverständigenausschuss EASR, der die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta kontrolliert, immer wieder: : Das „Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“ ist ein Verstoß gegen die Sozialcharta.

c. Zur Geschichte des Verbots von politischen und verbandsfreien Streiks – Wer war Hans Carl Nipperdey?

Das Verbot des politischen Streiks existierte weder in der Weimarer Republik noch in der Zeit unmittelbaren nach dem 2. Weltkrieg. Es stammt aus einer absolut undemokratischen Tradition: Hans Carl Nipperdey, der während der Nazizeit als Mitglied der Akademie für deutsches Recht damit befasst war, die Naziideologie in Gesetze zu gießen, formulierte in der Adenauerzeit die juristische Begründung für das Verbot des politischen und verbandsfreien Streiks. 

Wir wollen im Folgenden etwas ausführlicher die Geschichte des Streikrechts und die Rolle beschreiben, die Nipperdey dabei in der Weimarer Republik, während des Faschismus und nach dem Krieg  in der Restaurationszeit spielte[15].

aa. Nipperdey im Jahr 1930:

Bezogen auf Streiks erklärt Nipperdey: „Der Staat hat ein dringendes Interesse daran, diese Kämpfe wegen ihrer schädlichen volkswirtschaftlichen Folgen einzuschränken und das Wirtschaftsleben zu befrieden.“ [16]

bb. Nipperdey während des Faschismus: Fürsprecher der ungehemmten Herrschaft des Kapitals in der “Betriebsgemeinschaft” und “Volksgemeinschaft”:

Hans Carl Nipperdey beteiligte sich während des Faschismus in der Akademie für deutsches Recht daran, die Ideologie des Faschismus, ganz konkret – gemäß der Satzung der Akademie für deutsches Recht – das Parteiprogrammm der NSDAP in Gesetze zu gießen. Er war beteiligt an der Erarbeitung eines Volksgesetzbuches, das das Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ersetzen sollte. Andere bekannte Mitglieder der Akademie für deutsches Recht waren Roland Freisler, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Martin Heidegger, Heinrich Himmler[17].

Er kommentierte außerdem zusammen mit Alfred Hueck und Rolf Dietz das faschistische Arbeitsrecht AOG[18]. Die drei Kommentatoren des faschistischen AOG konnten nach dem 2. Weltkrieg nach kurzer Unterbrechung ihre Tätigkeit als Professoren, die sie schon während des Faschismus ausgeübt hatten, wieder aufnehmen: Nipperdey in Köln, Hueck in München und Dietz zunächst in Münster, dann in München. Hans Carl Nipperdey wurde nach dem Krieg der 1. Präsident des Bundesarbeitsgerichts.

Der Kommentar zum faschistischen AOG erschien 1934 – ein Jahr, nachdem die Gewerkschaften zerschlagen und die Gewerkschaftshäuser besetzt worden waren. Das AOG hob

  • das Weimarer Betriebsrätegesetz – Vorläufer des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes – und
  • die Weimarer Tarifvertragsverordnung – Vorläuferin des heutigen Tarifvertragsgesetzes – 

auf[19].

Vier wesentliche Merkmale kennzeichnete das faschistische Arbeitsrecht:

  1. Arbeitsbedingungen wurden nicht mehr durch Kollektivverträge, also Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, vereinbart, sondern einseitig angeordnet. An die Stelle des Vereinbarungsprinzips trat das Führerprinzip[20].
  2. Jeder Streik wurde unterbunden. Die Zerschlagung der Gewerkschaften war dazu der wichtigste Hebel. Trotzdem konnten nicht durchgehend Streiks verhindert werden[21a]
  3. Anordnungen von Arbeitsbedingungen auf der Ebene des Betriebs hatten Vorrang vor Anordnungen auf der überbetrieblichen Ebene druch den sog. Treihänder für Arbeit. [21]
  4. In späteren Auflagen mit dem zunehmenden Einsatz von Zwangsarbeitern wurden bestimmten Teilen der Arbeiterklasse – abgestuft nach Juden, Russen, Polen usw. – auch die letzten Rechte und damit das Menschsein genommen.

