Recht auf politischen Streik: Vortrag vor dem Arbeitskreis der Senioren der IG Metall Berlin

Auf Einladung des Arbeitskreises der Senioren der IG Metall Berlin beantwortete Benedikt Hopmann am 23. Februar 2022 neun Fragen, die der Arbeitskreis zum politischen Streikrecht gestellt hatte. Auf den Vortrag folgte eine lebendige Diskussion. Der Referent bedankte sich für die Einladung und die Möglichkeit zu einem so wichtigen Thema vor 38 Metallerinnen und Metallern sprechen zu können.  

Hier der Vortrag:

Inhaltsverzeichnis:

  1. Frage: Was heißt politischer Streik überhaupt?
  2. Frage: Ist der politischer Streik erlaubt – ja/nein? Unter welchen Bedingungen? Verankerungen im Grundgesetz?
  3. Frage: Historie des politischen Streiks? Auch Historie der Rechtsprechung dazu!
  4. Frage: Gefährdet der politische Streik die Demokratie? Der politische Demonstrationsstreik.
  5. Frage:  Andere Staaten im Vergleich und europäisches Völkerrecht?
  6. Bruch des Völkerrechts und Durchsetzungsbemühungen
  7. Frage: Widerspricht das Verbot des politischen Streiks UN-Regeln?
  8. Frage: Könnte der politische Streik in die Satzung der IG Metall aufgenommen werden?
  9. Frage: Wozu könnte man den politischen Streik nutzen, wenn es ihn gäbe?
  10. Frage: Welche ersten Schritte sind möglich?
  11. Frage: Wie könnte das Streikrecht umfassend abgesichert werden?
  12. Frage: Wie streiken Rentner?        
1. Frage: Was heißt politischer Streik überhaupt?

Antwort:

Ein politischer Streik ist ein Streik, der sich gegen den Staat richtet. Ein politischer Streik zielt auf das sogenannte hoheitliche Handeln des Staates. Mit hoheitlichem Handeln ist  das staatliche Handeln „von oben nach unten“ gemeint, also

  • das Handeln der Regierung oder öffentlichen Verwaltungen (Verwaltungsakte bzw. irgendwelche Bescheide) oder
  • Entscheidungen von Gerichten (Urteile) oder
  • Beschlüsse von Parlamenten (Gesetze).

Insbesondere ist also ein Streik gegen ein Gesetzesvorhaben des Bundestages ein politischer Streik. Überdies wird auch ein Streik gegen gesellschaftliche Missstände als politischer Streik gewertet.

Zur Abgrenzung des Begriffs politischer Streik im sozialpolitschen und juristischen Sinne hier lesen.

2. Frage: Ist ein politischer Streik erlaubt- ja/nein? Unter welchen Bedingungen? Verankerungen im Grundgesetz? Historie dazu?

Antwort:

In einem Interview mit dem Spiegel belehrte Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Studentin Luisa Neubauer, eine Organisatorin der „fridays for future” Demonstrationen: „Sie sagen, dass Sie für das Klima streiken, aber in Deutschland kennen wir keinen politischen Generalstreik. Unser Streikrecht richtet sich immer auf Forderungen, die ein Arbeitgeber liefern kann“.

Man muss dem Wirtschaftsminister fast dankbar sein. Denn damit hat er den politischen Streik überhaupt wieder zu einem Thema gemacht. Er ja auch hätte einfach sagen können: „Schüler können nicht streiken“, weil sie keine abhängig Beschäftigten sind. Doch Altmaier belehrt über den „politischen Generalstreik“, den wir in Deutschland „nicht kennen“. Interessant ist, dass der Anstoß, sich mit dem politischen Streik zu beschäftigten, nicht von den abhängig Beschäftigten oder ihren Gewerkschaften kam, sondern von der jungen Klimabewegung, die seit 2019 immer wieder Freitags während der Schulzeit für ihre Zukunft demonstriert und das „Klimastreik“ nennt. Luisa Neubauer ließ sich denn auch von den Belehrungen Altmaiers nicht beeindrucken: „Als das Streikrecht erfunden wurde, kannte man die Klimakrise ja noch nicht.“

Das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz

War die Behauptung von Wirtschaftsminister Altmaier richtig, dass wir in Deutschland „keinen politischen Generalstreik kennen“?

Artikel 20 Abs. 4 Grundgesetz: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.

Dieses sogenannte Widerstandrecht erlaubt auch den Streik.

Und das kann nur ein politischer Streik sein, denn er richtet sich „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“.

Das Grundgesetz kennt also den politischen Generalstreik. Vielleicht  kennt Altmaier das Grundgesetz nicht.

Der Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Ludendorff Putsch im Jahr 1920 wäre damit heute erlaubt. Durch einen politischen Generalstreik wurde am 9. November 1918 die erste deutsche Republik durchgesetzt, durch einen politischen Generalsstreik diese Republik 1 ½ Jahre später, im Jah 1920, verteidigt. Alle Fabriken und Behörden waren geschlossen. Es gab keinen Eisenbahnverkehr, in den Städten keine Straßenbahnen und Busse, keine Post, keine Telefonvermittlung, keine Zeitungen. Und in Berlin: Kein Wasser, kein Gas, kein elektrisches Licht. Der Putsch brach zusammen.

Die enorme Bedeutung dieses Generalstreiks wurde wenige Jahre später deutlich, als die Beschäftigten zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr die Kraft hatten erneut einen Generalstreik zu organisieren. Die Folgen – das wissen wir – waren verheerend.

Viele Gewerkschaften haben eine Regelung in ihren Satzungen, die das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 GG aufgreift. So heißt es in § 2 der Satzung der IG Metall:

Die IG Metall wahrt und verteidigt die freiheitlich-demokratische Grundordnung sowie die demokratischen Grundrechte. Die Verteidigung dieser Rechte und der Unabhängigkeit sowie Existenz der Gewerkschaften erfolgt notfalls durch Aufforderung des Vorstandes an die Mitglieder, zu diesem Zweck die Arbeit niederzulegen (Widerstandsrecht gemäß Artikel 20 Absatz 4 GG)“.

Aufschlussreich ist, dass der Vorstand nach der bestehenden Formulierung in der Satzung nicht nur zur Verteidigung der Grundordnung, sondern auch zur Verteidigung der demokratischen Grundrechte sowie der Existenz der Gewerkschaften die Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufrufen kann.

Die 5. Frage, ob der politische Streik in die Satzung der IG Metall aufgenommen werden kann, ist damit also beantwortet. Man kann das politische Streikrecht in die Satzung aufnehmen. Die Frage ist nur, ob die Berufung auf das Widerstandrecht reicht.

Sicher, der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch wird durch das Widerstandsrecht im Grundgesetz geschützt. Aber selbst in solchen Fällen besteht die Gefahr, dass es dann zu spät ist, weil die demokratische Ordnung schon beseitigt ist und dann diejenigen, gegen die sich der Widerstand richtet, über die Rechtmäßigkeit unsere Widerstands entscheiden. Die Gewerkschaften müssten auf ihre eigene Rechtsmeinung  vertrauen, aber ihr Streik würde wie ein illegaler Streik bekämpft.  

Hinzu kommt Folgendes: Wir können uns nicht auf das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 GG berufen, „wenn andere Abhilfe … möglich ist“. Das heißt vor allem: … wenn noch Gerichte angerufen werden können. Der Rechtsweg steht aber jedem offen, der „durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird“ –  so heißt es in Art. 19 Abs. 4 GG.

Der schleichende Verfassungsbruch ist nicht vom Widerstandsrecht nach dem Grundgesetz erfasst, bei dem die staatlichen Organe schrittweise in einem allmählichen Prozess zu verfassungswidrigen Positionen übergehen. Hier würde immer auf den Rechtsweg verwiesen.

Das Widerstandrecht erfasst eine Vielzahl von Arbeitsniederlegungen nicht, die alle politisch waren oder wären. Zum Beispiel:

  • Die Kundgebungen 1985 während der Arbeitszeit gegen den § 116 AFG
  • Die Arbeitsniederlegungen 2000/2007 gegen die Verlängerung des Renteneintrittsalters
  • Ein Streik gegen die Aufheizung des Klimas
  • Ein Streik für die Rechte der Frauen am 8. März
  • Arbeitsniederlegungen als Gedenkminuten gegen die Morde in Hanau

In keinem dieser Fälle kann man sich auf das Widerstandrecht nach Artikel 20 Abs. 4 GG berufen.

Also: Das Widerstandrecht reicht nicht, um das Recht auf den politischen Streik zu gewährleisten.

Wir müssen weiter fahnden. Wo könnte sich sonst noch im Grundgesetz eine Regelung zum politischen Streikrecht finden?

Das Streikrecht nach Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz

In Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz wurde über viele Jahre die Koalitionsfreiheit allein mit den folgenden beiden Sätzen garantiert:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig“.

Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht 1984 festgestellt, dass Tarifverhandlungen ohne Streikrecht “kollektives Betteln” wären, und auch das Bundesverfassungsgericht hat dem Recht auf Streik Verfassungsrang eingeräumt.

Doch 1968 wurde ein weiterer Satz hinzugefügt. Damals wurden nach sehr scharfen außerparlamentarischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen die Einschränkung zahlreicher Freiheitsrechte im Falle eines Notstands beschlossen. Wegen der großen Proteste, die auch von den Gewerkschaften mitgetragen wurden, wurde nicht nur das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 GG in das Grundgesetz aufgenommen, sondern es wurde in Artikel 9 Absatz 3 GG auch ein Satz hinzugefügt, der anordnet, dass Notstandmaßnahmen sich nicht gegen “Arbeitskämpfe“ richten dürfen, „die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden“.

Damit war das Wort Arbeitskampf im Grundgesetz. Wenn selbst im Notstand, wo zahlreiche Freiheitsrechte eingeschränkt werden können, der Streik als Freiheitrecht nicht angetastet werden darf, dann muss das Streikrecht erst recht in Zeiten ohne Notstand druch das Grundgesetz geschützt sein.

Vielleicht noch ein Hinweis zum Streikrecht im Gefüge der Grundrechte: Im Streik setzen die Beschäftigten der Fremdbestimmung durch das Kapital, der jeder Beschäftigte unterworfen ist, ihre Selbstbestimmung entgegen. Damit ist der Streik Ausdruck der Menschenwürde, die in  Artikel 1 Grundgesetz garantiert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieser Artikel 1 ist ein wichtiges Zeugnis der antifaschistischen Prägung des Grundgesetzes und der Streik herausragend als kollektiver Ausdruck und kollektive Einforderung dieser Menschenwürde.

Die Frage bleibt: Ist das Grundrecht auf Streik auch ein Grundrecht  auf den politischen Streik?

Es ist nur von „Arbeitskampf“ die Rede und Arbeitskampf meint das Grundrecht auf Streik und auch das Recht zu Gegenmaßnahmen der Arbeitgeber. Als Ziel wird im Grundgesetz nur vorgegeben, dass  Arbeitskämpfen auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ gerichtet sein sollen. Aber auch Gesetze können die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen wahren und fördern, z.B. das Mindestlohngesetz oder das Arbeitsschutzgesetz und alles, was jetzt mit der Transformation zusammenhängt und die Arbeitsbedingungen massiv berührt. Es steht nirgendwo im Grundgesetz, dass Arbeitskämpfe, die sich darauf richten, verboten sind.   

Es gibt zum Streikrecht nur diese beiden Regelungen im Grundgesetz, in Artikel 20 und in Artikel 9. Auch in anderen Gesetzen  findet sich nichts weiter.

Alles andere ist Rechtsprechung. Deswegen sagt man manchmal auch: Streikrecht ist Richterrecht.

Wir müssen uns mit der Rechtsprechung beschäftigen, wenn wir wissen wollen, ob der politische Streik erlaubt ist das deutsche Streikrecht verstehen wollen. Damit geht es um die:

3. Frage: Historie des politischen Streiks? Dazu die Historie der Rechtsprechung.

Antwort:

Ich werde in Zusammenhang mit der Historie des politischen Streiks sprechen über:

a. Der politische Streik in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik unterlag das Streikrecht erheblichen Einschränkungen und diese Einschränkungen wurden zum Ende der Republik immer stärker. Aber eines gab es nicht: Ein Verbot des politischen Streiks. Es gab auch nicht das Verbot des verbandsfreien Streiks oder – wie manchmal auch gesagt wird – des wilden  Streiks.

Es versteht sich von selbst, dass 1933 nach der Zerschlagung der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften, nach der Beseitigung  der Republik und aller ihrer Rechte und Freiheiten auch alle Streiks  faktisch verboten waren.

b. 1948: Generalstreik

Am 12. November 1948, also noch vor Verabschiedung des Grundgesetzes, rief der DGB zu einem  politischen Generalstreik auf – in der Bizone, nicht in der von den Franzosen besetzen Zone, in der noch ein Streikverbot galt. Es war der größte Streik, der nach 1945 jemals stattgefunden hat: Es beteiligten sich zwischen sieben und neun Millionen Menschen – bei viereinhalb Millionen gewerkschaftlich Organisierten und knapp zwölf Millionen Beschäftigten insgesamt. Neben der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage wurde die Überführung der Grundstoffindustrie und Kreditinstitute in Gemeineigentum, eine Demokratisierung der Wirtschaft,  Inkraftsetzung der von den Länderparlamenten beschlossenen Gesetze zur paritätischen Mitbestimmung, ein umfassendes Streikrecht und Aussperrungsverbot gefordert. Der Streik richtete sich unmittelbar gegen die von Erhard und dem Wirtschaftsrat beschlossenen Maßnahmen zur Einführung der „freien Marktwirtschaft“

Diese Streik wurde lang als völlig wirkungslos gewürdigt. Doch bei dieser Würdigung als ‚Donnerwetter ohne Wirkung‘ scheint eher der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Denn wenn politische Streiks nichts bewirken, kann man auch auf sie verzichten.

2017 wurde mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung eine Dissertation von Uwe Fuhrmann veröffentlicht[1]Uwe Fuhrmann Die Entstehung swe „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49 Konstanz und München 2017, die zu einem ganz anderen Ergebnis kommt und zeigt, dass dieser Streik dazu führte, dass von der zunächst geplanten freien Marktwirtschaft umgesteuert wurde auf eine „soziale Marktwirtschaft“, die dann in den folgenden Jahrzehnten als Markenzeichen deutscher Politik gerühmt wurde. In der Dissertation werden die sehr konkreten Folgen benannt, u.a. die Rückkehr zu einer tragfähigen und paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen, die Aufhebung des Lohnstopps; auch die Aushandlung des Tarifvertragsgesetzes wurde beschleunigt, es trat wenige Monate später in Kraft.

