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Appell für den Frieden – mit Belegen

Kooperation statt Krieg!
Abrüsten statt aufrüsten!

Als Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 auf einer Sondersitzung des Bundestages einen Sonderfonds für die Bundeswehr im Umfang von 100 Milliarden Euro verkündete, erhoben sich die meisten Abgeordneten emotional bewegt von ihren Sitzen, brachen in Jubel aus und klatschten Beifall, als gälte es, einen großen Sieg zu feiern. Dieser Sonderfonds soll gar durch eine Änderung des Grundgesetzes abgesichert werden, damit spätere Regierungsmehrheiten ihn nicht so leicht wieder einschränken oder abschaffen können.

Dann folgte der nächste Schritt: Wer sich über viele Jahre erfolgreich für eine Kooperation mit der Sowjetunion und später mit Russland eingesetzt hat, soll jetzt Asche auf sein Haupt streuen und ins Büßergewand schlüpfen. Zusammenarbeit statt Konfrontation – das war eine über Jahrzehnte gewachsene politische Überzeugung mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung. Doch was gestern alternativlos war, soll heute nur noch naiv sein. Aber es war nicht ein Zuviel an Kooperation mit Russland, das in diesen Krieg geführt hat, sondern ein eklatanter Mangel an gleichberechtigter Zusammenarbeit aller europäischer Staaten in West und Ost.

Die NATO löste sich nicht auf, als es nach dem Zerfall des Warschauer Pakts wirklich keinen Bedarf mehr für sie gab. Es wurde kein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Einschluss von Russland und den anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten aufgebaut, im Gegenteil: Die NATO wurde – trotz gegenteiliger Versprechen – Richtung Russland nach Osten erweitert.


… als Nachweis siehe: “Gebrochene Versprechen: Keine Osterweiterung der NATO”.


Nur die Intervention Deutschlands und Frankreichs verhinderte 2008 eine Aufnahme der Ukraine in dieNATO. Doch die Absicht, Russland immer dichter auf den Pelz zu rücken, wurde nie aufgegeben. Noch am 14. Juni 2021 beschloss der Nordatlantik-Rat in Brüssel: „Wir bekräftigen unseren auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest gefassten Beschluss, dass die Ukraine ein Mitglied des Bündnisses wird“


… als Beleg siehe unter Nr. 69 des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 14. Juni 2021


Zahlreiche Stimmen warnten, dass dieser permanente Konfrontationskurs unweigerlich auf einen Krieg hinauslaufen werde


… zum Nachweis siehe: warnende Stimmen, der Beitrag von George Kennan 1997 in der New York Times und das Interview mit Brzezinski am 29.Juni 2015 in “Die Welt sowie 2022: Krieg


Doch alle Mahnungen wurden in den Wind geschlagen. Auf der Münchner Konferenz Anfang 2022 schloss der Präsident der Ukraine sogar die Stationierung von Atomwaffen in seinem Land nicht mehr aus[1]siehe 2022 Krieg.

Die NATO ist ein aggressives Militärbündnis, über das die USA ihre Vorherrschaft in Westeuropa sichern und soweit wie möglich nach Ost ausdehnen wollen. Ihre „Politik der offenen Tür“ öffnete die Tore für den Krieg. Und das Schlachtfeld heißt nicht USA, sondern Europa.

Die NATO hätte den Vertrag unterschreiben sollen, den Russland im Dezember 2021 angeboten hatte.


… als Beleg siehe Vertragsentwurf Russlands und die Stellungnahme der NATO hier;

… siehe auch Kommentierende Zusammenfassung des Vertragsentwurfs Russlands und der Stellungnahme der NATO


Die vorgeschlagenen Forderungen nach einer neutralen Ukraine und einem Rückzug von militärischen Kräften und Waffen hätten den Frieden sicherer gemacht


siehe auch: Forderungen, um den Krieg zu beenden.


Wer aber jede Zusammenarbeit mit Russland aufkündigt, weil es das Völkerrecht gebrochen hat, muss auch sofort die Zusammenarbeit mit den USA beenden, die das seit Jahrzehnten in zahllosen Fällen tun. Stattdessen entschloss sich die Bundesregierung, das Feuer mit Benzin zu löschen, und schickte trotz ihres erklärten Grundsatzes, keine Waffen in Krisen- oder gar Kriegsgebiete zu liefern, 100 Maschinengewehre, 16 Millionen Schuss Munition, 2.500 Luftabwehrraketen, 900 Panzerfäuste, 100.000 Handgranaten etc. an die Ukraine.


siehe offizielle Liste der Waffenlieferung, die die Bundesregierung am 24. August 2022 veröffentlicht hat

siehe offizielle Liste der Waffenlieferung, die die Bundesregierung am 21. Juni 2022 veröffentlicht hat

siehe Liste der Waffenlieferungen im ZDF am 21. April 2022 und im ntv. vom 5. Mai 2022;

Belege über weitere Waffenlieferungen siehe Wirtschaftwoche vom 1. Juni 2022 und ntv vom 1. Juni 2022


Dennoch hat keine Waffenlieferung die politische Führung der Ukraine bisher zufriedengestellt. Und auch auf deutscher Seite gibt es stets maßgebende Kräfte bei den Grünen, der FDP, der CDU/CSU und auch bei der SPD, die sich in eine Art Kriegstaumel gesteigert haben und ungerührt nach immer mehr Waffen rufen – mit dem Ergebnis, dass Deutschland auf Beschluss einer breiten Mehrheit im Bundestag jetzt auch Panzer an die Ukraine liefert und dabei sehenden Auges eine Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg riskiert


… siehe: Atomwaffen und Ukrainekrieg

… siehe: Atomkrieg aus Versehen.


Denkt niemand an die Menschen, die schon jetzt mit den von Deutschland gelieferten Waffen getötet werden? Denkt niemand daran, dass die Bevölkerung umso mehr leidet, je länger der Krieg dauert?

Durch den Kampf gegen den Terror unter der Losung „Verteidigung unserer Freiheit und unserer Demokratie“ starben mehr als eine Million Menschen – und Länder wie der Irak, Libyen und Afghanistan versanken im Chaos.


… als Beleg siehe: Body Count IPPNW


Nun wird „unsere Freiheit“ in der Ukraine verteidigt. Eine solche Denkweise führt direkt in den Abgrund. Wer so redet, wird sich irgendwann die Frage stellen, warum Deutschland nicht auch Soldaten gen Osten schickt. Dieser Amoklauf muss gestoppt werden. Mit jeder Waffenlieferung werden mehr Menschen getötet und sinkt die Schwelle zu einem Dritten Weltkrieg. Wir müssen raus aus dieser militärischen Eskalationslogik


… siehe: Tagesspiegel berichtet von Friedensplan Italiens

… siehe: New York Times fordert von US-Präsident Biden Kehrtwende im Ukraine-Krieg .