“Das einseitige Anordnungsrecht des Führers (Führerprinzip)” ist das Weisungsrecht des Kapitalherrn, das weder durch Gewerkschaften noch durch Betriebsräte eingeschränkt ist.

Die “Lebensaufgabe” der Beschäftigten bestand in der Förderung “ihres” Betriebes, der nicht ihr Betrieb war und in dem der Unternehmer alles und die Beschäftigten nichts zu sagen hatten.

Der Gegensatz von Kapital und Arbeit, der im faschistischen Arbeitsrecht ganz unverhüllt zutage tritt, wurde in demselben faschistischen Arbeitsrecht mit den Begriffen “Betriebsgemeinschaft” und “Volksgemeinschaft” systematisch geleugnet.[22]

Das also ist Arbeitsrecht im Faschismus, das Nipperdey kommentierte. Es ist nichts anderes als die ungehemmte Herrschaft des Kapitals.

Ich kann nur jedem Studenten raten, in die Bibliotheken der juristischen Fakultät zugehen und sich dieses AOG und die Kommentierung dazu anzusehen. Dabei sollten auch die späteren Auflagen eingesehen werden.   

Im Übrigen möchte ich auf diesen link verweisen, wo mehr über Hans Carl Nipperdey und die Einflüsse faschistischen Arbeitsrechts bis in die Gegenwart zu finden ist.

Immer wieder wird in Frage gestellt, dass Hans Carl Nipperdey ein faschistischer Jurist war. Doch was ist ein Jurist anderes als ein faschistischer Jurist, wenn er das Parteiprogramm der NSDAP in der Akademie für deutsches Recht in Gesetze gießt und das faschistische Arbeitsrecht AOG kommentiert und dabei selbstverständlich die vollständige Entrechtung der Beschäftigten in diesem Gesetz mit keinem Wort in Frage stellt?

cc. Nipperdey in der Restaurationszeit: Führend in der Einschränkung des Streikrechts

Es begann mit einem Rechtsstreit um den sogenannten Zeitungsstreik, der ein politischer Streik gewesen war. Alle Gerichte entschieden im Sinne des Gutachtens, das Hans Carl Nipperdey zu diesem Rechtsstreit verfasste und von Dachverband aller Kapitalverbände, dem BDA, veröffentlicht worden war. Nach Nipperdey war der Zeitungsstreik rechtwidrig, weil er nicht „sozialadäquat“ war. Diesen Begriff hatte Nipperdey aus dem Strafrecht übernommen. „Sozialadäquat“ waren nur Streiks die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet waren.

Im Jahr 1955 wertete der große Senat des Bundesarbeitsgerichts unter Mitwirkung von Nipperdey als ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts “Arbeitskämpfe (Streik und Aussperrung)“ als „im allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schädenmit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen.“[23]

Diese Wertung des Streiks durch das Bundesarbeitgerichts ist die Wertung des Streiks ausschließlich aus der Sicht des Kapitals, für das ein Streik ein Schaden darstellt. Dagegen ist der Streik für die Beschäftigten die einzige Möglichkeit, ihre strukturelle Unterlegenheit zu überwinden und Macht aufzubauen, die das Kapital zu Tarifverträgen mit den Gewerkschaften oder anderen Zugeständnissen zwingt. Daher ist das, was für das Kapital ein Schaden ist, für die Beschäftigten ein Nutzen.

Diese Wertung des Streiks hat nichts zu tun mit dem Begriff von Streik, wie er etwa wenige Jahre später in der Europäischen Sozialcharta beschrieben wird, wo das Recht zum Streik eine Recht der Arbeitnehmer ist, um in Interessenkonflikten Kollektivverhandlungen wirksam auszuüben.

Wir haben schon dargelegt, dass nach Nipperdey Streiks nur mit dem Ziel geführt werden dürfen, Tarifverträge abzuschließen. Obwohl inzwischen das Bundesarbeitsgericht seine Argumentation zum Streikrecht auf die Grundrechte stützt, gilt das von Nipperdey entwickelte Dogma, das Streiks auf tariflich regelbare Ziele einschränkt sind, bis heute.