Festzuhalten bleibt. Es gab nach 1945 einen politischen Generalstreik, der durch keine gerichtliche Entscheidung angefochten wurde.

c. 1952: Zeitungsstreik

1952 folgte ein weitere politscher Streik, der wegen seiner rechtlichen Folgen sehr bedeutsam werden sollte.

Der Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes auf Bundesebene nahm alle Fortschritte der Betriebsrätegesetze, die auf Länderebene beschlossen worden waren, wieder zurück. Dagegen richteten sich viele Demonstrationen und schließlich, als erkennbar wurde, dass die Regierungsparteien nicht nachgeben würden, ein Streik: Der sogenannte Zeitungsstreik. Das Ziel:

  1. Keine Rückschritte bei der Mitbestimmung in den Betrieben und
  2. paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten.

Am 28. und 29. Mai 1952 erschien so gut wie keine Tageszeitung. Danach wurde eine große öffentliche Kampagne losgetreten, in der der Streik als Angriff auf die Pressefreiheit diffamiert wurde, obwohl der Streik nicht im entferntesten dieses Ziel hatte. Auch  tatsächlich kann durch ein zwei tägiges Bestreiken der Tageszeitungen die Pressefreiheit nicht ernsthaft beeinträchtigt werden.

Der Wind hatte sich ganz offensichtlich gedreht. Zu dieser Wende ein paar Sätze mehr, weil sie die Grundlage für alles Weitere war. Die fortschrittliche Nachkriegsperiode, in der das Ziel gewesen war, ein  Deutschland auf antifaschistischer Grundlage aufzubauen, war längst beendet und der Antifaschismus durch den Antitotalitarismus ersetzt worden. Unter dem Stichwort „Extremisten“ wurden Opfer und Täter in einen Topf geworfen, als Opfer nicht nur, aber vor allem die in den KZ’s verfolgten und gequälten Kommunisten, als Täter Nazis, die das zu verantworten hatten. Am Ende kehrten die alten Nazis wieder in die staatlichen Verwaltungen, in die Polizei und Justiz und an die Gerichte zurück, während Kommunisten, aber auch zum Beispiel die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gnadenlos verfolgten wurden. Diese Neuorientierung im kalten Krieg vom Antifaschismus zum Antitotalitarismus ging einher mit einer insgesamt immer kapitalfreundlicheren Politik. Die CDU wollte schon lange nichts mehr wissen von ihrem Ahlener Programm, wo sie einmal selbst die Vergesellschaftung des Bergbaus gefordert hatte.  

Das war 1952 das Klima des kalten Krieges, das bis heute nachwirkt.

Das Kapital sah seine Zeit gekommen, das Streikrecht zu kanalisieren. Unmittelbar nach dem Zeitungsstreik verklagten 21 Zeitungsunternehmen und Druckereien, koordiniert durch den BDA, die IG Druck und Papier und den DGB und ihre Vorstandsmitglieder auf Schadenersatz im Umfang von 30.000 DM. Aber es ging selbstverständlich nicht um den Schaden, sondern um eine rechtspolitische Grundsatzentscheidung. Bei neun Arbeitsgerichten hatten die Unternehmen Erfolg, bei vier keinen Erfolg. Dann befassten sich vier Landesarbeitsgerichte in sechs Entscheidungen mit diesem Rechtsstreit. Alle bejahten einen Schadenersatz. Nur ein Landesarbeitsgericht entschied anders: Das Landesarbeitsgericht Berlin[2]Micael Kittner Arbeitskampf München 2005, S. 603 f..

Der Streit drehte sich vor allem um die Frage, ob der Zeitungsstreik eine Nötigung des Parlaments gewesen war. Die Weichenstellung für das zukünftige Streikrecht erfolgte durch den Gutachter Hans Carl Nipperdey, während der Nazizeit Kommentator des Gesetzes „zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG – das AOG war das faschistische Arbeitsrecht).

Nipperdey stellte das Streikrecht auf eine neue Grundlage. Danach ist der Streik zunächst einmal ein Eingriff in den Gewerbebetrieb und damit eine unerlaubte Handlung. Das gilt nur dann nicht, wenn der Streik um Arbeitsbedingungen gegen Arbeitgeber geführt wird. Diese Bedingung erfüllt der politische Streik nicht. Damit ist der Streik eine unerlaubte Handlung. Der Arbeitgeber kann Schadenersatz fordern.

Die Folgen spüren wir bis heute. Bis heute gilt nach herrschender Meinung der politische Streik als verboten.

Nipperdey hatte sich als erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts empfohlen und wurde es auch – trotz seiner Kommentierung des faschistischen Arbeitsrechts (Anmerkung: Zu Nipperdey gab es vor kurzem eine sehr gute Dokumentation im Deutschlandradio).  

Ein weitere politischer Streik war

d. 1985: Der Streik gegen die Streichung des Kurzarbeitergeldes für kalt Ausgesperrte (§ 116 AFG)

Die IG Metall rief zu Kundgebungen während der Arbeitszeit auf, um gegen die Verschlechterungen des § 116 AFG zu protestieren. Es ging um die beabsichtigte Streichung des Kurzarbeitergeld bei kalt Ausgesperrten. Dagegen rief die IG Metall während der Arbeitszeit zu Kundgebungen und zu diesem Zweck zu Arbeitsniederlegungen auf. Das war ein politscher Streik, denn er richtete sich gegen einen geplante Gesetzesänderung. Dieser Streik zeigt, dass die IG Metall – auch gegen die herrschende Meinung – an dem Recht auf den politischen Streik festhielt. Gegen diesen Aufruf zum politischen Streik wurden von Unternehmensseite insgesamt 17 einstweilige Verfügungen beantragt. In acht Fällen wurde die beantragte Verbotsverfügung erlassen, aber in 9 Fällen blieb der Antrag erfolglos[3]Däubler Arbeitskaampfrecht 3. Auflg. S. 259.

Wenn man sich die Rechtsprechung zum politischen Streikrecht bis heute anschaut, so ist ein überraschendes Ergebnis: Es gibt keine einzige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum politischen Streik.

Die herrschende Meinung argumentiert so: Da es zahlreiche Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts gibt, wonach Streiks nur geführt werden dürfen, wenn sie tariflich regelbare Ziele haben, ist der politische Streik verboten. Denn der politische Streik ist nicht auf einen Tarifvertrag gerichtet, sondern richtet sich unmittelbar gegen Regierungshandeln oder gegen ein Gesetz.  

Nun müssen wir über den wichtigsten Einwand gegen den politischen Streik sprechen, der schon in den Rechtsstreitigkeiten um den Zeitungsstreik eine wichtige Rolle spielte.

Der Einwand lautet: Ein politischer Streik richtet sich gegen das Parlament, das demokratisch gewählt wurde, oder gegen die Regierung, die vom Parlament gewählt wurde. Damit schwächt der politischer Streik die Demokratie, die in dem demokratisch gewählten Parlament und in der von diesem Parlament gewählten Regierung seinen wichtigsten Ausdruck findet.

e. Unvollständige Liste politischer Streiks ab 1951

Eine (unvollständige) Liste von politischen Streiks, die der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Wolfgang Däubler aufzählt und die hier wörtlich widergegeben wird.

4. Frage: Gefährdet der politische Streik die Demokratie? Der politsche Demonstrationsstreik

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst eine Unterscheidung wichtig: Die Unterscheidung zwischen dem Demonstrations- bzw. Proteststreik auf der einen Seite und dem Erzwingungsstreik auf der anderen Seite. Bei einem Erzwingungsstreik wird solange gestreikt, bis zumindest ein Teilergebnis durch den Streik erzwungen wird, bei einem Demonstrationsstreik kommt es – wie der Name schon sagt – auf den Demonstrationscharakter an. Daher ist ein Demonstrationsstreik von vornherein zeitlich begrenzt; ich würde sagen maximal auf eine Tag. Diese zeitliche Begrenzung ist das Merkmals, das den Demonstrations- vom Erzwingungsstreik unterscheidet. Das schließt nicht aus, ihn nach einer bestimmten Zeit zu wiederholen.

Häufig oder vielleicht sogar in der Regel sind Streiks in Tarifkämpfen, wenn es nicht Warnstreiks sind, Erzwingungsstreiks.

Auch ein politischer Streik kann ein Erzwingungsstreik sein. Der Streik gegen den Kapp-Lüttwitz Putsch 1920 war ein politischer Erzwingungsstreik. Er endete erfolgreich und erzwang die Aufgabe der Putschisten.

Schaut man sich nun die politischen Streiks nach 1945 an, dann gab es nur einmal einen Streik, der länger als einen Tag dauerte. Das war der Zeitungsstreik. Alle anderen politischen Streiks waren politischen Demonstrationsstreiks. Ich denke, es ist daher sinnvoll, sich zunächst darauf zu konzentrieren, dass diese politischen Demonstrationsstreiks legalisiert werden. Dabei ist es sehr interessant, dass viele Kolleginnen und Kollegen glauben, dass diese Streiks, die nur in einer Kundgebung bestehen, auf der man seine Meinung während der Arbeitszeit demonstriert, schon jetzt erlaubt sind. Ich bin ja auch der Meinung, dass das schon jetzt erlaubt ist. Aber wir müssen das bei den Gerichten durchsetzen.

Aufgrund dieses Demonstrationscharakters des  politischen Streiks ist das auch einfacher als bei einem politischen Erzwingungsstreik. Der Einwand, diese Streiks richteten sich gegen das Parlament, ist dann wenig überzeugend. Ein Demonstrationsstreik richtet sich nicht gegen das Parlament, sondern will die Willensbildung im Parlament beeinflussen wie das auch andere Demonstrationen und Kundgebungen wie etwa der Klimastreik auch wollen. Das ist nicht gegen die Demokratie gerichtet, sondern Ausdruck von Demokratie. Warum soll am Arbeitsplatz ausgeschlossen sein, was in der Freizeit erlaubt ist? Darf die Demonstrationsfreiheit niemals, nicht einmal für wenige Stunden, Vorrang vor der Arbeitspflicht haben? Passt das hohe Lied, das das Bundesverfassungsgericht auf die Meinungs-  und Demonstrationsfreiheit als Fundament unserer Demokratie singt, dazu, den Betrieb in dieser radikalen Weise zur demokratiefreien Zone zu erklären?

Wenn man zum Beispiel den aktuellen Kampf um die Einhaltung der Klimaerwärmung auf nicht mehr als 1,5 Grad betrachtet, weiß jeder, dass dazu enorme Umstellungen in den Betrieben der Energiewirtschaft, Stahlindustrie, Autoindustrie usw. notwendig sind. Doch über diese Transformation entscheiden in den Betrieben allein die Unternehmen. Das ist deswegen so, weil immer noch das Kapital die Entscheidungen trifft, was wie und wo und in welchem Umfang produziert wird. Es kann daher gar kein Zweifel daran bestehen, dass diese Entscheidungsmacht des Kapitals in den Betrieben in die Politik hineinwirkt, hineinwirken muss, weil die Unternehmen diejenigen sind, die angesprochen werden müssen, um die Transformation umzusetzen. Ganz ohne besondere Lobbyarbeit ergibt schon die  Entscheidungsmacht der Unternehmer in den Betrieben eine Vormachtstellung des Kapitals in der Politik. Die intensive Lobbyarbeit von Kapitalvertretern kommt hinzu. Ein Demonstrationsstreik, der diese Transformation nicht bremsen, sondern eher beschleunigen will, aber verlangt, dass die Kosten nicht einfach nach unten weiter gereicht werden, wäre mehr als angebracht als Ausgleich zu dem Einfluss, den die Unternehmer ganz selbstverständlich tagtäglich gegenüber der Politik geltend machen. Zum Ausgleich der strukturellen Überlegenheit des Kapitals ist der Demonstrationsstreik unverzichtbar.

5. Frage: Andere Staaten im Vergleich und Völkerrecht?

Antwort in zwei Teilen (a. und b.):

a. Der politische Streik in anderen Staaten

Von den 27 Staaten der Europäischen Union ist der politische Streik neben Deutschland in folgenden weiteren Ländern illegalisiert: In Luxemburg, Österreich, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei und Tschechien.[4]Im Einzelnen: 1. Dänemark verbietet nicht den politischen Streik, der auf gesetzliche Regelungen zu Arbeitsbedingungen gerichtet ist, aber den politischen Streik, der darüber hinausgeht 2. … Continue reading Ein ausdrückliches Verbot in der Verfassung ist dagegen nirgendwo festgeschrieben[5]BKS-Bearbeiter Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 4. Auflg. 2010, AKR Rn. 189 mit Verweis in Rn. 337 auf Schopp 2004, wiss. Dienst Bundestag. Im Übrigen siehe die vorhergehende Fußnote: Nur … Continue reading .

b. Das europäische Völkerrecht

Eine wichtige Unterstützung für unsere Forderungen nach einem besseren Streikrecht finden wir im Völkerrecht. Vor allem sind das die Bestimmungen der ILO und der Europäischen Sozialcharta.

Das wohl wichtigste Übereinkommen der ILO ist das Übereinkommen Nr. 87, wo nicht ausdrücklich das Streikrecht erwähnt, es aber trotzdem zu einem „Herzstück dieses Übereinkommens“ geworden ist. Die Unternehmerverbände haben vor nicht allzu lange Zeit eine massive Kampagne vom Zaun gebrochen, die sich dagegen richtete, dass die ILO Aussagen zum Streikrecht trifft. Dieser Konflikt ist zunächst nur zugedeckt worden, aber noch längst nicht ausgestanden.   

Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA) der ILO hat in allgemeiner Form verlangt, dass Proteststreik zugelassen werden.

Ein anderer Sachverständigenausschuss der ILO ist der Auffassung, dass die Streikziele nicht auf tariflich regelbare Ziele beschränkt werden dürfen. Er hat von Deutschland gefordert, Proteststreiks zuzulassen.

Außerdem gilt in Deutschland die Europäische Sozialcharta (ESC). Die ESC ist ein Vertrag des Europarats. Der Europarat darf nicht mit der EU verglichen werden. Zu den Mitgliedsstaaten gehören auch Russland und die Türkei.