Auch Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind nicht wirklich zu rechtfertigen. Alle wissen, dass solche Sanktionen vielen Millionen Menschen bei uns hier in Deutschland und in aller Welt schweren Schaden zufügen, letztlich auch in der Ukraine, nicht jedoch den Reichen und Mächtigen in aller Welt. Es geht nicht um den Ersatz fossiler Energien durch regenerative, sondern um einen Wirtschaftskrieg, der eher Mittel verbraucht, die bei der notwendigen ökologischen Transformation fehlen werden. Es ist nicht einzusehen, dass wir für diesen irrsinnigen Krieg auch nur einen einzigen Cent zahlen sollen. Denn es geht in Wirklichkeit nicht um Solidarität mit der Ukraine und ihren Menschen, sondern um die Durchsetzung von Kapitalinteressen des „freien Westens“.

Berlin, im Mai 2022

Waffenexporte sofort stoppen!

Für eine neutrale Ukraine! Für ein Sicherheitsbündnis
von Lissabon bis Wladiwostok anstelle der NATO!

References

References
1 siehe 2022 Krieg

PM zur Plakataktion vor der Geschäftsstelle der GRÜNEN am Tag 28. April 2022

Presseerklärung anlässlich der Bundestagsabstimmung

 Am Tage des Bundestagsbeschlusses für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine fand heute vor der Parteizentrale der Grünen ein Versuch statt, die Partei an ihre ehemaligen Prinzipien von Krisenprävention, Abrüstung, Gewaltfreiheit und aktiver Friedenspolitik zu erinnern.

 Heinrich Böll, der sich mit Petra Kelly an Sitzblockaden gegen die NATO-Aufrüstung beteiligt hat, würde wohl auch vorschlagen, die nach ihm benannte Stiftung schleunigst in Paul-von-Hindenburg-Stiftung umzubenennen – sind doch auch in deren Äußerungen sämtliche Dämme gebrochen, die einer aggressiven Einordnung in den amerikanisch befehligten Stellvertreterkrieg noch entgegenstanden. Um “Freiheit” geht es schon lange nicht mehr.

Die Vergabe des “Petra-Kelly-Preises für das gewaltfreie Lösen von Konflikten” sollte der besagten Stiftung gerichtlich untersagt werden.

                                                                                                                                           

28.April 2022    Freundeskreis Heinrich Böll

Überlegungen zur “Ahnengalerie” des Bundesarbeitsgerichts

Dr. Martin Borowsky ist Richter am Landgericht Erfurt und früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesarbeitsgericht. Seit Frühjahr 2019 forscht er zur NS-Belastung des Gerichts. Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um die erste wissenschaftliche Veröffentlichung zum Thema. Der Beitrag wurde im Dezember 2021 in “Betrifft: JUSTIZ” Nr. 148 veröffentlicht. Wir veröffentlichen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung dieser Zeitschrift und des Autors.

„Mit Stolz kann man auch auf die erste arbeitsgerichtliche Nachkriegsgeneration zurückblicken“

Überlegungen zur „Ahnengalerie“ im Bundesarbeitsgericht

Von Martin Borowsky

„Mit Stolz kann man auch auf die erste arbeitsgerichtliche Nachkriegsgeneration zurückblicken“ – dieses Zitat stammt von Peter Hanau, dem Doyen des deutschen Arbeitsrechts, der zum 60-jährigen Jubiläum des Bundesarbeitsgerichts, das im Mai 1954 gegründet wurde, im Jahr 2014 eine Chronik verfasst hat und bei der Geschichte beginnt. Es ist aufschlussreich, wie Hanau zu dieser Wertung kommt. Er beginnt „Das Bundesarbeitsgericht hat nicht bei Null angefangen, sondern hat im Arbeitsrecht und in der Arbeitsgerichtsbarkeit wichtige Vorgänger“. Dann stellt er Hugo Sinzheimer in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, den Vater des deutschen Arbeitsrechts, der als Jude später verfolgt wurde. Hanau geht knapp auf den Nationalsozialismus ein. Ich zitiere: „Im Nationalsozialismus ging das Recht weitgehend verloren und eine verderbte Politik gewann die Oberhand. Die Gerichte haben dem wenig Widerstand entgegengesetzt, während in den nicht politisch infizierten Angelegenheiten die Rechtsentwicklung normal weiterging, so dass das Bundesarbeitsgericht auf Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts zurückgreifen konnte.“ Interessant, dass Hanau die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts im „Dritten Reich“ nicht als politisch infiziert ansieht. Dann berichtet er noch von widerständigen Arbeitsrichtern im „Dritten Reich“, und vor diesem Hintergrund resümiert er: „Es ist gut zu wissen, dass es solche Vorgänger gibt. Mit Stolz kann man auch auf die erste arbeitsgerichtliche Nachkriegsgeneration zurückblicken, die unter widrigsten Umständen an die Weimarer Tradition anknüpfen und sie selbständig fortentwickeln konnte.“ Im Lichte eines solchen positiven Narrativs – Sinzheimer als jüdischer Vater des Arbeitsrechts, widerständige Arbeitsrichter, unbelastete „saubere“ Judikate des Reichsarbeitsgerichts und der Arbeitsgerichtsbarkeit – begegnet eine Ahnengalerie, wie wir sie am Bundesarbeitsgericht vorfinden, keinerlei Bedenken und Einwänden. Im Gegenteil: Mit Stolz könne man auf die Portraits der Richter:innen in der Ahnengalerie blicken.

Die wenigsten unter Ihnen dürften diese Ahnengalerie vor Augen haben. Sie befindet sich im Konferenzbereich im zweiten Stock. Rechts befinden sich die Portraits der Präsidenten in Öl, links Fotoportraits der in jüngerer Zeit ausgeschiedenen Bundesrichter. Linker Hand gibt es noch einen Konferenzraum, in dem etwa wöchentliche Kaffeerunden stattfinden, wo sich die Richter und Richterinnen versammeln. Dort hängen auch die Portraits der ersten Generation der Bundesrichter und Bundesrichterinnen.

Im Grunde genommen ist die selbstsichere Wertung von Hanau erstaunlich, weil es 2014 an jeder Tatsachengrundlage fehlte und bis heute fehlt. Vor 2014 war nur die Biografie von Nipperdey, dem ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, erforscht worden; danach die Biografien von Marie Luise Hilger und von zwei Richtern, Walter Schilgen und Hugo Berger – dies von Georg Falk, weil sie vorher am OLG Frankfurt tätig waren. Das heißt, Hanau kommt zu dieser Wertung ohne jede Tatsachengrundlage. Dies kontrastiert mit der Jubiläumsschrift für die Bundesrechtsanwaltskammer aus derselben Zeit, die sich sehr eindringlich und intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und auch die belasteten Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer deutlich benennt. Es kontrastiert auch mit meinen vorläufigen, zwischenzeitlichen Erkenntnissen aufgrund der nunmehr bald dreijährigen Forschungen zu der NS-Belastung einzelner Bundesarbeitsrichter.