Aus diesem Dogma entwickelt das BAG im Jahr 1963 das Verbot von verbandsfreien Streiks, obwohl verbandsfreie Streiks nie auf Tarifverträge gerichtet sind.

Außerdem glaubt die herrschende Meinung, wie wir schon dargelegt haben, aus diesem Dogma herleiten zu können, dass politische Streiks illegal seien.

Diese Beschränkung des Streiks allein auf Tarifverträge bedeutet eine gewollte Entpolitisierung gewerkschaftlichen Handelns, und zwar dort, wo sie allein wirksam Handlungsmacht entfalten können. Es ist eine gezielte Entmündigung der Gewerkschaften.

Gewerkschaften sind Wächter der Demokratie. Werden sie geschwächt, ist immer auch die Demokratie gefährdet. Die Gewerkschaften und ihre Handlungsfreiheit sind eben keine Bedrohung dieser Demokratie, sondern ihr Wesensmerkmal. Die Beteiligung in einer Demokratie besteht eben nicht nur in der Wahl alle vier Jahr, sondern in der aktiven Beteiligung an politischen Prozessen (Art. 20 GG). Der politische Proteststreik ist Beteiligung am politischen Prozess der Meinungsbildung par excellence.

Es sei daran erinnert: Es waren die abhängig Beschäftigten, die am 9. November 1918 mit einem Generalstreik die erste Republik überhaupt erst erzwangen. Und es waren die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften, die 1 1/2 Jahre später diese Republik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch verteidigten.

Indem das Bundesarbeitsgericht unter Federführung von Nipperdey Streiks beschreibt als „im allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen“, wird der wirtschaftsfriedliche Kurs fortgesetzt, den Nipperdey schon in der Weimarer Republik vertrat und der während des Faschismus soweit radikalisiert wurde, dass Streiks ganz verboten wurden.

Das prinzipielle Verbot von politischen und verbandsfreien Streiks kannte das Recht der Weimarer Republik nicht. Soweit ist die Weimarer Republik nie gegangen Es existierte zwar mit der Zwangsschlichtung ein sehr restriktives Streikrecht, aber es kannte nicht das prinzipielle Verbot des verbandsfreien und politischen Streiks.

Die Einschränkungen des Streikrechts wenige Jahre nach Kriegsende, können nur mit Blick die Restauration unter Adenauer verstanden werden. Hans Carl Nipperdey ist ein Beispiel für das, was damals überall im Deutschland der Restaurationszeit geschah: Es zogen in Politik, Verwaltung, Justiz und Polizei wieder diejenigen ein, die wenige Jahre zuvor im Dienste der Faschisten tätig gewesen und immer noch von dem geprägt waren, was sie schon während der Nazizeit vertreten hatten. Das erste Ziel dieser Nazi-Politik war gewesen, die Arbeiterparteien und Gewerkschaften zu zerschlagen und damit jeden wirksamen Widerstandes zu brechen.

Der Kampf für ein umfassendes Streikrecht ist in Deutschland mit Blick auf diese Vergangenheit immer auch ein antifaschistisches Programm unter der Losung “Nie wieder!”.

Was in Frankreich erlaubt ist, sollte in Deutschland nicht verboten sein. Warum lassen wir uns immer noch von einem Nazijuristen vorschreiben, ob wir streiken dürfen oder nicht? Die Demokratie darf sich nicht darauf beschränken, dass wir alle vier Jahre wählen gehen. Ohne politischen Streik keine demokratische Gesellschaft.

Die größten Chancen bestehen, den politischen Demonstrationsstreik zu legalisieren.

In Fall des Demonstrationsstreiks geht das Argument der unzulässigen Druckausübung auf das Parlament schon aus dem Grund ganz offensichtlich ins Leere, weil der Demonstrationsstreik von vornerein befristet ist, maximal auf einen Tag, während ein Erzwingungsstreik solange geführt wird, bis das Ziel oder zumindest ein für die Streikenden tragbarer Kompromiss erreicht ist.