Teil II Artikel 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta lautet:

„Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien 1. …, 2. …, 3. … und anerkennen 4. das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ 

In den Niederlanden und Belgien hat die Rechtsprechung das Streikrecht an die Europäische Sozialcharta angepasst.[6]Däubler-Lörcher Arbeitskampfrecht 4. Auflg. Baden-Baden 2018; dort § 19 Rn. 24

6. Bruch des Völkerrechts in Deutschland und Durchsetzungsbemühungen

a. Die Überprüfungen der zuständigen Europäischen Gremien

Das Ministerkomitee des Europarats, in dem sich die Außenminister der Mitgliedsstaaten versammeln, überwacht unter anderem die Einhaltung der Europäischen Sozialcharts (ESC) in den einzelnen Mitgliedsstaaten und wird dabei von einem Sachverständigenausschuss unterstützt. Seit Jahren erklärt dieser Sachverständigenausschuss, dass in Deutschland das „Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“[7]die jüngste Stellungnahme des Sachverständigenausschusses des Jahres 2022 kann hier in Auszügen gelesen werden; weitere Stellungnahmen aus den vorhergeheden Jahren hier lesen; siehe auch AuR … Continue reading ein Verstoß gegen die Sozialcharta ist. 1998 sprach das Ministerkomitee selbst eine sogenannte „Empfehlung“ gegenüber Deutschland aus. Damit wurde die Kritik an dem Streikrecht in Deutschland auf die höchste Stufe gehoben, die dem Ministerkomitee zur Verfügung steht. Eine schwerere „Sanktion“ kann das Ministerkomitee nicht aussprechen[8]zu allem: AuR 1998, S. 156.

Das Bundesarbeitsgericht stellte wenige Jahre nach der Rüge des Ministerkomitees fest: „Dabei mag die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich durchsetzbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC einer erneuten Überprüfung bedürfen. Denn immerhin ist nach Meinung des Sachverständigenausschusses das Verbot aller Streiks in Deutschland, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sind und nicht von einer Gewerkschaft ausgerufen oder übernommen worden sind, mit den Garantien von Art. 6 Nr. 4 ESC unvereinbar … Auch erteilte das Ministerkomitee des Europarats am 3. Februar 1998 die „Empfehlung“, in angemessener Weise die negative Schlussfolgerung des Ausschusses unabhängiger Experten zu berücksichtigen“[9]BAG v. 10.12.2002 – AZR 96/02 juris Rn. 43.

Die Bundesregierung hoffte wohl, dass mit diesem gerichtlichen Hinweis der fortgesetzten Völkerrechtsverstoß aus der Welt geschaffen wäre. Doch reichte den Überwachungseinrichtungen der ESC diese bloße gerichtliche Ankündigung nicht. Die Rechtsprechung muss sich ändern. Der Sachverständigenausschuss hielt seine Kritik an dem deutschen Streikrecht aufrecht.

Nach zwanzig Jahren „sorgfältiger Prüfung“ stimmte Deutschland in diesem Jahr auch der revidierten Sozialcharta zu. Doch wurde dieser Zustimmung eine „Auslegungserklärung“ hinzugefügt, die sich unter anderem auf das Streikrecht nach Art. 6 Nr. 4 ESC bezieht[10]„1. Die Bundesrepublik legt Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 in der Weise aus, dass die rechtmäßige Ausübung des Streikrechts der Arbeitnehmer von … Continue reading. Ein internationaler Vertrag wird genau dann vollständig entwertet, wenn ihn jeder Staat auf seine Weise auslegt. Genau diesem Ziel dient diese „Auslegungserklärung“. Damit soll die Rechtsprechung gegen die streikrechtlichen Bestimmungen in der Europäischen Sozialcharta immunisiert werden. Im Kern handelt es sich um eine „Missachtung des Überwachungssystems der Europäischen Sozialcharta“, dem sich Deutschland mit der Ratifizierung dieses Vertrages unterworfen hat.

Die Bundesregierung setzt damit eine nun mehr fast 60 Jahr anhaltende Tradition fort: Dem Streikrecht nach der Europäischen Sozial-Charta zustimmen, es dann aber nicht einhalten, jede Rüge internationaler Gremien an sich abperlen lassen und den andauernden Völkerrechtsbruch mit einer eigenen Auslegung des Völkerrechts rechtfertigen. Man kann nur hoffen, dass die Gerichte diese völkerrechtsverachtende ‚Doppelstrategie‘ durchschauen und erkennen, dass solche „Auslegungserklärungen“ rechtlich unbeachtlich sind. 

b. Das Bundesverfassungsgericht zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes  

Deutschland hat der Europäischen Sozialcharta von 1961 mit einigen Ausnahme durch Gesetz zugestimmt und sie 1965 mit diesen Einschränkungen ratifiziert. Zu den Bestimmungen, denen Deutschland ohne Einschränkungen zustimmte, gehört die eben zitierte Bestimmung zum Streikrecht. Sie gilt also uneingeschränkt für Deutschland.

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Bedeutung von solchen völkerrechtlichen Übereinkommen so: „Damit hat der Gesetzgeber sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt“[11]Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 unter V.I.1.a.. Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gericht solche Völkerrechtsverträge „wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben“[12]BVerfG a.a.O.. Das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt, was unter „methodisch vertretbarer Auslegung“ zu verstehen ist: Solche Völkerrechtsverträge dürfen ausnahmsweise nicht beachtet werden, wenn „nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“[13]BVerfG a.a.O. . Da das Bundesverfassungsgericht einen entsprechenden Fall nie zu entscheiden hatte, ist auch nicht bekannt, ob es tragende „Grundsätze der Verfassung“ sieht, die eine Anwendung von Art. 6 Nr. 4 ESC ausschließen. Ich wüsste nicht, welche das sein sollen.

c. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Bisher hat der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg noch nicht zum politischen Streikrecht entschieden. Es kann aber sein, dass der entscheidende Anstoß für Verbesserung des Streikrechts vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg kommt. Dieses Gericht hat dadurch eine hohe Durchschlagkraft in Deutschland bekommen, dass vor einigen Jahren die Zivilprozessordnung geändert wurde. Seitdem kann ein Verfahren, das vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und dort gewonnen wurde, in Deutschland wieder aufgerollt werden. Die innerdeutschen Gerichte müssen auf der Grundlage der gewonnen Beschwerde in Straßburg erneut entscheiden. 

Der Gerichtshof trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die an die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen angelehnt ist.

Obwohl der Artikel 11 der EMRK dem Wortlaut nach nicht das Streikrecht erwähnt – ähnlich wie lange im Grundgesetz -, entscheidet der Gerichtshof seit einigen Jahren auch zum Streikrecht.

Bedeutsam ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehr stark das internationale Recht berücksichtigt. Für das Streikrecht bedeutet das also, dass der EGMR die Bestimmung in der Europäischen Sozialcharta und ILO mit in seine Entscheidungen einfließen lassen würde. 

7. Frage: Widerspricht das Verbot des politischen Streiks UN-Regeln?

Auf UN-Ebene gibt es eine ähnliche Vertragsstruktur wie auf europäischer Ebene: Es gibt den UN-Sozialpakt  und den UN-Zivilpakt. Der UN-Sozialpakt entspricht in etwa der Europäischen Sozialcharta (ESC). Der UN-Zivilpakt entspricht in etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ähnlich wie in Europa nur in der Europäischen Sozialcharta das Streikrecht ausdrücklich geregelt ist, ist auch auf der Ebene der Vereinten Nationen nur im UN-Sozialpakt das Streikrecht ausdrücklich geschützt.

a. Der UN-Sozialpakt

Artikel 8 Absatz 1 des UN-Sozialpaktes lautet:

“Die Vertragsstaaten verpflichten sich, folgende Rechte zu gewährleisten:

a) das Recht eines jeden, zur Förderung und zum Schutz seiner wirtschaftlichen und sozialen Interessen Gewerkschaften zu bilden oder einer Gewerkschaft eigener Wahl allein nach Maßgabe ihrer Vorschriften beizutreten. ….“

….

d) dasStreikrecht, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird”[14]Im Internet ist der UN-Sozialpakt zu finden unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/ICESCR/ICESCR_Pakt.pdf.

Die Vereinten Nationen haben den Pakt erlassen und der Bundestag hat ihm nach Artikel 59 Abs. 2 zugestimmt und Deutschland ihn im Jahr 1973 ratifiziert[15]BGBl. 1973 II, S. 1569); der Vertrag ist 1976 in Kraft getreten (vgl. United Nations 1966, Treaty Series Vol. 993, 1-14531.

Beachtenswert ist diese Norm nicht nur weil sie ausdrücklich ein Streikrecht enthält, sondern auch,
• weil dieses Streikrecht nicht in Abhängigkeit von den Gewerkschaftsrechten, die unter a) bis c) garantiert werden, sondern eigenständig unter d) gewährleistet wird,
• weil dieses Streikrecht nicht – wie das Recht Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten in Art. 8 Abs. 1 lit.a – an den Zweck “Förderung und Schutz seiner wirtschaftlichen und sozialen Interessen” gebunden ist. Eine Bindung der Streikziele an tariflich regelbare Ziele lässt sich aus dem Streikrecht im Sinne des Art. 8 Abs. 1 lit. schon gar nicht entnehmen.

Man kann den zuständigen Ausschuss der Vereinten Nationen anrufen, der die Einhaltung des Vertrages, auf den man sich beruft, überwacht. Wenn der Menschenrechtsausschuss eine Verletzung feststellt, teilt er das der Bundesrepublik mit und fordert auf, das zu ändern. 

Der Überwachungsausschuss des UN-Sozialpakts orientiert sich häufig an den Auslegungen und Aussagen der ILO[16]Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 3. Auflage § 10 Rn. 64, der ältesten Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Alles, was die ILO am Streikrecht in Deutschland kritisiert, kann daher grundsätzlich auch vor den Überwachungsausschuss des UN-Sozialpakts gebracht werden.

b. Der UN-Zivilpakt

Was den UN-Zivilpakt angeht scheint eine Tendenz dahin zugehen, auch zum Streikrecht Entscheidung zu treffen[17]Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 4. Auflage Baden-Baden 2018, § 10 Rn. 64.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte berücksichtigt in seinen Entscheidungen nicht nur die Normen des Streikrechts in der Europäischen Sozialcharta und der ILO, sondern auch die Normen im UN-Sozialpakt und Zivilpakt und er berücksichtigt die Feststellungen der zuständigen Ausschüsse dazu.

8. Frage: Könnte der politische Streik in die Satzung der IG Metall aufgenommen werden?

Antwort:

Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass jetzt schon in § 2 der Satzung der IG Metall unter Verweis auf das Widerstandsrecht geregelt ist, dass der Vorstand zur Arbeitsniederlegung aufrufen kann um die demokratischen Grundrechte und Unabhängigkeit sowie Existenz der Gewerkschaften zu verteidigen.

Wir hatten auch schon darüber gesprochen, dass das nicht ausreicht, um den politischen Streik zu schützen.

Im Jahr 2011 gab es auf dem Gewerkschaftstag von ver.di mehrere Anträge, die den politischen Streik in der Satzung verankern wollten. Interessant ist, dass in mehreren Anträge auf das Streikrecht im Sinne der Europäischen Sozialcharta und der ILO Bezug genommen wird. Diese Anträge wurde abgelehnt. Ver.di hatte auf ihrem Bundeskongress 2007 bekräftigt, dass sie für das Recht auf den politischen Streik eintritt und 2011 gefordert, dass das politische Streikrecht in das Grundgesetz aufgenommen wird.

9. Frage: Wozu könnte man den politischen Streik nutzen, wenn es ihn gäbe?

Da kann man nach Frankreich schauen. Wir sehen ja in den Nachrichten, dass sie zum Beispeile gegen die Heraussetzung des Rentenalters streiken

Man kann auch die (unvollständige) Liste von politischen Streiks durchgehen, die Däubler aufzählt.

Das wäre dann in erheblich größerem Umfang möglich. Die Beschäftigten könnten legal gegen die immer weiter steigen Rüstung streiken und nicht nur 5 Mahnminuten. Parents for future könnten die Arbeit beim Klimastreik niederlegen. Auch Streiks gegen Erhöhungen des Renteneintrittsalters wären ganz legal möglich usw. usw.

Wichtig erscheint mir auch, dass die erste deutschlandweite Republik durch einen politischen Streik am 9. November 1918 erzwungen und im März 1920 durch einen politschen Streik verteidigt wurde. Heute ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, dass in grundlegende demokratische Rechte schwerwiegend eingegriffen wird. Dagegen muss die Demokratie durch einen politischen Streik verteidigt werden können.

10. Frage: Welche ersten Schritte sind möglich?

Das ist die Frage, wie wir den politischen Streik durchsetzen können:

a. Reden und Machen

In einem Bericht von ver.di publik wird die Diskussion auf dem 3. ver.di-Bundeskongress so beschrieben: „Nicht reden, sondern machen. Dieser Grundtenor durchzog die Debatte der Delegierten … über das Thema Recht auf politischen Streik“. Ich glaube, diese Beschreibung fasst die Meinung vieler Gewerkschaftsmitglieder gut zusammen. Der 3. Ver.di-Bundeskongress war im Jahr 2011. Und ich habe den Eindruck, es wurde weder geredet noch gemacht. Das gilt für die beiden großen Gewerkschaften.

Es ist sehr wichtig, dass mehr über die Notwendigkeit des politischen Streiks geredet wird. Deswegen habe ich mich auch über diese Einladung gefreut. Denn es geht darum, „über das Reden zum Machen“ zu kommen.

Tatsächlich wird weder geredet, noch gemacht. Was ist da los? Warum gibt es nirgendwo eine entschiedene Bewegung, eine beherzte Belegschaft, die sagt: „Wir wollen aus den und den Gründen, die uns auf den Nägeln brennen, an einem Tag einen politischen Demonstrationsstreik organisieren“, zum Beispiel eine Belegschaft, die Windräder baut, an einem Tag, an dem feidays for future zum Klimastreik aufruft oder in einem Betrieb, in dem überwiegend Frauen arbeiten am 8. März? Warum wird das nicht irgendwo einmal angegangen? Halten da überall in der Gewerkschaft die Juristen den Daumen drauf? Oder hat das damit zu tun, dass über einen Streik immer auf oberster Ebene entschieden wird und die sich nach der Rechtsabteilung richtet?

Darüber würde ich gerne Eure Meinung hören: Was ist der Grund, dass auf Gewerkschaftstagen die vorherrschende Meinung ist: „Nicht reden, sondern machen“, aber dann weder  geredet noch gemacht wird?

Ich möchte trotz der herrschenden Meinung auch dafür plädieren, zu machen, das heißt: politisch zu streiken. Das Streikrecht ist fast nur auf diesem Wege verbessert worden. Wenn Streikrecht Richterrecht ist, dann müssen die Gerichte  die Gelegenheit haben, über Streiks zu entscheiden, die bisher nach herrschender Meinung illegal sind. Die Gerichte können nicht legalisieren, was bisher als illegal gilt, wenn sie nur Fälle zu entscheiden haben, die sich im geltenden legalen Rahmen bewegen?