Ich möchte hier nur kurz in Erinnerung rufen: Von den 25 untersuchten Personen sind rund die Hälfte als erheblich bis schwer belastet anzusehen. Von zehn Juristen, die schon im „Dritten Reich“ in der Justiz tätig waren, halte ich neun für so belastet. Es gibt zwei spätere Vizepräsidenten, Hermann Stumpf und Friedrich Auffarth, die in der SA engagiert waren; es gibt Hans-Gustav Joachim, der eine Dissertation im Geiste des eliminatorischen Antisemitismus verfasst hat, und wir sehen in der Ahnengalerie sechs Juristen, die aufgrund ihrer konkreten Tätigkeit als schwer belastet zu gelten haben. Es handelt sich um zwei ehemalige Rechtsanwälte, Boldt und Holschemacher, die in der Wehrmacht im Divisionsstab als Ic-Offiziere, also als Führungsoffiziere für die Geheime Feldpolizei – das war die Gestapo der Wehrmacht – tätig waren. Dann Schilgen, der am Oberlandesgericht in Kattowitz, heute Polen, im politischen Strafsenat Todesurteile zu verantworten hatte. Kattowitz liegt in unmittelbarer Nähe von Auschwitz mit eigenem Amtsgericht – das konnte ihm nicht verborgen geblieben sein. Weiter Willy Martel und Theodor Simons, die an Sondergerichten – „Panzertruppe der Rechtspflege“ (Freisler) – Todesurteile fällten, die als Mord qualifiziert werden könnten, und schließlich Georg Schröder, der in den Niederlanden der führende Jurist für die Arisierung, Enteignung, Ausplünderung der niederländischen und in die Niederlande geflüchteten Juden war. Furchtbare Juristen. Vor diesem Hintergrund erstaunt die Auffassung von Hanau.

Meine Ausführungen gliedern sich im Weiteren in zwei Teile: die Belastungsgeschichte des Bundesarbeitsgerichts und dann die Suche nach Gründen für die mangelnde Erforschung und Aufarbeitung bis zum heutigen Tag.

Belastungsgeschichte

Was waren die Gelegenheiten und Gründe für eine individuelle oder kollektive Konfrontation der Richter und Richterinnen mit ihrer Vergangenheit, für eine – unabschließbare – Aufarbeitung? Bedauerlicherweise habe ich keine Einsicht in Generalakten bekommen können. Meine Bewertung stützt sich also nur auf Personalakten, Urteile und Publikationen, die ich finden konnte. Ich identifiziere jetzt Aufarbeitungsfenster, Chancen und Möglichkeiten, innezuhalten und herauszufinden, was jemand konkret getan hat. Und auch, was die Institution Bundesarbeitsgericht hätte unternehmen können.

Dreh- und Angelpunkt ist die Entnazifizierung. Die Entnazifizierungsakten liegen zu praktisch allen Bundesrichtern vor. Spannend sind die „Persilscheine“, mit denen sie weißgewaschen wurden und die sie sich auch untereinander ausgestellt haben. Nipperdey hat so dem späteren Vizepräsidenten Stumpf einen Persilschein ausgestellt, und umgekehrt Stumpf Nipperdey. Und wie nicht anders zu erwarten, sind nahezu alle damals betroffenen Juristen als entlastet oder sogar nicht betroffen eingestuft worden. Das waren in der Regel Männer um die 40, hoch ehrgeizig, die zum größten Teil der Generation des Unbedingten angehörten, und deren Karriere noch nicht zu Ende sein sollte. Alle haben es geschafft, dieses Entréebillet in die Nachkriegsjustiz zu bekommen, und konnten so entweder, wenn sie schon vorher Justizjuristen waren, wieder aufgenommen werden, bzw. – als ehemalige Anwälte oder Wissenschaftler – erstmals in die Justiz aufgenommen werden. Nach meiner bisherigen Erkenntnis sind sie fortan unbehelligt geblieben, bis auf zwei oder drei Ausnahmen, bei denen es ganz konkrete besondere Anlässe für eine Befassung gab.

Weitere Gelegenheiten zur Aufarbeitung blieben ungenutzt, so z.B. die Beförderung in der Landesjustiz – die Bundesrichter kamen ja in der Regel über das Landesarbeitsgericht oder ein Oberlandesgericht zum Bundesarbeitsgericht. Da wäre Gelegenheit gewesen, sich mit ihrer Vergangenheit zu befassen. Und die Wahl zum Bundesrichter. In den Akten, die ich in Koblenz einsehen konnte, waren zumindest die formellen Mitgliedschaften in NSDAP, SA, SS erfasst. Aber diese Mitgliedschaften waren kein Hinderungsgrund für die Berufung. Erstaunlich auch, dass sich bisweilen in den Akten der Name von Fritz Bauer als Vertreter der hessischen Justiz findet – auch er hat offenbar keinen Anstoß genommen. Gelegenheit hätte zudem die Beförderung am Bundesarbeitsgericht selbst geboten. Weiter hätte die Blutrichter- und Braunbuchkampagne der DDR den Anstoß geben können, sich der Vergangenheit zu stellen. Dort sind immerhin vier Richter am Bundesarbeitsgericht angeprangert worden. Später ging es um Honorarprofessuren. Ich habe mir zwei oder drei Berufungsvorgänge anschauen können: Dort wird die Vergangenheit so gut wie nicht thematisiert. Es haben auch mehrere NS-Juristen das Bundesverdienstkreuz bekommen, so der erheblich belastete Vizepräsident Hermann Stumpf. Beim Bundespräsidialamt war man darüber jetzt auch erstaunt, denn eigentlich wären Regelanfragen beim Berlin Document Center fällig gewesen, aber die sind wohl unterblieben. Die Ehrungen waren also kein Anlass, Nachforschungen anzustellen. Das gilt auch für die offiziellen Nachrufe und die wenigen biografischen Skizzen, die es zu diesen Richtern gibt. So hat der Vizepräsident Dirk Neumann zu einem Richter am Reichsarbeitsgericht, Johannes Denecke, der noch kurz am Bundesarbeitsgericht tätig war, aus den Personalakten positiv zitiert, aber die negativen Belege daraus schlicht weggelassen, die etwa besagten, dass Denecke Urteile im Geiste des Nationalsozialismus fälle, die in der nationalsozialistischen Presse begeistert gefeiert würden.

Es gab drei Ausnahmen, bei denen die Vergangenheit hochgekommen ist. Zunächst Martel und Simons, die an Sondergerichten Todesurteile gefällt haben. Da wurde eine rote Linie überschritten. Diese beiden Herren durften dann still und heimlich bei vollen Bezügen in den Vorruhestand gehen. Bei Joachim ist Ende der 70er Jahre die Doktorarbeit aufgefallen. Der Spiegel und andere Presseorgane haben skandalisiert – aber da war er schon Präsident des Landesarbeitsgerichts in Frankfurt, und der Skandal hat nicht mehr das Bundesarbeitsgericht erreicht.