Wenn Hunderttausend Beschäftigte aus Anlass der Morde in Hanau in den großen Autobetrieben zur Mahnung für kurze Zeit die Arbeit niederlegen, aber vorher das Einverständnis der Geschäftsleitung einholen, kann man fragen: Und was ist, wenn die Geschäftsleitung die Zustimmung verweigert? Wird dann auf die Mahnminuten, in denen der Betrieb still steht, verzichtet? Sollte es nicht möglich sein, aus diesem Anlass die Arbeit nieder zu lagen und das der Geschäftsleitung nur anzukündigen, ohne deren Zustimmung einzuholen? 

Das wichtigste Argument, das immer wieder angeführt wird, ist die Angst vor Schadenersatzforderungen, mit denen die Gewerkschaften überzogen werden könnten. Denn die herrschende Meinung – das haben wir ja schon vorgetragen – hält den politischen Streik für illegal. Das Argument lautet also: Und was ist, wenn das Bundesarbeitsgericht die herrschende Meinung bestätigt? Dann muss die Gewerkschaft damit rechnen, dass die bestreikten Unternehmen Ersatz für den Schaden einklagen, der diesen Unternehmen durch diesen Streik entstanden ist.

Zunächst muss man sich über die Konsequenz dieser Argumentation im Klaren sein. Sie führt dazu, dass sich das Recht niemals ändern wird. Denn Streikrecht ist in Deutschland Rechtsprechungsrecht. Das sollte auch so bleiben. Niemand sollte auf Verbesserungen durch den Gesetzgeber hoffen. Der Einfluss des Kapitals ist viel zu stark, so dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gesetz nur zu Verschlechterungen führen würde. Ich gehe auch davon aus, dass dies in den Gewerkschaften Konsens ist. Also bleibt nur, dass die Gewerkschaften politisch streiken und dann das Bundesarbeitsgericht über diesen Fall entscheidet. Aber genau das lehnen diejenigen ab, die den Aufruf zu einem politischen Streik davon abhängig machen wollen, dass das Bundesarbeitsgericht in dieser Frage Klarheit geschaffen hat. Aber wie soll das Bundesarbeitsgericht Klarheit schaffen, wenn ihm kein Fall vorgelegt wird, in dem politisch gestreikt wurde? Ist es nicht merkwürdig, dass die herrschende Meinung seit 60 Jahren wiederholt, der politische Streik sei rechtswidrig, aber das Bundesarbeitsgericht dazu nie entscheiden konnte, weil ihm nie ein politscher Streik zur Entscheidung vorgelegt wurde? Die Sache wurde noch merkwürdiger, als das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2002 in einem sogenannten obiter dictum, also beiläufig erklärte: „Dabei mag die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC einer erneuten Überprüfung bedürfen. Denn immerhin ist nach Meinung des Sachverständigenausschusses das Verbot aller Streiks in Deutschland, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sind und die nicht von einer Gewerkschaft ausgerufen oder übernommen worden sind, mit den Garantien von Art. 6 Nr. 4 ESC unvereinbar.“[24] Man sollte meinen, dass spätestens jetzt die Gewerkschaften darüber nachzudenken begannen, in welchem Fall sie zu einem politischen Streik aufrufen, damit die Sache vor das Bundesarbeitsgericht geht und das Bundesarbeitsgericht entscheiden kann. Nun sind zwanzig Jahre vergangen und das BAG hatte immer noch keinen Fall zu entscheiden.

Wenn die Gewerkschaft vom Schlimmsten ausgeht und meint, sie könne den Prozess verlieren, dann hat sie es in der Hand, von vornherein den Schaden, der auf sie zukommen könnte, dadurch in Grenzen zu halten, dass sie nur eine begrenzte Zahl von Beschäftigten zum politischen Streik aufruft. Wäre es nicht möglich, wenn fridays for future zum Klimastreik aufruft, dass die Gewerkschaft zumindest einige wenige Betriebe zu diesem Streik aufruft anstatt diejenigen, die sich beteiligen wollen, nur aufzufordern, auszustempeln und damit in den Feierabend zu gehen, so dass die Arbeit nicht mehr niedergelegt werden kann? 