Der wichtigste Einwand, der immer wieder angeführt wird, ist das Haftungsrisiko. Aber diesen Einwand möchte ich nicht gelten lassen. Denn die Gewerkschaften haben es selber in der Hand, wie viele Beschäftigte sie zu einem politischen Streik aufrufen. Sie können damit auch das Haftungsrisiko genau bestimmen und so in den Grenzen halten, die für sie tragbar sind.

b. Das ‚Machen‘ vorbereiten: Beispiel Hanau

Als 2020 auf einer Kundgebung in Schöneberg an den 100. Jahrestag des Generalstreiks gegen die Kapp-Lüttwitz Putsch erinnert wurde, hatte wenige Wochen vorher in Hanau ein Nazi neun Menschen ermordet. Ich wusste, dass der DGB schon einmal zu Mahnminuten während der Arbeitszeit aufgerufen hatte, ich erinnerte mich an die 5 Mahnminuten für den Frieden, als es um die Stationierung der Mittelstreckenraketen ging. Ich überlegte mit einem Freund, ob daran nicht angeknüpft werden könnte. Der sagte: Mach doch eine Petition an die Gewerkschaften. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Aber gesagt, getan. Ich habe die Freunde und Freundinnen gefragt, die mit mir die Kundgebung an 14. März zum 100. Jahrestag vorbereiteten und sie haben das auch unterstützt. Die Petition forderte, an dem Tag der offiziellen Feier zum Gedenken an die Ermordeten in Hanau 10 Minuten vor zwölf die Arbeit niederzulegen zum Gedenken und zur Mahnung. Die Petition wurde nur von knapp 200 Menschen unterstützt und hatte doch einen überraschende Erfolg. Nach und nach riefen in großen Autounternehmen und immer mehr Tarifbezirke der Gewerkschaften zu Arbeitsniederlegungen 10 Minuten vor zwölf an diesem Tag auf. Es müssen, vorsichtige geschätzt, mehrere zehntausend Menschen gewesen sein, die zur Mahnung die Arbeit niederlegten[18]siehe https://widerstaendig.de/hanau/4-maerz-2020-arbeitsniederlegung-gegen-rechts/ .

Das Problem war, das die Gewerkschaften nicht darauf vorbereitet waren und in vielen Betrieben der Aufruf zu spät ankam. Es müssten gewerkschaftliche Beschlüsse gefasst werden, dass in Zukunft in solchen Fällen dazu aufgerufen werden soll und entsprechende Vorbereitungen getroffen werden, damit schnell gehandelt werden kann. Auch muss überlegt werden, wie die Aufrufe konkret formuliert werden. Nur Birgit Dietze rief zu Arbeitsniederlegungen auf, unabhängig von der Zustimmung durch den Arbeitgeber. Alle anderen machten die Arbeitsniederlegung von der Zustimmung des Arbeitgebers abhängig. Es ist ja gut, wenn der Arbeitgeber zustimmt. Aber was ist, wenn der Arbeitgeber nicht zustimmt, zum Beispiel weil der Arbeitgeber in der AfD ist? Soll dann auff die Mahnminuten verzichtet werden?

c. Solidarität: Beispiel Gorillas

Beim Lieferdienst Gorillas wurde einigen Beschäftigte, die  „wild“ gestreikt haben, deswegen gekündigt und sie klagen deswegen. Sie gehören einer Gruppe an, die sich Gorillas Workers Collektiv (GWC) nennt. Ich fände gut, wenn sie auch von DGB Gewerkschaftern unterstützt würden.

d. Bei welchen politschen Streiks ist zuerst eine Legalisierung möglich?

Es geht zunächst um die Legalisierung des politischen Demonstrationsstreiks. Dieser Streik zeichnet sich, wie wir schon beschrieben haben, dadurch aus, dass er von vornherein befristet ist. Es ist strittig, wie lange er maximal sein darf. Rechtsprechung gibt es dazu nicht. Länger als einen Tag dürfen sie aber nicht sein[19]Däubler-Wroblewski Arbeitskampfrecht 4. Auflage Baden-Baden 2018 § 17 Rn. 184. Eine Wiederholung muss nicht ausgeschlossen werden.

Die Wahrscheinlichkeit der Legalisierung würde sich auch erhöhen, wenn die Ziele dieses Demonstrationsstreiks sich auf eine politische (z:B. gesetzliche) Änderung oder Verteidigung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen richten. Sowohl das Grundgesetz in Artikel 9 Absatz 3, als auch die Europäische Sozialcharta stellt diesen Bezug der Streikziele auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen her; damit wäre also eine Legalisierung von Streiks mit allgemein-politsche Streikzielen besonders schwer[20]Däubler-Wroblewski Arbeitskampfrecht 4. Auflage Baden-Baden 2018 § 17 Rn. 166.

11. Frage: Wie könnten die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht umfassend in der Verfassung abgesichert werden?

Antwort:

Das Streikrecht nach der Europäische Sozialcharta könnte in das Grundgesetz aufgenommen werden. Teil II Artikel 6 Nr. 4 ESC lautet:

„Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien … und anerkennen das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ 

Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz müsste lauten:

“Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, wird das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts anerkannt, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus Tarifverträgen. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden “.

12. Frage: Wie streiken Rentner?

Schüler können nicht streiken und für Rentner ist das noch schwieriger. Wir hatten schon darüber gesprochen: Im arbeitsrechtlichen Sinne kann nur die Arbeit niederlegen, wer Arbeit als abhängig Beschäftigter hat.

Es ist nur im übertragenen Sinne ein Streik, wenn die Schüler und Schülerinnen streiken. Wie das Spiegel-Interview zeigt, hat allerdings die Anwendung des Streikbegriffs auf Schülerinnen und Schüler, die nicht zur Schule, sondern zur Demonstration gehen, zu einer Belebung der Diskussion über den politischen Streik geführt. 

Rentner können sich vielleicht an solchen Aktionen im übertragenen Sinnen beteiligen. Manchmal gibt es Sitzstreiks, an denen sich vielleicht auch rüstige Rentner beteiligen können. In Pankow gab es auch einmal einen Begegnungsstätte für Senioren, die aufgegeben werden sollte. Dagegen wehrte sich die Senioren, indem sie diese Begegnungsstätte besetzten. 

Jugendliche aus der Umweltbewegung erzählten mir über eine Diskussion mit der Gewerkschaftsjugend. Die Jugendlichen der Umweltbewegung sprachen den politischen Streik an. Die Gewerkschaftsjugend lehnte ab: Das sei verboten und das Haftungsrisiko zu groß. Aber zu Aktionen des zivilen Ungehorsams seien sie bereit. Es kommt darauf an, den politschen Streik als eine besonders wirksame Aktion des zivilen Umgehorsam zu begreifen. Das zeigt wie wichtig, die  Diskussion in der Gewerkschaft über dieses Thema ist. Da können vielleicht auch die Senioren zur Aufklärung beitragen. 

Foto: Arbeitskreis Senioren der IG Metall Berlin

References

References
1 Uwe Fuhrmann Die Entstehung swe „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49 Konstanz und München 2017
2 Micael Kittner Arbeitskampf München 2005, S. 603 f.
3 Däubler Arbeitskaampfrecht 3. Auflg. S. 259
4 Im Einzelnen:

1. Dänemark verbietet nicht den politischen Streik, der auf gesetzliche Regelungen zu Arbeitsbedingungen gerichtet ist, aber den politischen Streik, der darüber hinausgeht

2. Der Wissenschaftliche Dienst kam im Jahr 2006, bezogen auf die EU, zu folgendem Befund: „Im europäischen Vergleich sind politische Streiks, die sich gewöhnlich gegen die Regierungspolitik richten, neben Deutschland nur in Dänemark und Großbritannien verboten. In Österreich sind sie zwar legitim, aber unüblich. In Schweden sind politische Streiks nicht per se verboten, sondern nur, wenn sie gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen. Der Schwedische Arbeitsgerichtshof hat ausgeführt, dass insbesondere politische Protest- und Demonstrationsstreiks von kurzer Dauer zulässig sind. In den übrigen neuen EU-Mitgliedstaaten sind sie zugelassen oder werden jedenfalls von den Gerichten toleriert“, (Wissenschafliche Dienst des Deutschen Bundestages WF G – 3000 -VI-103/06 im Jahr 2006, Seite 8).

3. Es kann sein, dass der Wissenschaftliche Dienst die Staaten, die erst ab Mai 2004 Mitglied der EU sind, nicht berücksichtigte, also Lettland, Litauen, Polen, Slovakei, Tschechien; Rumänien wurde erst 2007 EU-Mitglied.

4. Trotzdem fällt auf, dass Katerndahl den politischen Streik, anders als der wissenschaftliche Dienst, in Österreich als verboten ansieht.

5. In 36 untersuchten von insgesamt 47 Staaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet haben, verbieten zusätzlich noch Russland, die Türkei, Großbritannien, die Schweiz und Island den politischen Streik, das sind insgesamt 14 von 47 Staaten, die die EMRK unterzeichnet haben (Christoph Katerndahl „Tarifverhandlungen und Streik als Menschenrecht. Eine dogmatische Analyse der Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK“, Baden-Baden 2017).

6. nach Gooren besteht nur in zwei Staaten (Türkei und Schweiz) eine Verfassung, aus der abgleitet wird, dass Streikziele tariflich regelbar sein müssen (Gooren, Paul, Der Tarifbezug des Arbeitskampfes, Zulässige Arbeitskampfziele im Lichte der Europäisierung und Internationalisierung des Rechts, Baden-Baden 2014); nach Katerndahl geht über diese beiden Staaten hinaus keines der Verbote auf den Verfassungstext zurück, sondern fußt immer auf nationaler Rechtsprechung oder auf einfacher nationaler Gesetzgebung. In den meisten Staaten ist das Verbot des sogenannten politischen Streiks auf den Tarifbezug zurückzuführen

5 BKS-Bearbeiter Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 4. Auflg. 2010, AKR Rn. 189 mit Verweis in Rn. 337 auf Schopp 2004, wiss. Dienst Bundestag. Im Übrigen siehe die vorhergehende Fußnote: Nur die Verfassung der Türkei und Schweiz, die aber beide nicht Mitgleid der EU sind, enthalten ein ausdrückliches Verbot
6 Däubler-Lörcher Arbeitskampfrecht 4. Auflg. Baden-Baden 2018; dort § 19 Rn. 24
7 die jüngste Stellungnahme des Sachverständigenausschusses des Jahres 2022 kann hier in Auszügen gelesen werden; weitere Stellungnahmen aus den vorhergeheden Jahren hier lesen; siehe auch AuR 1998, S. 156
8 zu allem: AuR 1998, S. 156
9 BAG v. 10.12.2002 – AZR 96/02 juris Rn. 43
10 „1. Die Bundesrepublik legt Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 in der Weise aus, dass die rechtmäßige Ausübung des Streikrechts der Arbeitnehmer von dem Vorliegen von Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängig gemacht werden kann. 2. Die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass die von den Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Rechtsprechung entwickelten Zulässigkeitsvoraussetzungen, nach denen ein Streik der Durchsetzung eines tariflichen regelbaren Zieles dienen muss und nur von einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung geführt werden kann, an die für die Tariffähigkeit die von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen gestellt werden“; siehe BT-Drs. 19/20976 v. 10.07.2020, S. 55
11 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 unter V.I.1.a.
12, 13 BVerfG a.a.O.
14 Im Internet ist der UN-Sozialpakt zu finden unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/ICESCR/ICESCR_Pakt.pdf.
15 BGBl. 1973 II, S. 1569); der Vertrag ist 1976 in Kraft getreten (vgl. United Nations 1966, Treaty Series Vol. 993, 1-14531
16 Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 3. Auflage § 10 Rn. 64
17 Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht, 4. Auflage Baden-Baden 2018, § 10 Rn. 64
18 siehe https://widerstaendig.de/hanau/4-maerz-2020-arbeitsniederlegung-gegen-rechts/
19 Däubler-Wroblewski Arbeitskampfrecht 4. Auflage Baden-Baden 2018 § 17 Rn. 184
20 Däubler-Wroblewski Arbeitskampfrecht 4. Auflage Baden-Baden 2018 § 17 Rn. 166

Über die Kundgebung am 18.2.2022: Entspannung statt Konfrontation!

 
Es ist höchste Zeit, dass wir zum Ukraine-Konflikt öffentlich Stellung beziehen. Wir müssen der  Kriegshetze entgegen treten, durch die in verantwortungsloser Weise  Krieg herbei geredet wird.

Die Kundgebung am Freitag, den 18. Februar 2022 am Brandenburger Tor war ein wichtiger erster Schritt.


Hier die Rede von Sevim Dagdelen auf der Kundgebung der Friedenskoordination am 18.2.2022:

Und hier der Aufruf der Berliner Friedenskoordination zur KUNDGEBUNG am 18.2.2022:

Seit Jahren macht Russland Angebote zur Zusammenarbeit an die NATO, USA, EU und Bundesrepublik für die Lösung internationaler Probleme. Doch diese betreiben eine Politik der Drohungen und Sanktionen, der militärischen Aufrüstung und Militäraufmärsche an den Grenzen Russlands. Nicht Russland hat sich den Grenzen der NATO genähert, sondern die NATO ist – entgegen aller früheren Zusicherungen – bis an die Grenzen Russlands vorgestoßen.

Die ukrainische Regierung wünscht eine Mitgliedschaft in der NATO. Sollte die NATO diesem Wunsch stattgeben, würde die Einkreisung Russlands weiter voranschreiten. Das will und kann Russland nicht zulassen und fühlt sich zu Recht bedroht. Darum fordert Russland von der NATO, die Aufnahme der Ukraine abzulehnen.

Das westliche Angriffsbündnis hat eine rote Linie erreicht, an der Russland sagt: bis hierher und nicht weiter. Die russische Föderation hat deshalb einen Vertragsentwurf vorgelegt, mit dem rechtsverbindliche Garantien von USA und NATO eingefordert werden, um die weitere Eskalation zu beenden und den Weg BEIDERSEITIGER Abrüstung und Entspannung einzuschlagen. Das sollte in unserem Land auf Verständnis treffen und erfordert von der Bundesregierung eine Unterstützung der dort von Russland eingeforderten Garantien!