Eine individuelle Aufarbeitung im Einzelfall hat mithin nicht stattgefunden. Dies gilt leider auch für die kollektive oder institutionelle Aufarbeitung. Da ist erstaunlich, dass die einflussreiche 68er-Generation, die auch am Bundesarbeitsgericht maßgeblich gewirkt hat, sich offenbar nicht mit der eigenen Geschichte befasst hat. Auch diverse Publikationen in den letzten Jahrzehnten, die Probleme aufgezeigt haben, hat man nicht zum Anlass genommen, in die Tiefe zu gehen. Das gilt etwa für die Doktorarbeit von Marc von Miquel, der schon 2004 die Braunbuchkampagne der DDR auswertet und vier Richter am Bundesarbeitsgericht benennt, oder die großen Forschungen von Hubert Rottleuthner 2010, oder eine Habilitationsschrift von Britta Rehder zum Bundesarbeitsgericht und dessen Frühgeschichte von 2011. Die Autobiografie des Präsidenten Thomas Dieterich aus 2016, exzellent und gut lesbar, spricht gelegentlich Problemfälle an, so Martel am Sondergericht, und zwischen den Zeilen meine ich zu lesen, dass Dieterich eine Aufarbeitung wünschte. Leider ist er kurz darauf verstorben. Ein letztes Beispiel ist die ebenfalls 2016 veröffentlichte Dissertation meiner Thüringer Kollegin Misselwitz zu Marie Luise Hilger.

Diese Publikationen haben nicht wirklich interessiert. Frau Misselwitz zum Beispiel wurde nie eingeladen, ihre Doktorarbeit beim Bundesarbeitsgericht zu präsentieren. Immerhin hat sie einen Preis des Deutschen Juristinnenbundes für ihre Forschung erhalten.

Es gab sogar einen Großversuch: Die damalige Generalbundesanwältin Monika Harms hat 2008 oder 2009 angeregt, dass sich Bundesjustizministerium und Bundesgerichte mit ihrer Vergangenheit befassen. Diese Initiative ist bekanntlich gescheitert. Auf verschlungenen Wegen ist daraus allerdings zum einen das Rosenburg-Projekt entstanden, zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesjustizministeriums, und zum anderen eine Ringvorlesung an der Universität Jena zu der frühen Rechtsprechung der Bundesgerichte. Gerade Jena geht vorzüglich voran bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Was allerdings die Bundesgerichte angeht, ist das Projekt im Sande verlaufen. Laut Jena war die Bereitschaft der Bundesgerichtspräsident:innen sehr unterschiedlich ausgeprägt, Akten zur Verfügung zu stellen. Es werden auch Finanzprobleme angeführt. Das Bundesarbeitsgericht soll sich sogar – als „nachkonstitutionelles Gericht“ – als nicht betroffen angesehen haben. Eine Aufarbeitung oder auch nur Thematisierung einer möglichen NS-Belastung fand nicht statt.

Zusammengefasst: Es gab ein Nicht-Wissen, aber es war auch Nicht-Wissen-Wollen, so dass sich bis heute der Mythos des unbelasteten Gerichts halten konnte.

Erklärungsversuche

Das zweite große Themenfeld sind die Erklärungsversuche – eine Annäherung, warum man sich nicht mit der eigenen Geschichte befasst hat. Zunächst banal: schlichtes Desinteresse und andere Prioritäten. Auch kollegiale Rücksichtnahme, Takt. Ich habe schon Dirk Neumann erwähnt, dessen Biografie ich wegen des fehlenden Ablaufs von Schutzfristen nicht erforsche. Man nimmt zudem Rücksicht auf Angehörige.

Weiter gibt es wissenschaftliche Nähebeziehungen: Das deutsche Arbeitsrecht ist eine überschaubare geschlossene Welt, un petit monde, in der man sich kennt, austauscht, mit vielen Vernetzungen und Freundschaften und Feindschaften. Da nimmt man Rücksicht aufeinander. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es den Übervater Nipperdey aus Köln gab, den ersten Präsidenten. Köln ist maßgeblich für die erste Richtergeneration. Nipperdey hatte bei sehr vielen Berufungen und Wahlen zum Bundesarbeitsgericht seine Hände im Spiel. Das spiegelt sich auch in der regionalen Herkunft der ersten Richter wider. Sie kamen zum Großteil entweder aus NRW oder aus Hessen. Bremer, Saarländer, Bayern waren lange nicht vertreten. Ich erinnere an diesen berühmten Historikertag, wo Schüler meinten, ihre Lehrer verteidigen zu müssen – so ähnlich stelle ich es mir auch hier vor: wissenschaftliche Nähebeziehungen. Belastete Juristen als Namensgeber für führende arbeitsrechtliche Kommentare … Das führte dann dazu, dass man schwieg. Ein kollektives und kommunikatives Beschweigen. Auch nachdem meine ersten Forschungsergebnisse über die FAZ und andere Medien wie den MDR ab Dezember 2020 in die Öffentlichkeit gekommen sind, herrscht Schweigen in der Welt des Arbeitsrechts. Die führende arbeitsrechtliche Zeitschrift NZA hat auf diverse Zuschriften von mir keinerlei Reaktion gezeigt. Siehe Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren“

Familiäre und gesellschaftliche Verflechtungen treten hinzu. Es fehlt allerdings an einer Richtersoziologie, anders als in den USA: Zur Herkunft, Einstellung usw. der Bundesrichter:innen liegt kaum Forschung vor. Ich gehe davon aus, dass es eine Selbsterneuerung der deutschen juristischen Elite gibt – wesentlich erleichtert durch Recht und Praxis der Bundesrichterwahlen. Eine Pädagogik- Professorin, die bei vielen Berufungen mitwirkt, hat mich gefragt, ob es denn üblich sei, dass die Kinder und Enkel von Jura-Professoren wieder Jura-Professoren würden. Family-owned success stories? Ich weiß es nicht, aber anekdotisch gibt es durchaus Anhaltspunkte.

Damit komme ich zu einem weiteren möglichen Motiv: Die Furcht vor Lawfare, also davor, vor Gericht gezerrt zu werden. Der Doyen des Forum Justizgeschichte, Helmut Kramer, kann davon ein Lied singen. Wir können aktuell die Politik der Hohenzollern bewundern. Ostrazismus, Ausgrenzung, der Vorwurf der Nestbeschmutzung bis hin zu Gerichtsverfahren. Ich selbst muss auch sehr vorsichtig sein, um solche Prozesse zu vermeiden. Das hat abschreckende Wirkung, einen chilling effect.

Für zentral halte ich die Furcht der Institution vor Reputationsverlust bis hin zur Delegitimation der eigenen Rechtsprechung. Damit sind wir bei der Frage nach den tiefen Schichten der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts angekommen. Das Arbeitsrecht ist bekanntlich stark richterrechtlich geprägt. Das Bundesarbeitsgericht war vor allem in der Anfangszeit ein Ersatzgesetzgeber. Es gibt sachliche Kontinuitäten. Ich habe nach meinem Gang an die Öffentlichkeit Zuschriften von überallher zu solchen Kontinuitäten bekommen. Ich erwähne hier nur das – in Deutschland – restriktive Streikrecht. Man hat wohl Angst davor, die Büchse der Pandora zu öffnen, wie Annette Weinke vor kurzem befand. Und ich frage mich, ob es nicht doch immer wieder Kollegen und Kolleginnen gegeben hat, die in die Tiefe gegangen sind und einzelne Fakten ausgegraben haben – und sie dann lieber nicht veröffentlichten.