Wie auch immer das Bundesarbeitsgericht entscheiden würde, die Gewerkschaften dürfen sich niemals in dieser äußerst wichtigen Frage, ob sie politisch streiken oder nicht, ihr Handeln von der herrschenden Meinung oder der Rechtsprechung vorschreiben lassen. 

Und das haben die Gewerkschaften auch in der Vergangenheit nicht durchgehend getan. Die Gewerkschaften haben sich immer wieder über dieses angebliche Verbot des politischen Streiks hinweg gesetzt – zum Beispiel 1986, als die IG Metall zu Kundgebungen während der Arbeitszeit zur Verteidigung des Streikrechts aufrief und rund eine Millionen Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen diesem Aufruf folgten. Oder 1996, als die Kohlregierung die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von 100 Prozent auf 80 Prozent absenkte. Auch gegen diese Verschlechterung rief die IG Metall zum Streik auf.

In dem Aufruf der IG Metall vom 27. Juni 1996 heißt es:

“Protest ist unser gutes Recht. Demokratie ist keine Feierabend – oder Wochendveranstaltung. Sie macht nicht vor den Werkstoren halt. Aufrufe zu Protestktionen gegen die Sozialabbaupläne der Bundesregierung sind zulässig.”

Dieser Aufruf war ein Aufruf zum politischen Streik. Das Flugblatt mit diesem Aufruf war herausgegeben vom damaligen 1. Bevollmächtigten der IG Metall, Klaus Zwickel, und seinem Stellvertreter, Walter Riester.

Übrigens: Dieser politische Streiks konnte die Verabschiedung des Gesetzes, dass die Lohnfortzahlung von 100 Prozent auf 80 Prozent absenkte, nicht verhindern. Den Erfolg brachte der anschließende “wilde” Streik der Beschäftigten in den Daimler-Werken in Untertürkheim und Bremen. Er dauerte mehrere Tage und zwang den Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG, Schrempp, auf Verhandlungen zwischen GesamtMetall und der IG-Metall zu drängen, die am Ende zu einem Tarifvertrag führten, der 100 Prozent Lohnfortzahlung im Krankheitsfall festschrieb und damit die gesetzliche Absenkung zunichte machte. Später wurde auch die gesetzliche Absenkung wieder zurückgenommen.


[1] https://hochschulaktionstag.de/

[2] § 13 BAföG; https://www.bafög.de/bafoeg/de/das-bafoeg-alle-infos-auf-einen-blick/foerderungsarten-und-foerderungshoehe/was-sind-bedarfssaetze-und-wie-hoch-sind-sie/was-sind-bedarfssaetze-und-wie-hoch-sind-sie.html 

[2a] Studierenden können ebenso wie Schülerinnen und Schülern symbolisch streiken – mit einem hohen Symbolwert (siehe die Klimastreiks der Schülerinnen und Schülern) -, sie können aber nicht im juristischen Sinne streiken, da sie in keinem Arbeitsverhältnis stehen und daher auch nicht die Arbeit niederlegen können.

[3] https://www.wir-fahren-zusammen.de/

[4] https://www.wir-fahren-zusammen.de/

[5] https://www.wir-fahren-zusammen.de/

[6] https://studentsforfuture.info/wirfahrenzusammen

[7] – so die Vorsitzende der britischen Lehrergewerkschaft auf einer Veranstaltung der GEW 2023 in Berlin; im Übrigen: IW 2002: Lesch, Hagen “Streik und Arbeitskampfregeln im internationalen Vergleich”, S. 13; link: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/156818/1/iw-trends-v29-i2-a1.pdf

[8] Gallas, Nowak, Wilde “Politische Streiks im Europa der Krise”, Hamburg 2012 S. 180; link:  https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Gallas_Nowak_Wilde_Politische_Streiks.pdf