Stattdessen wird in den führenden NATO-Ländern gegen Russland gehetzt, es werden Lügen verbreitet und ein drohender Krieg herbeigeredet. Daran beteiligen sich besonders auch Politikerinnen und Politiker und Medien in Deutschland. Sie verfälschen systematisch den Inhalt der Minsker Abkommen, die den Weg zur friedlichen Beilegung des Konflikts in der Ukraine weisen. Sie unterschlagen, dass – neben Russland und Frankreich – die Bundesrepublik Deutschland Garantiemacht für die Minsker Abkommen ist. Statt ihrer daraus resultierenden Verpflichtung nachzukommen, die ukrainische Regierung zur Umsetzung zu drängen, die diese seit Beginn sabotiert, verhindert die Bundesregierung mit ihrer politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung die Durchsetzung der völkerrechtlichen Vereinbarungen.

Das Schüren der Panik über eine anstehende russische Invasiom in der Ukraine soll nach dem Desaster in Afghanistan die weitere Existenz der NATO rechtfertigen.
Ja, Russland bewegt Truppen auf seinem Staatsgebiet, das ist aber auch sein legitimes Recht. Die daraus abgeleitete Panikmache über einen „russischen Aufmarsch“ geht aber inzwischen selbst Kiew zu weit. Dennoch läuft die Kriegspropaganda weiter auf Hochtouren. Die Lage ist äußerst gefährlich – für Russland, für Europa, für die gesamte Welt.

Deeskalation ist das Gebot der Stunde und nicht, weitere Waffen in das von USA und EU in die Verelendung getriebene Land zu pumpen.

Das Umsetzen der Minsker Verträge und der Vertragsentwurf, den Russland am 17.12.2021 den USA und der NATO vorgelegt hat, sind die Lösung nicht nur dieser momentan aufgehetzten Situation. Die russischen Forderungen dienen der Stärkung der wechselseitigen, friedlichen Beziehungen in der Welt. Sie sind die entscheidenden Lösungsschritte für die Ziele, um die wir als Friedensbewegung schon lange kämpfen.

Wir unterstützen das Konzept der „unteilbaren Sicherheit“, auf dem der Vertragsentwurf beruht, die Forderungen nach einem Ende der NATO-Osterweiterung, der friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten auf der Grundlage der UNO-Charta.
Wir unterstützen den von Russland angebotenen Sicherheitsvertrag, in dem wechselseitig für die NATO-Länder und Russland u.a. gelten soll:

  • Keine landgestützten atomwaffenfähigen Kurz- und Mittelstreckenraketen außerhalb des eigenen Staatsgebiets sowie in Gebieten, von denen aus diese Waffen Ziele im Staatsgebiet der anderen Seite angreifen können.
  • Keine Stationierung von Atomwaffen außerhalb des eigenen Landes. Das bedeutet auch den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland.
  • Keine NATO-Militärmanöver nahe der russischen Grenze, keine russischen Militärmanöver nahe der Grenze zu NATO-Staaten
  • Keine Annäherung schwerer Bomber und Kriegsschiffe an die Grenze des anderen, die einen Angriff möglich machen.

Schluss mit der medialen Kriegshetze und NATO-Aggressionspolitik!
Abrüstung und Frieden mit Russland!

Quelle: Friko Berlin



Kein Krieg! Keine Kriegshetze!

Bild VVN-BdA

Immer wieder verbreiteten die USA in den vergangenen Wochen Nachrichten über eine unmittelbar bevorstehende Invasion Russlands in die Ukraine. Vor wenigen Tagen kündigte die USA erneut eine Invasion Russlands für Mittwoch, den 16. Februar 2022, an. Aus diesem Anlass wird hier die mündliche Begründung zu einem Initiativantrag veröffentlicht, der auf der Landesdelegiertenkonferenz der VVN-BdA Berlin am 12. Februar 2022 beschlossen wurde.

Der Initiativantrag wurde zusammen mit einem Neuköller Antrag angenommen. Beide Anträge unterstützten eine Weihnachtsanzeige der Friedensbewegung 2021 »Widerstand gegen Aufrüstung und Krieg – Aufbruch für Abrüstung und Frieden«. Der Inhalt dieser Anzeige ist am Ende des Initiativantrags im Wortlaut abgedruckt.

Hier die Rede zur Begründung des Initiativantrages:

„Ihr habt sicher die Nachrichten in den letzten Wochen verfolgt.

Immer aufs Neue wird berichtet, dass in den nächsten Tagen Russland die Ukraine überfällt. Die russische Regierung kann sagen, was sie will, dass sie keinen Krieg gegen die USA will, dass sie eine atomwaffenfreie Zone will, dass sie Sicherheiten will – alles spielt keine Rolle.  

Dass Russland Sicherheiten fordert, ist allerdings mehr als verständlich.

Dass Lettland, Litauen, Estland, Polen, Ungarn, Rumänien einmal Mitglied der NATO würden – wer hätte das vor dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts gedacht?

Wer hätte gedacht, dass Deutschland einmal im Verein mit den USA nicht ausschließen will, dass die Ukraine und Georgien ebenfalls NATO-Mitglieder werden?

Ich möchte daran erinnern, dass die NATO ein aggressives Militärbündnis ist, das zum Beispiel vor gut 20 Jahren Jugoslawien mit einem Krieg überzog. Der damalige Bundeskanzler  Schröder hat später selbst eingeräumt, dass dies ein Völkerrechtsbruch war. Deutsche Piloten bombardierten Jugoslawien. Wer hätte gedacht, dass es einmal soweit kommen würde?

Morgen hören wir wieder, dass Putin übermorgen die Ukraine überfällt. Dann kommt drei Tage später die Bekanntmachung, dass das ein Irrtum war, aber „in der nächsten Woche ist es soweit. Es ist nur noch nicht bekannt, ob Putin schon den Entschluss gefasst hat“.

Das Gefährliche ist, die Menschen gewöhnen sich daran.

Auch besteht die Gefahr, dass in diesem aufgeheizten Klima, jede Provokation unabsehbare Folgen haben kann.

Wir wissen: Die VVN-BdA hat den Kampf für den Erhalt des Friedens immer für eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachtet. Und sie hat sich nie gescheut, die Kriegstreiber zu benennen, die Rüstungsprofiteure, die Herren des Kapitals, die nach neuen Absatzmärkten suchen.

Der Schwur von Buchenwald sagt: „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“.

Darum geht es. Darum kämpfen wir.

Ich denke, der BO Friedrichshain-Kreuzberg der VVN-BdA ist es ganz gut gelungen, den Kampf gegen Krieg und Aufrüstung zu einem festen Bestandteil ihrer gewöhnlichen Arbeit zu machen. Kleine Kundgebungen vor einer Werbefirma in der Kohlfurter Straße in Kreuzberg  unter dem Motto „Kein Werben fürs Sterben“ gehören dazu, aber auch die Teilnahme an berlinweiten Aktionen.

Ich bitte Euch an der Kundgebung am 18. Februar 2022 um 17 Uhr am Brandenburger Tor teilzunehmen.

Und ich bitte Euch, unseren Antrag zu unterstützen.

Er schlägt konkrete Schritte vor, von denen wir glauben, dass sie auch machbar sind.

Es geht darum, dass alle Mitglieder der VVN-BdA eingeladen werden sollen, gemeinsam zu überlegen, was wir tun können. In einem zweiten Schritt geht es darum, dass wir uns darum bemühen, dass alle Friedensfreunde berlinweit zu einem Treffen eingeladen werden.  Und schließlich möchten wir in einer Serie von Plakaten gegen Krieg und Aufrüstung mobilisieren. Soweit die Kräfte reichen soll dies schließlich mit entsprechenden Veranstaltungen verbunden werden.

Ich bitte Euch, den Antrag  zuzustimmen und Euch auch an der Umsetzung zu beteiligen“.

Anmerkung zum Umgang der Landesdelegiertenkonferenz der Berliner VVN-BdA mit dem Initiativantrag:

Der Initiativantrag enthält konkrete Schritte, um der Forderung nach Frieden und Abrüstung Nachdruck zu verleihen. Dazu gehörte eine Serie von sieben Plakaten, die verschiedene Gründe in den Fokus rücken sollen, warum wir Kriege ablehnen.

Vor der Annahme dieses Antrags wurde allerdings in einem Änderungsantrag beschlossen, das dritte Plakat in der Plakat-Serie ersatzlos zu streichen. Dieses dritte Plakat sollte unter dem Motto stehen: „Die systematischen Vertragsbrüche der letzten 30 Jahre gegenüber Russland“.

Im Ergebnis ist damit die Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA um die Ukraine in der geplanten Plakatserie zu Frieden und Abrüstung nicht mehr enthalten.

Dies war eine fatale Fehlentscheidung.

Wie ist eine solche Entscheidung möglich, obwohl dieses Thema gegenwärtig in allen Medien am meisten behandelt und jeden zweiten Tag ein Krieg in Europa angekündigt wird?

Die Versammlungsleitung begründete ihren Änderungsantrag damit, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion sei und auch Verträge gebrochen habe. Der Antragsteller des Initiativantrags wurde als Außenstelle der russischen Botschaft bezeichnet. 19 Stimmen waren für die Herausnahme, 10 dagegen.

Russland will keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die seit 2014 über das Assoziierungsabkommen wirtschaftlich in die EU eingebunden ist. Die NATO und auch die deutsche Bundesregierung schließen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zwar gegenwärtig, aber nicht für die Zukunft aus. Das kann nicht unser Ziel sein. Die NATO ist ein aggressives Militärbündnis. Das hat die NATO nicht zuletzt im Krieg gegen Jugoslawien gezeigt. Die VVN-BdA kann als Teil der Friedensbewegung nur gegen dieses Militärbündnis und schon gar nicht für seine Erweiterung sein. An erster Stelle muss das Ziel stehen, den Frieden in Europa zu erhalten.

Das alles wird in der Plakatserie nicht mehr thematisiert.

Wenn die VVN-BdA in dieser Situation diese gegen Russland gerichtete Politik unter Verweis auf die beidseitige Vertragsbrüchigkeit nicht einmal mehr benennt, kann sie gegen diese Politik auch nicht  angehen.

Es sollten niemals die Verheerungen und über 27 Millionen Toten vergessen werden, für die Deutschland durch die Entfesselung des 2. Weltkriegs in der ehemaligen Sowjetunion verantwortlich ist. Die daraus entstehende Verpflichtung, den Frieden mit Russland zu erhalten und zu sichern, erfüllt Deutschland nicht, wenn es imperiale Interessen verfolgt, die Ukraine über das Assoziierungsabkommen in die EU und sich selbst in die Politik der USA und der NATO einbindet.

Der beschlossene Änderungsantrag wird der Losung der VVN-BdA: „Nie wieder Krieg!“ nicht gerecht.

Eine Kampagne gegen Nancy Faeser und den Antifaschismus

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte 2020 einen Gastbeitrag in der Zeitung der VVN-BdA antifa veröffentlicht. Es ging um die Briefe, Faxe und Mails, die mit „NSU 2.0“ unterschrieben waren. Nancy Faeser selbst hatte zwei dieser Briefe bekommen. Damals war sie Vorsitzende der Hessischen SPD und Fraktionsvorsitzender der SPD im Hessischen Landtag. Der Beitrag von Nancy Faeser kann hier nachgelesen werden.

Wegen dieses Gastbeitrages in der antifa nahm Anfang Februar 2022 das Sprachrohr der neuen Rechten, die Junge Freiheit, die häufig genug auch Rechtsextremen eine Bühne bietet, die Bundesinnenministerin aufs Korn. Die Springerpresse griff das auf, Politiker der AfD und CDU folgten. Begründet wurde die Kampagne damit, dass der bayrische Verfassungschutz die VVN-BdA im Jahr 2020 wie in den Jahren zuvor als „extremistisch beeinflusst“ eingestuft hatte (Bayrischer Verfassungsschutzbericht 2020, Seite 258) . Kaum erwähnt wurde, dass das Finanzamt Berlin, das für die Bundesvereinigung VVN-BdA zuständig ist und der VVN-BdA wegen dieser Einstufung im Jahr 2019 die Gemeinnützigkeit entzogen hatte, diese Aberkennung im Jahr 2021 wieder rückgängig machte. Nach der Abgabenordnung wird einem Verein die Gemeinnützigkeit entzogen, wenn er vom Verfassungsschutz auch nur eines Landes als „extremistisch“ eingestuft wird und er das gegenüber dem zuständigen Finanzamt nicht widerlegen kann (§ 51 Absatz 3 Satz 2 Abgabenordnung). Offensichtlich waren für das Berliner Finanzamt für Körperschaftssteuern diese Voraussetzungen nach der Abgabenordnung nicht erfüllt.

Anders das bayrische Finanzamt: Es erkennt die Gemeinnützigkeit des bayrischen Landesverband der VVN-BdA immer noch nicht an. Der Bayrische Laandesverband klagte dagegen, hatte aber vor dem Finanzgericht München keinen Erfolg. Nach einem Bericht der VVN-BdA Landesverband Bayer ließ aber das Finanzgericht München die Revision zu. Die nächste Runde des Rechtsstreits wird also demnächst vor Bundesfinanzhof ausgetragen werden.

Die Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit der VVN-BdA und jetzt die Kampagne gegen die Bundesinnenministerin zeigen schlaggartig, dass der tief verwurzelte Antikommunismus, der über Jahrzehnte in der Bundesrepublik gepflegt wurde, noch längst nicht der Geschichte angehört.

Diese schlimme Tradition spiegelt sich in der Abgabenordnung unmittelbar wieder. Sie verwendet explizit den Begriff Extremismus und stellt sich damit in eine Tradition, die die antifaschistische Prägung des Grundgesetzes leugnet. Die Forderungen zur notwendigen Änderung der Abgabenordnung können hier nachgelesen werden.

Es muss endlich eine Diskussion darüber geführt werden, wie mit diesen unseeligen Traditionen gebrochen werden kann. Die VVN-BdA ist die älteste antifaschistische Organisation der Bundesrepublik und vereinigt Menschen unterschiedlichster Parteizugehörigkeit und verschiedener Weltanschauungen. Alle einigt das Ziel: „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ Wieso kann ein Verfassungsschutz in seinem Verfassungsschutzbericht 2020 (Seite 258) unwahr über die VVN-BdA behaupten: „Vielmehr werden alle nicht marxistischen Systeme – also auch die parlamentarische Demokratie – als potenziell faschistisch, zumindest aber als eine Vorstufe zum Faschismus betrachtet, die es zu bekämpfen gilt“?