Spannend zum Abschluss: Es gab 2011 eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag zur NS-Belastung von Bundesbehörden und Bundesgerichten. In ihrer Antwort hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass es am Bundesarbeitsgericht für die Richter:innen bis Jahrgang 1927 15 Mitgliedschaften in der NSDAP gab. Ich wollte in Erfahrung bringen, woher die Bundesregierung diese Kenntnis hatte, und habe über die Initiative „FragDenStaat“ eine offizielle Anfrage an das Bundesinnenministerium geschickt, das damals die Antworten auf die parlamentarische Anfrage gebündelt hatte. Das BMI teilte mit, dies sei vom Bundesarbeitsministerium zugearbeitet worden. Auf Anfrage dort erfuhr ich, die Auskünfte kämen aus dem Bundesarbeitsgericht selbst … Die Verwaltung des Bundesarbeitsgerichts schrieb mir dann:

„Die gewünschte Auskunft zu den Namen der NSDAP-Mitglieder und NSDAP-Mitgliedsnummern kann nicht erteilt werden. Die Personalakten der zwischenzeitlich verstorbenen Bundesrichter sind in den letzten Jahren vollständig an das Bundesarchiv abgegeben worden. Hausinterne Aktenvorgänge zu Parlamentarischen Anfragen werden in regelmäßigen Abständen vernichtet. Dies betrifft auch die Unterlagen für die Zuarbeit zu der Antwort der Bundesregierung vom 14. Dezember 2011 (Ds.17/8134) auf eine parlamentarische Anfrage. Ob und inwieweit die NS Belastung auf einer Mitgliedschaft in der NSDAP beruhte, um wen es sich handelte und wie die genannte Zahl 15 zustande kam, lässt sich daher heute nicht mehr nachvollziehen.“

Auch da: Fehlanzeige. Immerhin steht fest, dass man am Bundesarbeitsgericht schon 2011 die Akten nach einer NS-Belastung durchforstet hat. Es stellt sich die brisante Frage, wer wann von einer NS-Belastung wusste, und untätig blieb. Die Ahnengalerie wurde jedenfalls nicht als anstößig empfunden.

Ausblick: Was tun mit der Ahnengalerie?

In der Tiefe denke ich, dass man eine solche Ahnengalerie nur darum belassen konnte, weil man die Opfersicht vollkommen abspaltete. Ich war diese Woche zu einem „Weimarer Salon“ im Hotel Elephant mit Bodo Ramelow und vier Überlebenden des Holocaust. Wir haben dort von einem Auschwitz-Überlebenden erfahren, dass ungarische jüdische Kinder lebend ins Feuer geworfen wurden. Das unermessliche Leid der Opfer muss in den Blick genommen werden, nach innen wie nach außen. Ich frage mich, wie die homosexuellen Richter:innen am Bundesarbeitsgericht, die heute dort tätig sind, damit umgehen, dass ihr Fotoportrait, das man in der Regel zum Ausscheiden bekommt, in der Nähe des Porträts eines Willy Martel hängen wird, der am Sondergericht Mannheim zwei junge, geistig zurückgebliebene Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Orientierung auf das Schafott geschickt hat. Oder ich frage mich, wie man damit umgeht, dass ein Georg Schröder, der in den Niederlanden – im Wissen um die Shoa – zahllose Juden ausgeplündert hat, heute – 2021 – von der Ahnengalerie auf die wöchentlichen Kaffeerunden oder Gäste aus Israel und den Niederlanden herab lacht. Der Vater des deutschen Arbeitsrechts Hugo Sinzheimer hat als geflüchteter Jude in den Niederlanden die Befreiung nur kurze Zeit überlebt …

Es hängen in der Ahnengalerie Juristen, die den Dolch des Mörders unter der Robe trugen oder Wegbereiter der Shoa waren. Daher lautet meine abschließende Frage: Wie können wir als Citoyens, als aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger angesichts des absolut Bösen eine solche Ahnengalerie rechtfertigen?

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Der Artikel beruht auf dem Vortrag “Überlegungen zur Ahnengalerei im Bundesarbeitsgericht” im Rahmen der Jahrestagung des Forum Justizgeschichte am 25. September 2021 „Wie Justitia zurückblickt – Erinnerungskulturen der Deutschen Justiz“. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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Hier geht es zur Veröffentlichung in “Betrifft: JUSTIZ” Nr. 148

Der grüne Weg in den Dritten Weltkrieg

Ein Blick zurück ist sinnvoll. Er macht deutlich, wo der Startschuß zur heutigen Entwicklung, zu einem Krieg mitten unter uns erfolgte. Es war ziemlich unerwartet, als vor fast einem Jahr der neue US-Präsident Biden vom russischen Präsidenten Putin als einem „Killer“ sprach. Bis zu diesem Interview war die Welt von einem unmittelbar bevorstehenden Waffengang zwischen China und dem Westen über Taiwan, die Uiguren oder was auch immer ausgegangen. Mit dem Killer-Interview wurden die Schalter herumgelegt …” .

So beginnt ein kurzer Beitrag vom 13. April 2022 in Seniora.org von Willy Wimmer (CDU), zwischen 1985 und 1992 verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU, dann Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Wimmer zur EU: ” …Von Friedensbemühungen keine Spur, dafür ist man viel zu sehr Partei geworden. Es herrscht eine Stimmung in EU-Europa, die vor keine Dämonisierung zurückweicht. Sehenden Auges werden Waffen geliefert, bei denen es nicht mehr von einem selbst abhängt, ob die Türschwelle zum Dritten Weltkrieg überschritten ist. Es sind nicht die Knobelbecher sondern die Stöckelschuhe, die diesmal den Weg ins Verderben auf das Pflaster schlagen“.

den Beitrag von Willy Wimmer lesen

Klimastreik, 25.03.2022

Klimastreik

Krieg ist kein Mittel den Frieden und das Klima zu erhalten.

Der Globale Klima Streik am 25. März 2022 war mal wieder einer der Höhepunkte der FridaysForFuture Bewegung. Als die Planung begann, gab es noch keine Krieg in der Ukraine. Deshalb wurde in den Reden zu Beginn und bei der Abschlusskundgebung immer wieder darauf Bezug genommen. Krieg ist kein Mittel den Frieden und das Klima zu erhalten. Aber auch die neue Bunderegierung kam nach 100 Tagen in der Kritik nicht zu kurz.

22.000 Menschen alleine in Berlin wurden mobilisiert. Ja, es war hauptsächlich die Jugend die unter dem Motto #PeopleNotProfit zum zehnten Globalen Klimastreik auf die Straße gegangen ist. Es waren aber auch die Omas gegen rechts und Großväter dabei. Auch der gewerkschaftliche Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall folgte dem Aufruf. Unser Transparent regte zu einigen Diskussionen an.

Die Gewerkschaften werden immer als Behüter der Arbeitsplätze im traditionellen Energiebereich, Kohle, Atom und Gas angesehen dabei sind die Arbeitsplätze in den alternativen Energie sicherer und in der Zwischenzeit haben sie einen größeren Anteil. Klima Rettung ist für uns ein Selbstverständnis, deshalb setzen wir uns als IG Metaller*innen für eine schnelle Transformation ein.

Das Klima kann nur einmal gerettet werden und zwar JETZT!

Dieser Text von Klaus Murawski wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht, 30.03.2022

Offener Brief der IALANA an den Bundeskanzler

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

dieser Krieg in Europa hätte verhindert werden können und hätte verhindert werden müssen!