[9] Streikregeln in der EU27 und darüber hinaus (beachte Definition pol. Streik S. 13): https://www.etui.org/sites/default/files/08%20Strike%20rules%20in%20the%20EU27%20DE%20R103%20WEB.pdf

[10] siehe Rn. 9

[11] siehe Rn. 8

[12] siehe Rn. 9

[13] “Maßnahmen nach den Artikeln ….  dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten. …” (Artikel 9 Absatz 3 Satz 3 Grundgesetz)

[14] „Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: 1. … 2. …. 3. ….   und anerkennen4. das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, … “.  (Teil II Artikel 6 Nr. 4 ESC)

[15] Eine empfehlenswerte Sendung des Deutschlandfunks gibt Einblick nicht nur in diese Person, sondern auch, in welchem Ausmaß das faschistische Arbeitsrecht bis heute das deutsche Arbeitsrecht prägt: “Den Unternehmern treu ergeben – das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey” vom 24. April 2023,  https://www.hoerspielundfeature.de/das-paternalistische-arbeitsrecht-des-hans-carl-nipperdey-100.html

[16] Hueck/ Nipperdey Lehrbuch des Arbeitsrechts 2. Band, Mannheim 1930

[17] ein instruktiver Vortrag von Prof. Dr. Eva Schumann zur Bedeutung der Akademie für Deutsches Recht und die Auswirkungen der Arbeit dieser Akademie auf das Jugendstrafrecht bis heute: https://www.youtube.com/watch?v=07pzqoc_FFQ

[18] Dr. Alfred Hueck, Dr. Hans Carl Nipperdey, Dr. Rolf Dietz “Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit”, München und Berlin 1934; dies war nicht der einzige Kommentar zum AOG; so existierte auch noch ein Kommentar zum AOG von Mansfeld-Pohl-Steinman-Krause, Berlin 1934

[19] § 65 AOG

[20] AOG Vorbem. zum dritten Abschnitt “Betriebsordnung und Tarifordnung” Anm. 2

[21] Der Arbeitskräftemangel aufgrund der massiven Aufrüstung führte ab 1938 dazu, dass die Treuhänder der Arbeit immer mehr Höchstarbeitsbedingungen festsetzten; siehe Rüdiger Hachtmann “Auf den Trümmern der Arbeiterbewegung: Arbeitsrecht und Betriebsverfassung 1933 bis 1945” in: Gün/Hopmann/Niermerg “Gegenmacht statt Ohmacht”, 2020 Hamburg

[21a] Kittner Arbeitskampf S. 535

[22] § 1 AOG 1934 Beck-Verlag Anm. 35

[23] der vollständige Text: “Arbeitskämpfe (Streik und Aussperrung) sind im allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen; aber sie sind in bestimmten Grenzen erlaubt, sie sind in der freiheitlichen, sozialen Grundordnung der Deutschen Bundesrepublik zugelassen. Unterbrechungen der betrieblichen Arbeitstätigkeit durch einen solchen Arbeitskampf sind sozialadaequat, da die beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit solchen kampf weisen Störungen auf Veranlassung und unter der Leitung der Sozialpartner von jeher rechnen müssen und die deutsche freiheitliche Rechtsordnung derartige Arbeitskämpfe als ultima ratio anerkennt. Es besteht Freiheit des Arbeitskampfes, Streikfreiheit und Aussperrungsfreiheit. Das ergibt sich nicht nur aus der gesamten historischen Entwicklung seit 1869, namentlich aus der wichtigen Regel des § 152 Abs. 1 GewO und der allgemeinen rechtlichen Überzeugung … sondern neuerdings namentlich auch aus § 49 Abs. 2 Satz 3 BetrVG. Dort ist im Anschluss an das Verbot der Arbeitskämpfe zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ausdrücklich bestimmt, dass Arbeitskämpfe tariffähiger Parteien durch das Verbot nicht berührt werden” (BAG 28.1.1955 – GS 1/54, juris, Rn. 33 ff)

[24] BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR/96/02 juris Rn. 38; darauf verweist BAG 24.4.2007 – 1 AZR 252/06 unter B.III.2.a.aa)