Nicht die VVN-BdA gehört beobachtet und auf den Prüfstand, sondern eine Behörde, die die älteste antifaschistische Organisation als „extremistisch beeinflusst“ einstuft, und Gerichte und eine Politik, die das stützen. Wie soll auf dieser Basis einem Rechtsblock begegnet  werden, wie er sich exemplarisch gegen die Inneministerin Nancy Faeser von der „Jungen Freiheit“ bis zur Springer Presse, von der AfD bis zur CDU formierte?

Der Bundesverband der VVN-BdA nahm mit diesen Worten Stellung: „Es ist ein Skandal, dass Menschen über lange Zeiträume von einem NSU 2.0 bedroht werden, dessen Hintergründe bis weit in die hessische Polizei reichen und dessen Aufklärung bis heute von der hessischen Landesregierung hintertrieben wird. Es ist mehr als selbstverständlich für uns, den Betroffenen rechter Morddrohungen beizustehen und Öffentlichkeit für das Thema herzustellen. Die aktuelle Kampagne gegen Frau Faeser vonseiten rechter Medien verurteilen wir und schätzen es nur als weiteren Versuch ein, diejenigen einzuschüchtern, die sich gegen rechte Bedrohungen, Faschismus und Rassismus aussprechen.“

Nancy Faeser erklärte: „Ich habe immer klare Kante gegen Rechtsextremismus und alle Feinde der offenen Gesellschaft gezeigt – und werde das auch weiterhin tun.“ Wir wünschen uns, dass Nancy Faeser konsequent bleibt.

Bewertung und Kontrolle der Klimazusagen von Unternehmen

8. Februar 2022 Hopmann. Am 7. Februar 2022 wurde von “carbon market watch” eine Studie “Corporate Climate Responsibility Monitor” veröffentlicht. Susanne Ferschel, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagesfraktion der Partei DIE LINKE, forderte daraufhin mehr Vorgaben, Standards und Kontrolle der Unternehmen und mehr Mitbestimmung der Beschäftigten im Betrieb. Wolfgang Däubler und Thomas Berger haben dazu einen konkreten Vorschlag gemacht.

Inhalt:

Ergebnisse der Studie „Corporate Climate Resonsibility Monitor“

Zunächst zitieren wir aus der Studie „Corporate Climate Responsibility Monitor“:

„Der Corporate Climate Responsibility Monitor bewertet die Transparenz und Integrität der Klimazusagen von Unternehmen.

Unternehmen auf der ganzen Welt werden … von immer mehr Interessengruppen aufgefordert, Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Aktivitäten zu übernehmen. Die meisten großen Unternehmen haben inzwischen öffentliche Klimastrategien und -ziele, von denen viele Zusagen enthalten, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass sie ihren Beitrag zur globalen Erwärmung deutlich reduzieren oder sogar eliminieren wollen. Die rasche Beschleunigung der Klimazusagen von Unternehmen in Verbindung mit der Fragmentierung der Ansätze bedeutet, dass es schwieriger denn je ist, zwischen echter Klimapolitik und unbegründetem Greenwashing zu unterscheiden. Hinzu kommt ein allgemeiner Mangel an regulatorischer Aufsicht auf nationaler und sektoraler Ebene. Die Identifizierung und Förderung echter klimapolitischer Führungsqualitäten und deren Unterscheidung von Greenwashing ist eine zentrale Herausforderung, die, wenn sie angegangen wird, das Potenzial hat, mehr Ambitionen zur Eindämmung des globalen Klimawandels freizusetzen.

Eine vom NewClimate Institute in Zusammenarbeit mit Carbon Market Watch durchgeführte Bewertung der Klimabehauptungen von 25 großen globalen Unternehmen ergab, dass fast alle von ihnen auf irgendeine Form von Schlupflöchern oder Tricks zurückgreifen, um die Ambitionen ihrer Klimaziele und -maßnahmen erheblich zu übertreiben“.

Empfehlungen dieser Studie

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten die Anforderungen in Bezug auf falsche und irreführende Werbung und Marketing verbessern.

Zusammenfassung der Empfehlungen von Carbon Market Watch:

  • Die Regierungen müssen Unternehmen verbieten, „Netto-Null“- und „Kohlenstoffneutralitäts“-Behauptungen aufzustellen.
  • Die Unternehmen müssen die absoluten Emissionsreduzierungen getrennt von den außerhalb ihrer Wertschöpfungskette finanzierten Emissionsreduzierungen ausweisen, anstatt eine einzige Gesamtzahl zu nennen.
  • Die Unternehmen müssen Verbrauchern und Investoren stets ein vollständiges Bild vermitteln. Sie müssen Ziele festlegen, die alle Emissionen innerhalb ihrer Wertschöpfungskette abdecken, d. h. die Bereiche 1-3; sie müssen die Emissionsreduzierungen sowohl in absoluten Zahlen als auch als Anteil an den Gesamtemissionen ausdrücken und Einzelheiten über den Bezugspunkt für die Berechnung der Reduzierungen, d. h. das Basisjahr, angeben.
  • Die Unternehmen sollten die Emissionen aus fossilen Brennstoffen nicht mit Kohlenstoff ausgleichen, der in nicht dauerhaften Kohlenstoffsenken wie Wäldern oder Böden gespeichert ist“.

Stellungnahme der stellvertretenden Vorsitzenden der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Susanne Ferschel, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion DIE LINKE, kommentierte:

„Wenn wir die Klimawende schaffen wollen, müssen wir die Wirtschaft stärker kontrollieren. Voraussetzung dafür sind endlich deutlich schärfere Gesetze und eine Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. Es gibt keine Vorgaben und Standards, nach denen Unternehmen ihre CO2-Emissionen bilanzieren und die eigenen Klimapläne erfassen müssen. Auch die Ampelregierung hat keine Pläne das zu ändern. Dabei ist die Schaffung und Kontrolle solcher Standards zwingend notwendig. … Die beste Kontrollinstanz bei der Durchsetzung von Klimaschutzmaßnahmen im Betrieb sind die Beschäftigten selbst. Sie verfügen über die Sach- und Betriebskenntnis, um die Praxis des Klimaschutzes im Unternehmen wirklich bewerten zu können. … Es muss Schluss damit sein, einseitig Unternehmensgewinne zu schonen, während abhängig Beschäftigte die steigenden Kosten des Klimawandels schultern“ (JW v. 8. Februar 2022, Seite 8).

Vorschlag von Däubler zur Erweiterung der Mitbesimmungsrechte der Betriebsräte

Wolfgang Däubler und Thomas Berger haben in der Zeitschrift Arbeitsrecht im Betrieb 1/2022 einen konkreten Vorschlag gemacht, wie die notwendige Mitbestimmung von Betriebsräten beim Umwelt- und Klimaschutz in § 87 Betriebsverfassungsgesetz verankert werden könnte.

§ 87 Betriebsverfassungsgesetz beginnt so:

Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegeheiten mitzubestimmen ...“

Dann folgt ein Katalog von „Angelegenheiten„, bei denen der Betriebsrat mitzubestimmen hat. Es wird vorgeschlagen, diesen Katalog um folgende „Angelegenheit“ zu erweitern:

15. Maßnahmen, die geeignet sind, dem Umwelt- und Klimaschutz zu dienen„.

Jeder Betriebsrat kennt den § 87 Betriebsverfassungsgesetz und weiß sofort, dass der Betriebsrat damit die Rechte hätte, die er braucht, um die Praxis des Klimaschutzes in Unternehmen bewerten und kontrollieren zu können.

Gründe und Abgründe

6, Februar 2022. In Charlottenburg in der Schlossstraße 22 vor dem Restaurant ‚Kastanie‘ erinnert in jedem Jahr ein Bündnis (u.a. Kiezbündnis Klausenerplatz e.V., VVN-BdA Charlottenburg, die LINKE, DKP) an die Ermordung des jungen Kommunisten Otto Grüneberg im Jahr 1931 durch Faschisten. Benedikt Hopmann wurde gebeten, zu der Aberkennung und Wieder-Anerkennung der VVN-BdA zu sprechen. Die einzelnen Anknüpfungspunkte, die für den bayrischen Verfassungsschutz eine Einstufung als extremistisch rechtfertigten, wurden nicht mündlich vorgetragen, sind hier aber ebenfalls veröffentlicht.

Was bedeutet es für einen Verein, wenn er als gemeinnützig anerkannt ist? Diejenigen, die an einen gemeinnützigen Verein spenden, können diese Spende von  ihren zu versteuernden Einkünften absetzen. Ein gemeinnütziger Verein kann entsprechende Spendenbescheinigungen ausstellen. Ebenso wichtig ist, dass Zuschüsse aus öffentlichen Kassen regelmäßig an die Gemeinnützigkeit gebunden sind. Zudem befreit die Anerkennung der Gemeinnützigkeit einen Verein von zahlreichen Steuern, insbesondere von der Körperschaftssteuer (entspricht der Einkommenssteuer bei natürlichen Personen) und Gewerbesteuer. Diese Steuerbefreiung gilt vor allem für die Vereinseinnahmen aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Erbschaften, Zuschüssen usw.

Da die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für drei Jahre rückwirkend galt, drohten der VVN-BdA Zahlungen an das Finanzamt im fünfstelligen Bereich.

Es war das Berliner Finanzamt, das der Bundes-VVN-BdA die Gemeinnützigkeit aberkannte. Der Grund: Der bayrische Verfassungsschutz hatte die Bundes VVN-BdA als „extremistisch beeinflusst“ eingestuft. Für die Aberkennung der Gemeinnützigkeit war das Berliner Finanzamt zuständig, weil  die Bundes-VVN-BdA als Verein in Berlin registriert ist.  Verantwortlich ist aber in letzter Instanz die Bundespolitik. Denn der Bundestag hat in einem Bundesgesetz, der Abgabenordnung, die Rechtsgrundlage für alles geschaffen. In der Abgabenordnung heißt es wörtlich: „Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutz des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen“, dass sie nicht gemeinnützig sind. In der Abgabenordnung wird also ausdrücklich der Begriff „extremistisch“ verwendet. Totalitarismus und Extremismus – das sind seit dem kalten Krieg die wichtigsten Kampfbegriffe gegen jeden substantiellen gesellschaftlichen Fortschritt, immer wurden sie fast ausschließlich gegen links in Anwendung gebracht – bis heute, wie die Verwendung „extremistisch“ in der Abgabenordnung belegt. Diese Regelung wurde erst nach der Jahrtausendwende in die Abgabenordnung aufgenommen.

Das Finanzamt muss, wenn der Verfassungsschutz auch nur vermutet, dass ein Verein „extremistisch“ ist, diesem Verein die Gemeinnützigkeit entziehen. In dem eben zitierten Gesetzestext erscheint allerdings das Wort „widerlegbar“, über das wir noch nicht gesprochen haben. „Widerlegbar heißt: Der vom Verfassungsschutz vermutete „Extremismus“ kann widerlegt werden. „Widerlegbar“ heißt allerdings auch: Nicht das Finanzamt muss den Vollbeweis für die Vermutung des Verfassungsschutzes antreten, bevor es die Gemeinnützigkeit entzieht, sondern die VVN-BdA selbst muss die Vermutung des Verfassungsschutzes widerlegen, sie sei „extremistisch“. Das wird manchmal auch Umkehr der Beweislast genannt.

Die VVN-BdA hatte vorher gegen ihre Einstufung als „extremistisch“ vor dem bayrischen Verwaltungsgericht geklagt. Doch sie hatte die Klage verloren. Das Verwaltungsgericht München hatte damit ein vielleicht noch verheerenderes Zeichen gesetzt als der  Verfassungsschutz selbst. Es hatte der Einstufung durch den Verfassungsschutz seinen richterlichen Segen gegeben.

Das Berliner Finanzamt ging großzügig über den Unterschied hinweg, dass der bayrische Verfassungsschutz mit dem Segen des bayrischen Verwaltungsgericht die Bundes-VVN-BdA nur als „extremistisch beeinflusst“ eingestuft hatten, während die Abgabenordnung eine Einstufung als „extremistisch“ verlangt, um die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Damit weitete das Berliner Finanzamt die Möglichkeit, die Gemeinnützigkeit zu entziehen ins Uferlose aus.

Unsere Bundesprecherin der VVN-BdA Cornelia Kerth hatte 2020 ein Gespräch mit dem Berliner Finanzamt. Die Sachgebietsleiterin referierte, was die VVN-BdA widerlegen müsse, um die Vermutung des Linksextremismus zu entkräften. Dabei zählte sie alle Anknüpfungspunkte auf, die dem bayrischen Verwaltungsgericht für eine Einstufung als „linksextremistisch“ ausgereicht hatten[14].

Das Berliner Finanzamt hatte keinerlei Probleme, sämtliche Anknüpfungspunkte des Verwaltungsgerichts München zu übernehmen. Das Verwaltungsgericht München seinerseits hatte diese Anknüpfungspunkte vom bayrischen Verfassungsschutz übernommen. Der Vertreter des Berliner Finanzamtes hob hervor, das alles mit dem Finanzsenator Kollatz abgestimmt sei.

Das war sehr beunruhigend. Es zeichnete sich eine ganz große Koalition ab, von Berlin bis München, von der Politik, über die Verwaltung bis zu den Gerichten. Offensichtlich hat die Doktrin des „Extremismus“ nicht nur den Verfassungsschutz vergiftet.

Wir wollen einmal einzelne Anknüpfungspunkte durchgehen, nach denen Verfassungsschutz und Verwaltungsgericht die VVN-BdA als „extremistisch beeinflusst“ einstuften, auch um zu erkennen, was als „extremistisch“, genauer als „linksextremistisch“ betrachtet wird.

Ein Anknüpfungspunkt für den Vorwurf des Linksextremismus, war die Behauptung, die VVN-BdA vertrete einen “kommunistischer Antifaschismus”

Cornelia Kerth, Sprecherin der VVN-BdA, antwortete den Vertretern des Finanzamtes auf diese Vorhaltung so: Die VVN-BdA sei eine Parteien und Spektren übergreifende Organisation, in der es unterschiedliche Zugänge zum Antifaschismus gibt; die VVN-BdA konzentriere sich auf Gemeinsames: „Dazu gehört auch, dass wir kein von einer einheitlichen Weltanschauung geprägtes Verständnis von Faschismus und Antifaschismus haben“[16]. Was auch immer Verfassungsschutz und Gerichte unter „kommunistischen Antifaschismus“ verstehen mögen, die VVN-BdA lässt sich jedenfalls nicht in gute und schlechte Antifaschistinnen und Antifaschisten spalten.