Mit der fehlenden ernsthaften Bemühung, über die von Russland am 17. Dezember 2021 vorgelegten Vertragsentwürfe über Sicherheitsgarantien substanzielle Verhandlungen zu führen, haben Sie es gemeinsam mit den USA und den NATO-Partnern versäumt, einen wirksamen Versuch zu unternehmen, den Frieden für die Ukraine und für Europa zu bewahren.

Nun ist die „militärische Spezialoperation“ im Gang – welch ein zynischer Begriff für den von Russland entfesselten Angriffskrieg gegen die Ukraine – und ein Ende von Tod, Zerstörung und Flucht ist nicht abzusehen. Russland hat mit der großrussisch nationalistischen Haltung seines Präsidenten, wonach es sich bei der Ukraine nicht um einen souveränen Staat, sondern um „Kleinrussland“, mithin einen Teil Russlands handele, den Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglieder der Vereinten Nationen in Art. 2 Abs. 1 der Charta der Vereinten Nationen verletzt.

Der militärische Angriff auf die Ukraine stellt einen Verstoß gegen das absolute Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 der Charta der VN dar. Russland hat auch keine Beweise dafür vorzulegen, dass der Angriff zur Abwendung eines Völkermords der Ukraine an der russischen Minderheit in den ostukrainischen Verwaltungs-bezirken von Donezk und Lugansk gerechtfertigt ist.

Es spricht für sich, dass Russland am 07. März 2022 der mündlichen Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag ferngeblieben ist, wo die Gelegenheit bestanden hätte, hierzu vorzutragen. Der einstweiligen Anordnung, die der IGH am 16.03.2022 auf Antrag der Ukraine gegen Russland erlassen hat, wonach alle Kampfhandlungen sofort einzustellen sind, wird von Russland missachtet.

Der russische Präsident trägt für die Entfesselung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs ebenso die persönliche Verantwortung wie für die Vielzahl von unterschiedslosen Angriffen auf die Zivilbevölkerung durch den Beschuss von Wohngebieten, die Verletzungen des humanitären Völkerrechts darstellen. Hinzu kommt die Androhung der Anwendung von Atomwaffen durch den russischen Präsidenten und den Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrats, die nach dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 08.07.1996 gegen das Völkerrecht verstößt.

Sollte am Ende dieses Krieges im Rahmen einer Verhandlungslösung ein neutraler Status der Ukraine herauskommen, werden die Menschen in der Ukraine zu recht die Frage stellen, warum sie unbeschreibliches Leid und die Zerstörung ihrer Städte und ihrer Heimat ertragen mussten für ein Ergebnis, das man auch schon zuvor auf dem Verhandlungsweg hätte erzielen können, ohne bewaffneten Konflikt.

Warum sollte denn der Einwand, den die Bundesregierung gemeinsam mit der französischen Regierung im April 2008 auf der NATO-Ratstagung in Bukarest gegen den Beitritt der Ukraine erhoben hat, im Dezember 2021 nicht mehr zutreffend sein? Ein Verstoß gegen russische Sicherheitsinteressen hieß es damals, auf deren Berücksichtigung die NATO sich bei aller grundsätzlichen Anerkennung der souveränen Rechte jedes Staates, sich frei für ein Bündnissystem zu entscheiden, gegenüber Russland verpflichtet hatte. Hatte Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 18.12.2013 mit Blick auf den sich zuspitzenden Konflikt in der Ukraine nicht gesagt: „Wir müssen aus dem Entweder – Oder herauskommen“, wonach sich die Ukraine zwischen der Europäischen Union und Russland entscheiden müsse. „Hieran werden wir sicherlich weiter intensiv arbeiten.“ Warum haben Sie als Bundeskanzler diesen Faden nicht aufgenommen?
 
Wieso haben Sie darüber hinaus den Rat erfahrener deutscher Diplomaten, Militärs und Friedensforscher in den Wind geschlagen, die in ihrem Appell „Raus aus der Eskalationsspirale“ vom 05.12.2021 dazu aufgerufen haben, ein Moratorium für alle Truppenverlegungen, Aufrüstungsmaßnahmen und militärischen Manöver vorzuschlagen, um in einem Zeitraum von zwei Jahren gemeinsam mit Russland eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa auszuhandeln? Das hätte bedeutet, Gorbatschows Vorschlag für ein gemeinsames Haus Europa und Putins Vorschlag für einen gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsraum von Lissabon bis Wladiwostok beim Wort zu nehmen.

In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25.09.2001 hatte er gesagt: „Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“ Dafür war er mit stehenden Ovationen aller Fraktionen bedacht worden.

Was folgte, war weitere Politik des politischen und militärischen Containments Russlands durch die Osterweiterung der NATO, die Stationierung von Truppen an der russischen Grenze im Baltikum und den Bau von Raketenabschussrampen in Polen und Rumänien.

Neben dem Status der Ukraine hätte es in den von Russland vorgeschlagenen Verhandlungen auch um atomare Abrüstung gehen sollen. Vorgeschlagen war unter anderem, dass sowohl Russland als auch Amerika Kurz- und Mittelstreckenraketen in einer solchen Entfernung voneinander stationieren, dass sie von den Stationierungsorten aus den anderen nicht erreichen können.
In diesem Zusammenhang erinnern wir daran, dass die Beendigung der Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden zum Zweck der nuklearen Teilhabe von den vorangegangenen Bundesregierungen und zuletzt auch von Frau Bundesaußenministerin Baerbock von dem Ergebnis von Paketlösungen in atomaren Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russland abhängig gemacht wurde.

Warum hat die Bundesregierung im Rahmen der NATO im Dezember nicht darauf gedrängt, in solche Abrüstungs-verhandlungen einzutreten? Dies versäumt zu haben, stellt einen Verstoß gegen Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags dar, wonach die Signatarstaaten dazu verpflichtet sind, mit dem ernsthaften Willen über Schritte zu einer vollständigen nuklearen Abrüstung zu verhandeln.
 
Stattdessen haben Sie sich dazu entschieden, im Rahmen Ihres 100 Milliarden Euro Aufrüstungsprogramms für die nukleare Teilhabe Deutschlands nun in den USA die modernsten verfügbaren atomaren Trägerwaffen, F 35 Tarnkappenbomber, zu kaufen.

Sie wissen sehr gut, dass sowohl die USA als auch Deutschland in dem Augenblick, in dem die Piloten des Jagdgeschwaders 33 in Büchel die dort stationierten US-amerikanischen Atomwaffen übernehmen, den Nichtverbreitungsvertrag verletzen würden. Denn den USA ist es nach dem Nichtverbreitungsvertrag verboten, Atomwaffen an einen Nichtatomwaffenstaat zu übergeben. Ebenso ist es Deutschland als Nichtatomwaffenstaat verboten, Atomwaffen von einem Atomwaffenstaat anzunehmen.

Die von Ihnen geplante Anschaffung der F 35 Tarnkappenbomber für den Einsatz von Atomwaffen dient somit nicht einer regelbasierten Außen- und Sicherheitspolitik. Vielmehr wird damit ein Bruch des Völkerrechts vorbereitet.
 
Schließlich sind die von Ihnen veranlassten Lieferungen von Waffen an die Ukraine und die Finanzierung ukrainischer Waffenkäufe mit dem akuten Risiko einer Ausweitung des Krieges verbunden. Sie bringen unser Land damit in Gefahr, in den Krieg verwickelt zu werden.
 
Zwar ist es gemäß Artikel 51 der UN-Charta völkerrechtlich zulässig, einem angegriffenen Land im Rahmen kollektiver Verteidigung zu Hilfe zu kommen. Hierzu bedarf es keiner speziellen Bündnisverpflichtung wie etwa durch den NATO-Vertrag. Man muss sich aber entscheiden, ob man im Rahmen einer solchen kollektiven Verteidigung den angegriffenen Staat mit Waffen beliefern und damit selbst zur Kriegspartei werden will  oder ob man neutral bleiben möchte. Mit dem Status eines neutralen an einem bewaffneten Konflikt unbeteiligten Staat ist aber die Lieferung von Waffen wie die von Deutschland an die Ukraine übergebenen  1.000 Panzerabwehrwaffen, die 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“ sowie 2.700 Flugabwehrraketen vom Typ „Strela“ und die Finanzierung von Waffenkäufen in Milliardenhöhe unvereinbar. Trotz aller Bekenntnisse dazu, dass die NATO keine Kriegspartei werden will, kommt es darauf an, ob Russland ein Land in völkerrechtlich vertretbarer Weise als am Krieg beteiligt einstuft. Dies kann spätestens dann virulent werden, wenn die Gasimporte aus Russland eingestellt werden sollten.

Herr Bundeskanzler Scholz, wir appellieren an Sie:

  1. Stoppen Sie die Waffenlieferungen an die Ukraine! Verhindern Sie, dass aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein unkontrollierbarer Flächenbrand und am Ende ein III. Weltkrieg wird! Unsere ganze Unterstützung der Ukraine muss der humanitären Hilfe für die vom Krieg betroffenen Menschen und den diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Krieges gehören!
  2. Setzen Sie sich gegenüber der Regierung der Ukraine dafür ein, dass die ukrainischen Städte zu „offenen Städten“ im Sinne des Art. 59 Abs. 1  des 1. Zusatzprotokolls zu den Rotkreuzabkommen erklärt werden, die vom Krieg zu verschonen sind. Es muss verhindert werden, dass die Kampfhandlungen in die Städte getragen und die zivile Bevölkerung noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Nur so kann eine noch schlimmere humanitäre Katastrophe und eine weitere Massenflucht vermieden werden!
  3. Setzen Sie sich bei beiden Kriegsparteien ein für einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen. Einen militärischen Sieg kann es für keine der beiden Seiten geben. Eine Lösung des Konflikts und einen Interessenausgleich gibt es nur am Verhandlungstisch. Deutschland kann zu einer Verhandlungslösung einen wichtigen Beitrag leisten – allerdings nur als ehrlicher Makler bei Wahrung militärischer Neutralität.
  4. Treten Sie einer um sich greifenden Russenfeindlichkeit entgegen! Die Menschen in Russland können ebenso wenig etwas für die Entscheidung des russischen Präsidenten wie die russischen Familien, die als nationale Minderheit in der Ukraine leben. Dies gilt auch für alle Sanktionsmaßnahmen. Ebenso wie vom Krieg sind auch von Sanktionen überwiegend diejenigen betroffen, die nichts mit den getroffenen Entscheidungen zu tun haben! Erst Recht gilt dies für Künstler, Wissenschaftler und Sportler und den Austausch auf dem Gebiet der Wissenschaften, der Kultur und des Sports. Dies muss bei jeder Sanktionsentscheidung bedacht werden. Ein totaler Sanktions- und Wirtschaftskrieg schadet den Energieinteressen Deutschlands und den auf russische Getreidelieferungen angewiesenen Menschen in aller Welt. Er erschwert den friedlichen Neuanfang der Beziehungen, der am Ende jedes Krieges stehen muss.
  5. Kehren Sie um von Ihrem Weg der Aufrüstung und der Anschaffung von F 35 Atombombern. Die von Ihnen gewählte Politik des militärischen Containment, des Wirtschaftskriegs und der Isolierung Russlands wird die Konfrontation in gefährlicher Weise weiter eskalieren. Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der Charta der Vereinten Nationen fordert friedliche Streitbeilegung!

Mit freundlichen Grüßen
Otto Jäckel
Im Namen des Vorstands von IALANA Deutschland e.V.

»Wir haben mit 27 Millionen Menschenleben bezahlt«

Die Zeitungjunge Welt” druckt in ihrer heutigen Ausgabe einen Protest russischer Veteranen des Zweiten Weltkrieges gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine ab.

Der Russische Veteranenverband erklärte, er unterschreibe »jedes Wort des Aufrufs« (siehe unten der link zu “junge Welt”) und verlinkte am 6. März den Protest-Aufruf mit folgendem Vorspann auf seiner Website:

»Heute, da die deutsche Regierung beschlossen hat, tödliche Waffen an die Ukraine zu liefern, hat sich die Welt verändert – die Umrisse eines neuen Weltkrieges sind mehr als deutlich sichtbar. Und wieder einmal ist es Deutschland! Aber es gibt ehrliche Menschen in Deutschland, Antifaschisten, und wir hoffen, dass diese Botschaft bei ihnen ankommt. Menschen, die zwischen 1927 und 1945 geboren wurden, haben in Russland den Status von ›Kriegskindern‹. Dieser Brief kann von all jenen unterzeichnet werden, die diesen Krieg überlebt haben.«

Bisher haben wir nicht gehört, dass von Menschen aus unserem Land dieser Zusammenhang beachtet worden wäre: Nach 75 Jahren töten erneut deutsche Waffen russische Soldaten. Schon aus diesen Grund verweisen wir hier auf diesen Protest. Auch wenn es darin Aussagen geben mag, die wir nicht teilen mögen, steht für uns fest: Die Bundesregierung macht Deutschland mehr und mehr zur Kriegspartei. Da sagen wir: Ohne uns.

Hier die Dokumention des Aufrufs in der Junge Welt vom 30. März 2022, übersetzt von Arnold Schölzel