Ein anderer Anknüpfungspunkt war die Behauptung, der “Einfluss der DKP” in der VVN-BdA sei zu groß.

Abgesehen davon, dass der bayrische Verfassungsschutz den Einfluss von DKP Mitgliedern in der VVN-BdA stark übertreibt, sind Kommunisten und Kommunistinnen niemals ein Anknüpfungspunkt dafür, dass die VVN-BdA „extremistisch“ ist, also Bestrebungen fördert, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind. Unvergessen bleibt Max Reimann, Kommunist und einer der Väter des Grundgesetzes. Er stimmte gegen das Grundgesetz, weil es die Spaltung Deutschlands zementieren sollte, sagte aber gleichzeitig voraus, dass die Kommunistinnen und Kommunisten diejenigen sein würden, die dieses Grundgesetz gegen jene verteidigen würden, die es beständig aushöhlen und verwässern werden.

Ein weiterer Anknüpfungspunkt waren “Äußerungen von einzelnen Funktionärinnen und Funktionären

Als Beispiel wird die folgende Äußerung aus einer Rede auf dem 4. Bundeskongress im Jahr 2011 zitiert: „Faschismus ist im Deutschen ein mehrdeutiges Wort: es bezeichnet eine Organisation, Bewegung oder Partei, eine Ideologie und eine Staatsform, die faschistische Diktatur genannt wird. Und diese Diktatur ist eine der denkbaren, möglichen und verwirklichten Ausprägungen bürgerlicher Herrschaft. Das ist das Wesen der Sache und des Streits. Eine Ausprägung neben anderen: der konstitutionellen Monarchie, der parlamentarischen Republik oder auch dieser oder jener Form autokratischer Herrschaft. In welchen Formen die bürgerliche Gesellschaft ihren staatlichen Rahmen findet, hängt nicht in erster Linie von Überzeugungen ab, wiewohl die beim Handeln von Menschen immer im Spiele sind, sondern davon, welche von ihnen den in der Gesellschaft dominierenden Interessen und deren Verfechtern dient, sie fördert und womöglich auch sichert“.

Der Verfassungsschutz und mit ihm das Verwaltungsgericht würdigt diesen Ausschnitt aus der Rede eines “maßgeblichen Vertreters der marxistischen Faschismustheorie innerhalb der der VVN-BdA” so: “Dieses spezifische Verständnis von „Antifaschismus“ der DKP und in der VVN-BdA erinnert an den „Antifaschismus“ als Staatsdoktrin der ehemaligen DDR, wonach alle nicht-sozialistischen Staaten, also auch die Bundesrepublik Deutschland, „faschistisch“ waren …”. Das ist allerdings eine Behauptung, die auch bei bestem Willen nicht aus dem zitierten Text herausgelesen werden kann. Nirgendwo steht, die Bundesrepublik Deutschland sei faschistisch. Es wird nur gesagt: „Die faschistische Diktatur …  ist eine der denkbaren, möglichen und verwirklichten Ausprägungen bürgerlicher Herrschaft“.  Deutschland hatte bis zum Ende des 1. Weltkrieg einen Kaiser, war danach in der Weimarer Republik eine bürgerliche Demokratie und ab 1933 ein faschistisches Regime. Das alles immer auf der Basis einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Das ist nicht nur eine Beschreibung der Vergangenheit, sondern auch eine Warnung für die Zukunft. Oder in den Worten von Primo Levi: Es ist geschehen und es kann wieder geschehen. Nur wer die  Gefahr benennt, kann sich vor ihr schützen. Es ist ganz unerhört, schon die Warnung davor als verfassungswidrig abzuqualifizieren und auf diese Weise den antifaschistischen Auftrag, den das Grundgesetz enthält, auszuhebeln.

Das bayrische Verwaltungsgericht hatte keine Probleme, die älteste und größte antifaschistische Organisation VVN-BdA als „extremistische“ Organisation einzuordnen, die den Rechtsextremismus lediglich als “vordergründige Aktivität” bekämpft:

Nach verfassungsschutzrechtlicher Bewertung des Bundes ist das Ziel der sogenannten Antifaschismus-Arbeit – in linksextremistischen Organisationen – „der Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung als kapitalistisches System, um die angeblich diesem Gesellschaftssystem immanenten Wurzeln des Faschismus zu beseitigen… [2].

Mit dieser Definition der freiheitlich demokratischen Grundordnung als ausschließlich kapitalistisches System setzen sich jedoch Verfassungsschutz und das Verwaltungsgericht in München selbst in Widerspruch zum Grundgesetz und begeben sich damit in die Verfassungswidrigkeit. Denn das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach hervorgehoben, dass das Grundgesetz nicht auf ein kapitalistisches System festgelegt ist[2]. Das Grundgesetz fordert den Sozialstaat, aber keineswegs die Marktwirtschaft[30].

Will der Verfassungsschutz demnächst auch die IG Metall als linksextremistisch einstufen, weil sie in ihrer Satzung die “Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschende Unternehmungen in Gemeineigentum” fordert und sich damit auf Artikel 15 des Grundgesetzes beruft, der diese Möglichkeit eröffnet? Oder sind die mehr als eine Millionen Menschen, die für die Enteignung der großen Wohnungskonzerne gestimmt haben, Verfassungsfeinde? “Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral” erklärte das Bundesverfassungsgericht mehrfach[29].

Das Verwaltungsgericht München erklärt, unsere Parole “Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen” diene “schlicht der Bekämpfung und Diskreditierung missliebiger anderer Meinungen”[2]. Die Meinung von Faschisten wird also als „andere Meinung“ verharmlost. Geht man so mit einem Regime um das Millionen Menschen in den den KT’s und noch mehr Millionen Menschen im Krieg umgebracht hat? Eine solche Verharmlosung des Faschismus können wir niemals akzeptieren. Wir erkennen in unserer Verfassung einen antifaschistischen Auftrag, den es umzusetzen gilt. Wir fühlen uns damit den besten Traditionen dieses Landes verpflichtet.

Nicht auf die VVN-BdA, sondern auf den Verfassungsschutz und das bayrische Verwaltungsgericht fallen dunkle Schatten.   

Man hätte erwarten können , dass ein rot-rot-grüner Senat das erkennt. Dann hätte der rot-rot-grüne Senat die vom Verfassungsschutz und Verwaltungsgericht angeführte Anknüpfungspunkte als widerlegt betrachtet  und das zuständige Finanzamt angewiesen, die Aberkennung der Gemeinnützigkeit rasch rückgängig zu machen. Aber stattdessen empfahl das Finanzamt Cornelia Kerth ernsthaft, erneut zum Verwaltungsgericht zu gehen, und zwar in Berlin und jetzt die Aberkennung der Gemeinnützigkeit durch das Berliner Finanzamt überprüfen zu lassen. Das kam für die VVN-BdA überhaupt nicht in Frage.

Nach vielen Protesten wurde der Bundes-VVN-BdA die Gemeinnützigkeit im April letzten Jahres wieder zuerkannt. Der Berliner Finanzsenator ließ sich viel Zeit.

In Hamburg verabschiedeten sich im Juli 2021 hunderte Menschen von der Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA Esther Bejarano aus Anlass ihrer Beerdigung. Wenige Wochen vorher hatte Esther Bejarano noch eine förmliche Versicherung abgeben müssen, dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Nur unter dieser Voraussetzung war der Berliner Finanzsenator bereit, der VVN-BdA wieder die  Gemeinnützigkeit zuzuerkennen. Was für ein abgrundtiefes Misstrauen staatlicherseits gegenüber der größten und ältesten antifaschistischen Organisation Deutschlands.

Nach der rot-grün-gelben Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene soll einer Organisation weiter die Gemeinnützigkeit aberkannt werden können, wenn der Verfassungsschutz auch nur eines Bundeslandes diese Organisation als „extremistisch“ einstuft. An dieser Regelung soll sich nichts ändern.

Der bayerische Verfassungsschutz stuft die bayerische VVN-BdA immer noch als „extremistisch“ ein.

Es geht darum für eine antifaschistisch geprägte Gesellschaft zu kämpfen. Das ist das Ziel.

Entscheidend wird sein, ob wir in den kommenden Jahren große Mehrheiten für dafür gewinnen können. Das ist eine Herkulesaufgabe. Aber die Rechtsentwicklung in unserem Land und in ganz Europa fordert das heraus.

Das Grundgesetz ist antifaschistisch geprägt. In diesem Sinne muss es verstanden und auch wohl präzisiert werden. Wenn selbst das Bundesverfassungsgericht kein antifaschistisches Prinzip im Grundgesetz erkennen will, müssen wir dieses Prinzip  durchsetzen.

Es gibt viele konkrete Schritte, die alle helfen, dem Ziel näher zu kommen, unsere Gesellschaft grundlegend antifaschistisch zu prägen.

Es wäre gut, eine Schule nach Esther Bejarano zu nennen.

Auch diese Versammlung hier zu Ehren eines aufrechten Kommunisten, der für seine antifaschistische Überzeugung sterben musste, ist ein Schritt in diese Richtung.  

Hilfreich ist auch, dass die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA seit 2019 tausende neuer Mitglieder beschert hat. Vor allem junge Menschen sind Mitglied unserer Organisation geworden.

Nach dem 2. Weltkrieg war das Ziel, die Gesellschaft in einer antifaschistische Gesellschaft umzugestalten, ein ganz selbstverständliches Ziel. Kommunisten und Sozialdemokraten hatten im Widerstand und in den KZ’s zusammengestanden und wollten nach dem Krieg gemeinsam ein demokratisches antifaschistisches Deutschland aufbauen. Der Schwur von Buchenwald drückt dieses Ziel besonders klar aus: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. 

Das ist bis heute unsere Richtschnur.

Nicht die VVN-BdA muss sich ändern. Wir müssen die Gesellschaft ändern. Die jungen Menschen, die Mitglied in der VVN-BdA geworden sind, sind unsere Hoffnung.

Rot-grün-gelb zur Gemeinnützigkeit: Wen staatlich fördern?

In der „Antifa“, der Zeitung der VVN-BdA, wurde im Januar 2022 folgender Beitrag von Benedikt Hopmann zu den Koalitionsvereinbarungen der rot-grün-gelben Bundesregierung zur Gemeinnützigkeit veröffentlicht.

Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit hat der VVN-BdA seit 2019 tausende neuer Mitglieder beschert. Vor allem junge Menschen sind Mitglied unserer Organisation geworden. Nach vielen Protesten wurde der Bundes-VVN-BdA die Gemeinnützigkeit im April letzten Jahres wieder zuerkannt. Der Berliner Finanzsenator ließ sich viel Zeit.

In Hamburg verabschiedeten sich im Juli hunderte Menschen von der Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA Esther Bejarano aus Anlass ihrer Beerdigung. Wenige Wochen vorher hatte Esther Bejarano noch eine förmliche Versicherung abgeben müssen, dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes steht, damit auf diese Weise die VVN-BdA ihre Gemeinnützigkeit wiedererlangen kann. Was für ein abgrundtiefes Misstrauen staatlicherseits gegenüber der größten und ältesten antifaschistischen Organisation Deutschlands. Eine Schule sollte nach Esther Bejarano benannt werden.

Daraus ergibt sich unmittelbar unsere Aufgabe: Der Kampf um eine antifaschistisch geprägte Gesellschaft. Nach dem 2. Weltkrieg war das ein selbstverständliches Ziel. Doch bald wurde es verdrängt. Der Kampf gegen Totalitarismus und Extremismus war angesagt. Das ist bis heute maßgebend. Selbst nach dem Mord an den Regierungspräsidenten Lübcke (CDU) wurde erklärt, dass gegenwärtig die größte Gefahr von dem Rechtsextremismus ausgehe. Selbst unter diesen Umständen wurde also weiter eine Gefahr des Linksextremismus behauptet. Der Bundes-VVN-BdA wurde genau deswegen die Gemeinnützigkeit durch das Berliner Finanzamt aberkannt. Es reichte die Einstufung als „linksextremistisch“ durch den bayrischen Verfassungsschutz. Verantwortlich ist in letzter Instanz die Bundespolitik, die in der Abgabenordnung dafür die Rechtsgrundlage geschaffen hat. Diese Rechtsgrundlage besteht immer noch. Der bayerische Verfassungsschutz stuft die bayerische VVN-BdA immer noch als „extremistisch“ ein.

Rot-grün-gelb im Bundestag will, dass sich eine gemeinnützige Organisation „politisch betätigen kann sowie auch gelegentlich darüber hinaus zu tagespolitischen Themen Stellung nehmen kann“, so die Koalitionsvereinbarung. Die Gemeinnützigkeitszwecke sollen „gegebenenfalls“ konkretisiert und ergänzt werden. Das wertet die Allianz für Rechtssicherheit, zu der auch die VVN-BdA gehört, als Erfolg und kann Organisationen wie Attac helfen, die Gemeinnützigkeit zurückzuerlangen.

Einer Organisation soll aber weiter die Gemeinnützigkeit aberkannt werden können, wenn der Verfassungsschutz auch nur eines Bundeslandes diese Organisation als „extremistisch“ einstuft. Dabei geht es nicht nur darum, wer was beweisen muss, entscheidend ist der Begriff „Extremismus“ selbst. Das hat die Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit der VVN-BdA deutlich gezeigt. Die zögerliche Haltung des rot-rot-grünen Senats und hier in besonderem Maße die des Finanzsenators war ein Offenbarungseid. Es war völlig verfehlt, der VVN-BdA mangelnden Respekt vor der Meinungsfreiheit zu unterstellen und das ausgerechnet mit dem Verweis auf unsere Losung „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.

Wenn selbst das Bundesverfassungsgericht kein antifaschistisches Prinzip im Grundgesetz erkennen will, müssen wir es durchsetzen. Entscheidend wird in den kommenden Jahren sein, ob wir große Mehrheiten für diese Überzeugung gewinnen können – vielleicht ein Anlass für eine Fortsetzung unserer bundesweiten Online-Veranstaltungen.

Demokratie und Antifaschismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Menschenwürde verlangt Abrüstung und Frieden. Demokratie ist mit Rassismus ebenso unvereinbar wie mit der Macht des großen Kapitals. Die Möglichkeit der Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz ist dagegen Ausdruck einer antifaschistischen Prägung des Grundgesetzes.

Zivilgesellschaftliches und antifaschistisches Handeln muss vom Staat als gemeinnützig anerkannt werden. Die Demokratie sind wir.  

Streikrecht, ESC und Grundgesetz

Wir schlagen folgende Garantie des Streikrechts im Grundgesetz vor, die insbesondere die immer noch bestehenden Einschränkungen des deutschen Streikrechts gegenüber anderen europäischen Ländern beendet:

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, wird das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts anerkannt, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus Tarifverträgen.“ .