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Für Haltung abgestraft

“Im Einklang mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz straft das Verwaltungsgericht (VG) Berlin mit Beschluss vom 18. März die junge Welt im vollen Umfang »auf Verdacht« ab. Die jW ist eben ein linkes, antifaschistisches Presseorgan, anders als die rechtsradikale Junge Freiheit. Deren »journalistische Freiheit« als »hohes Verfassungsgut« hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) noch in einem Grundsatzurteil von 2005[1]BVerfGE 113, 63–88 vor jedweder Nennung in den Verfassungsschutzberichten des Bundes oder eines Landes geschützt, da hierzu auch ein »auf Anhaltspunkten beruhender Verdacht« nicht genüge. Bei der jW aber genüge das, meint das VG. Eigenes verfassungsfeindliches Äußern und Handeln der jW sei zwar nicht nachzuweisen, jedoch der »Raum«, den ihre zuweilen distanzlose Berichterstattung solchen gebe. Das schon könne »Linksaktivismus« unterstützen”
So beginnt Rechtsanwalt Hans E. Schmitt-Lermann am 22. März 2022 seinen Kommentar in der Jungen Welt, den wir mit freundlicher Genehmigung der Jungen Welt und des Autors hier wiedergeben. Es geht um einen Eilantrag der Jungen Welt gegen die Bundesrepublik Deutschland, die Junge Welt bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in dem jährlichen Verfassungsschutzbericht zu erwähnen. Ein Beschluss in der Hauptsache steht also noch aus.
Rechtsanwalt Hans E. Schmitt-Lermann kommentiert weiter:
“Vor allem belastend sei die »Regelmäßigkeit« (!), mit der ihr als »marxistisch« bezeichnetes Vokabular – »Sozialismus«, »Kapitalismus«, »Klassenkampf«, »Klasse«, »Profit«, »Mehrwert«, »Verelendung«, »Unterdrückung«, »Befreiungskampf« – nicht etwa nur einer unbedenklichen »soziologischen Betrachtung« diene, sondern – »regelmäßig« ! – bei anderweitig bereits definitiv sanktionierten Verbänden und Bestrebungen auftauche, die nun diese gemeinsamen Begriffe und damit die jW ausreichend kontaminierten. Mitgefangen, mitgehangen. Das Denkmuster hierfür: Schraubenschlüssel findet man »regelmäßig« bei Einbrechern, und Schaufeln »regelmäßig« bei Totengräbern; bis zum Gegenbeweis seien die Besitzer letzteren zuzuordnen.

Das VG dürfte nach diesem Denkmuster weder fähig noch willens sein aufzudecken, welche Denk- und Handlungsinhalte der historischen Demokratie- und Arbeiterbewegung überhaupt noch außer »Verdacht« und unsanktioniert übrigblieben, denn dort finden sie sich zuhauf als »reale Anhaltspunkte«. Es bleibt rechtstotalitär.

»Nach allgemeiner Meinung« – so das VG – sei die Quelle hierfür das KPD-Verbotsurteil von 1956, zumindest in seinen »tragenden Gründen«. Dahingegen hat das KPD-Urteil »nach allgemeiner Meinung« als Ärgernis aus dem Kalten Krieg, aus dessen Abgründen es herauszuzerren peinliches Alleinstellungsmerkmal des VG Berlin ist, längst objektiven und unbestrittenen Geltungsverlust erfahren (selbst die Berufsverbotsurteile haben einen Bogen darum herumgeschlagen). Gründe, die kein Urteil mehr »tragen«, sind keine »tragenden Gründe« im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes mehr.

Außerdem steht derlei mitnichten darin. Das Zeugnis höchster Authentizität hierfür lieferten gerade die damaligen Berichterstatter (Verfasser) des KPD-Urteils, die Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Martin Drath und Prof. Dr. Konrad Zweigert in ihren Gutachten von 1975/76 (sie bestätigten die anderen beteiligten noch lebenden Richter und 18 führende Staatsrechtler und Politologen): Das Urteil beruhe auf zeitspezifischen Fakten und Quellen. »Niemals haben wir die traditionell sozialistischen Kernforderungen oder die marxistische Gesellschaftslehre vom Klassenkampf als solche (…) diskriminiert«, heißt es. An weiterer Stelle postulieren sie sogar, dass Demokratie ein grundlegendes »Spannungsverhältnis zwischen (…) Kapitalismus und Demokratie (…) in Rechnung stellen« müsse. Der Spiegel zitiert deren »Kernpassagen, dass das Verbotsurteil weder die Theorie des Marxismus-Leninismus noch den Kommunismus schlechthin für verfassungswidrig erklärt hat«[2]»Bayern: Außer Betracht«, 16/1982 v. 19.4.1982, S. 60 f..

Neben diesem Aufweis »regelmäßiger« begrifflicher und praktischer Teilschnittmengen mit gewissermaßen schon überführten Personen und Vereinen unterstreicht das VG Berlin noch einen anderen gleichgewichtigen Diskriminierungsgrund: eine höchst unzureichende Distanzierung der jW und ihrer Beiträger von »politischer Gewalt«.

Diese riefen freilich nicht direkt zu solcher auf. Aber: Jeder soziale oder politische Kampf zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen, im In- und Ausland, namentlich der »unterentwickelten« Welt, werde von den jW-Autoren mit außergewöhnlichem Engagement aufgenommen – und ausnahmslos immer nehmen sie Partei für die von ihnen so genannten »Unterdrückten«, oft gegen die mit uns »wertebasiert« verbündeten sogenannten Unterdrücker, namentlich die Regierungen und führenden Gesellschaftsschichten; seien es Kurden in der Türkei, Schwarze gegen das Apartheidregime, chilenische Gewerkschafter gegen das Pinochet-Regime, Algerier und Vietnamesen gegen Kolonialisten oder kapitalbasierte Intervenienten (usw. usf. mit seitenweisen Fundstellen in alten und neuen Ausgaben). In Geschichte und Gegenwart eigen sei diesen Bewegungen aber immer das Merkmal aufständischer Gewalt, das liege in deren Natur, und die jW befürworte implizit Gewalt. Die Gewalt der Regierenden dahingegen geißele sie ausdrücklich, obwohl diese in allen Rechtsordnungen eben das anerkannte »Gewaltmonopol« besitzen und besitzen müssen.

Halt! Ein gewichtiges Gegenbeispiel führt das VG Berlin an: Venezuela! Die jW sympathisiere tatsächlich einmal nicht mit Aufständischen, sondern mit einem »Regierenden«, dem immer noch nicht vom US-favorisierten Guaidó weggeputschten frei gewählten Präsidenten Nicolás Maduro, einem wie auch immer gearteten »Linken«. Hier aber wären der Bundesverfassungsschutz und das VG Berlin höflich darauf aufmerksam zu machen, dass zumindest dieser Teil der Kampagne gegen die jW neuerdings überholt ist: Biden will das Öl der Venezolaner und versöhnt sich angelegentlich mit Maduro. Schon peinlich”.


Zum Begriff Extremismus als Kampfbegriff hier weiterlesen


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References

References
1 BVerfGE 113, 63–88
2 »Bayern: Außer Betracht«, 16/1982 v. 19.4.1982, S. 60 f.

Unverteidigte Städte in der Ukraine

“Die Vorstellung vom möglichen Frieden ist offensichtlich immer noch so sehr militarisiert, dass in ihnen Überlegungen einer Kapitulation oder der Erklärung zu „unverteidigten Städten“ als blanker Defätismus undenkbar sind. Eine Kapitulation ist ein offensichtliches no go, auch weil der ehemalige ukrainische und moskaunahe Präsident Viktor Janukowitsch das vom gegenwärtigen Präsidenten Wolodomyr Selenski gefordert hat. Wäre es aber nicht möglich, die Waffenstillstandsverhandlungen dadurch zu beschleunigen, dass die derzeit belagerten und am meisten gefährdeten Städte Kiew, Mariupol und Charkiw, aber auch Odessa und andere Orte sich zu „unverteidigten Stätten“ erklären? Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hat diese Möglichkeit zum ersten Mal in Artikel 25 definiert …” so Norman Paech. Den ganzen Beitrag auf der homepage von Norman Paech lesen