Bisher wird die Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz mit den folgenden beiden Sätzen garantiert:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig„.

Zwar hat das Bundesarbeitsgericht 1984 festgestellt, dass Tarifverhandlungen ohne Streikrecht „kollektives Betteln“ wären, und auch das Bundesverfassungsgericht hat dem Recht auf Streik Verfassungsrang eingeräumt, aber eine ausdrückliche Streikgarantie enthält das Grundgesetz nur indirekt: 1968 wurden nach sehr scharfen außerparlamentarischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen im Bundestag die Einschränkung zahlreicher Freiheitsrechte im Falle eines Notstands beschlossen. Wegen der zahlreichen Proteste, die auch von den Gewerkschaften mitgetragen wurden, wurden ein Satz hinzugefügt, der anordnet, dass diese Notstands-maßnahmen sich nicht gegen „Arbeitskämpfe, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden„, richten dürfen[1]„Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und … Continue reading.

Wir fordern, den oben vorgeschlagenen und rot gekennzeichnete Satz voranzustellen, der das Streikrecht direkt und umfassend garantiert.

Damit würde eine Regelung in das Grundgesetz aufgenommen, die in der Europäischen Sozialcharta (ESC) enthalten ist und der der Bundestag schon vor vielen Jahren zugestimmt hat. Sie ist damit jetzt schon wie ein einfaches Gesetz zu beachten. Durch Aufnahme in das Grundgesetz würde der Rang dieser Regelung erhöht und ihrer andauernden Nichtbeachtung ein Riegel vorgeschoben. Die antifaschistische Ausrichtung des Grundgesetzes würde mit dieser Regelung erheblich verstärkt.

Die Regelung der Europäischen Sozialcharta[2]Artikel 6 Nr. 4 ESC lautet:

Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, …

und anerkennen,

4) das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus Gesamtarbeitsverträgen

Gesamtarbeitsverträge heißen in Deutschland Tarifverträge.

Mit dem von uns geforderten zusätzlichen Satz würde Koaltionsfreiheit und Streikrecht umfassend gesichert. Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz würde dann lauten:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, wird das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts anerkannt, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus Tarifverträgen. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden „.

References

References
1 Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden„, Art 9 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz; die vielen Verweisungen in diesem Satz beziehen sich alle auf Notstandsregelungen
2 Artikel 6 Nr. 4 ESC

Wer war Hans Carl Nipperdey?

Wer war Hans Carl Nipperdey?

Eine empfehlenswerte Sendung des Deutschlandfunks gibt Einblick nicht nur in diese Person, sondern auch, in welchem Ausmaß das faschistische Arbeitsrecht bis heute das deutsche Arbeitsrecht prägt. Die Sendung über Hans Carl Nipperdey hier lesen und hören. Eine überarbeitete Fassung dieser Sendung unter dem Titel „Den Unternehmern treu ergeben – das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey“ vom 24. April 2023 hier hören.

Es war der kalte Krieg und die Restauration unter Adenauer, die Hans Carl Nipperdey in eine Position brachte, in der er das deutsche Streikrecht prägen konnte, zunächst im Streit um die rechtliche Bewertung des Zeitungsstreiks als Gutachter für den Spitzenverband der Deutschen Arbeitgeber BDA[1]Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände BDA veröffentlichte ein Rechtsgutachten von Hans Carl Nipperdey vom 2. Januar 1953 unter dem Titel: „Die Ersatzansprüche für Schäden, … Continue reading, dann als 1. Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Die Illegalisierung des politischen und verbandsfreien Streiks geht auf Hans Carl Nipperdey zurück.

Schon während der Weimarer Republik hatte er einen “wirtschaftsfriedlichen” Kurs vertreten.

Während des Faschismus beteiligte er sich an der Ausarbeitung und Kommentierung faschistischen Rechts.

Inhaltsverzeichnis:

Drei Zitate von Hans Carl Nipperdey zum Streikrecht

Die folgenden drei Zitate belegen Nipperdeys durchgehend ablehnende Haltung, die er zu Arbeitsniederlegungen hat. Das Zitat aus der Zeit des Faschismus ist besonders ausführlich, weil es zeigt, in welchem Ausmaß Nipperdey die faschistische Ideologie vertrat.

1. Zitat: Nipperdey im Jahr 1930:

Bezogen auf Streiks erklärt Nipperdey: „Der Staat hat ein dringendes Interesse daran, diese Kämpfe wegen ihrer schädlichen volkswirtschaftlichen Folgen einzuschränken und das Wirtschaftsleben zu befrieden.“[2] Hueck/ Nipperdey Lehrbuch des Arbeitsrechts 2. Band, Mannheim 1930.

2. Zitat: Nipperdey im Jahr 1939:

„Im Verfolg der revolutionären Entwicklung, die mit der Beseitigung der freien Gewerkschaften am 2.5.1933 begann, wurden 11 der bisher wichtigsten Gesetze des kollektiven Arbeitsrechts aufgehoben. Koalitionsrecht, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung, Schlichtung und Arbeitskämpfe gehören der Vergangenheit an. Der nationalsozialistische Staat hat es für richtig gehalten, den Kollektivismus durch neue Formen des Arbeitsrechts ganz zu überwinden.

Das Kollektivrecht, das aufbaute auf Koalitionen, deren Existenz durch den Gedanken des Klassenkampfes bedingt war, die in dem Partner den grundsätzlichen Gegenspieler sahen, deren Interessen notwendig im Widerspruch zu den eigenen stehen müssen, trat immer stärker in Gegensatz zu den Bedürfnissen der Volksgemeinschaft. Die Vereinbarung der Arbeitsbedingungen … nahm nicht hinreichend Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Wirtschaftlichkeit des einzelnen Betriebes. …

Es besteht eine echte deutsche sozialistische Gemeinschaft, zu der alle arbeitenden Volksgenossen, Unternehmer wie Arbeiter … beide schicksalsmäßig an den Betrieb gebunden sind, dessen Förderung ihrer beider Lebensaufgabe ist… und das Führeramt (im Frontsoldatentum des Weltkrieges und in der Zeit des nationalsozialistischen Kampfes um die Macht herausgearbeitet) steht grundsätzlich dem Unternehmer zu.“…[3]Staudinger-Nipperdey BGB 1939, Vorbemerkung 283, 284, 286 zu § 611, Fußnote 28 in Vorbem. 284 zu §611 und Vorbem. 286 zu §611

“Rechtswidrig handelt immer, wer gröblich gegen anerkannte Grundsätze des völkischen Zusammenlebens verstößt.“[4]Nipperdey, Grundfragen der Reform des Schadensrechts, in ArbBerAkDR Nr.14, S. 42,43 und Fußnote 31, S.49 ebendort; ArbBerAkDR = Arbeitsberichte der Akademie für Deutsches Recht

3. Zitat: Das Bundesarbeitsgericht unter Vorsitz von Nipperdey im Jahr 1955: „Arbeitskämpfe (Streik und Aus sperrung) sind im Allgemeinen unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen …“.[5]BAG 28.1.1955 – GS 1/54, juris, Rn. 35. Zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts unter dem Vorsitz Nipperdeys siehe S. 261ff.

Die ungehemmte Herrschaft des Kapitals als „Betriebsgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“: Hans Carl Nipperdey und das faschistische Arbeitsrecht

Hans Carl Nipperdey beteiligte sich während des Faschismus in der Akademie für Deutsches Recht daran, die Ideologie des Faschismus in Gesetze zu gießen. Er war beteiligt an der Erarbeitung eines Volksgesetzbuches, das das Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ersetzen sollte. Andere bekannte Mitglieder der Akademie für Deutsches Recht waren Roland Freisler, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Martin Heidegger, Heinrich Himmler[6]ein instruktiver Vortrag von Prof. Dr. Eva Schumann zur Bedeutung der Akademie für Deutsches Recht und die Auswirkungen der Arbeit dieser Akademie auf das Jugendstrafrecht bis heute: … Continue reading.

Er kommentierte außerdem zusammen mit Alfred Hueck und Rolf Dietz das faschistische Arbeitsrecht AOG[7]Dr. Alfred Hueck, Dr. Hans Carl Nipperdey, Dr. Rolf Dietz „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“, München und Berlin 1934; dies war nicht der einzige Kommentar zum AOG; so existierte … Continue reading. Die drei Kommentatoren des faschistischen AOG konnten nach dem 2. Weltkrieg nach kurzer Unterbrechung ihre Tätigkeit als Professoren, die sie schon während des Faschismus ausgeübt hatten, wieder aufnehmen: Nipperdey in Köln, Hueck in München und Dietz zunächst in Münster, dann in München. Hans Carl Nipperdey wurde nach dem Krieg der 1. Präsident des Bundesarbeitsgericht.

Dieser Kommentar erschien 1934. Da war es schon ein Jahr her, dass die Gewerkschaften zerschlagen und die Gewerkschaftshäuser besetzt worden waren. Das AOG hob das Betriebsrätegesetz – Vorläufer des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes – und die Tarifvertragsverordnung – Vorläuferin des heutigen Tarifvertragsgesetzes – auf[8]§ 65 AOG.

Die Tarifvertragsverordnung wurde durch die so genannte Tarifordnung ersetzt, und damit der „Betriebsordnung“ die höchste Priorität gegeben.

„Die Tarifordnung soll die Ausnahme bilden und nichts an dem Prinzip ändern, dass die Regelung der Arbeitsverhältnisse in erster Linie im Betrieb … erfolgen soll“[9]§ Vorbem. zum dritten Abschnitt „Betriebsordnung und Tarifordnung“ Anm. 3. Nach der Tarifordnung wurden Tarife von einem so genannten „Treuhänder der Arbeit“ festgesetzt, wenn „… die Festsetzung von Mindestbedingungen zur Regelung der Arbeitsverhältnisse zwingend geboten“ sei[10]§ 32 AOG. Der Treuhänder sollte also Mindestbedingungen nur festsetzen, wenn dies „zwingend geboten“ sei; sonst nicht. Das Schwergewicht der arbeitsrechtlichen Rechtssetzung wurde also bewußt in den Betrieb verlegt[11]„Das Gesetz gibt den Führer des Betriebes das Recht, in der Betriebsordnung die gesamten Arbeitsbedingungen einseitig zu regeln. … Das Schwergewicht der arbeitsrechtlichen Rechtssetzung … Continue reading. „In die Betriebsordnung können neben den gesetzlich vorgeschriebenen Bestimmungen auch Bestimmungen über die Höhe des Arbeitsentgelts und über sonstige Arbeitsbedingungen aufgenommen werden“[12]§ 27 Absatz 3 AOG.

„Da das AOG den Betrieb und die lebendige Betriebsgemeinschaft unter dem Führer des Betriebes in den Mittelpunkt stellt, so ist es folgerichtig, dass nicht – wie im bisherigen Recht – die überbetriebliche Regelung der Arbeitsbedingungen durch Tarif im Vordergrund steht und den Regelfall bilden soll“[13]§ Vorbem. zum dritten Abschnitt „Betriebsordnung und Tarifordnung“ Anm. 2. Diese Verdrängung überbetrieblicher Regelungen („Tarif“) durch betriebliche Regelungen war in dem in der Weimarer Republik geltenden Betriebsrätegesetz ausgeschlossen[14]siehe schon das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918, das den Tarifvertrag anerkannte (Nr. 6.: „Die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen sind … durch  … Continue reading und ist auch in dem heute geltenden Betriebsverfassungsgesetz ausgeschlossen[15]siehe Tarifsperre in § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG („Arbeitsentgelte und sonstige Tarifbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht … Continue reading.

Man würde diese Verlagerung der Regelungen der Mindestarbeitsbedingungen in die einzelnen Betriebe im heutigen Sprachgebrauch als ein radikal neoliberales Konzept beschreiben.

Dass später die gesetzlich vorgesehene Ausnahme zur Regel geworden und die Mindestarbeitsbedingungen durch den Treuhänder der festgelegt sein mögen, steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts an der neoliberalen Ausrichtung des faschistischen Arbeitsrechtes (AOG).

Für die Tarifordnung, die nach der Zerschlagung der Gewerkschaften die Weimarer Tarifvertragsverordnung ersetzte, galt: „Während der Tarifvertrag autonome Rechtssetzung der Tarifverbände war, handelt es sich bei der Tarifordnung um staatliches Recht …“[16]§ 32 AOG Anm. 48. Für die Betriebsordnung war „von entscheidender Bedeutung die Beseitigung des bisherigen Vereinbarungsprinzips (Betriebsvereinbarung), an dessen Stelle (wie vor dem Betriebsrätegesetz) das einseitige Anordnungsrecht des Führers (Führerprinzip) getreten ist“[17]Vorbem. zum dritten Abschnitt „Betriebsordnung und Tarifordnung“ Anm. 2.

„Das einseitige Anordnungsrecht des Führers (Führerprinzip)“ ist das weder durch Gewerkschaften noch durch Betriebsräte eingeschränkte Direktionsrecht des Kapitalherrn. Die Betriebsordnung, in der das Direktionsrecht des Kapitalherren weder durch Rechte von Betriebsräten noch durch Tarifverträge mit Gewerkschaften eingeschränkt wird, ist also nichts anderes als Kapitalismus pur.

Der Arbeitskräftemangel aufgrund der massiven Aufrüstung führte ab 1938 dazu, dass die Treuhänder der Arbeit nicht nur Mindestarbeitsbedingungen, sondern auch Höchstarbeitsbedingungen festsetzten[18]siehe Rüdiger Hachtmann „Auf den Trümmern der Arbeiterbewegung: Arbeitsrecht und Betriebsverfassung 1933 bis 1945“ in: Gün/Hopmann/Niermerg „Gegenmacht statt Ohmacht“, 2020 … Continue reading.

Mit den Begriffen „Betriebsgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“ wurde der Gegensatz von Kapital und Arbeit im faschistischen Arbeitsrecht systematisch geleugnet. So schreibt Alfred Hueck in dem genannten Kommentar zum AOG: „Die Zusammenfassung von Unternehmer (Führer) und Beschäftigten in einer Betriebsgemeinschaft, einem Herrschaftsverbandes mit eigener Aufgabe und eigenem Ziel bedeutet vor allem Absage an den Gedanken des Klassenkampfes. Unternehmer und Gefolgschaftsangehöriger sollen sich als Mitarbeiter betrachten, die in gemeinsamer Arbeit an der Errichtung eines gemeinsamen Ziels schaffen. Die Förderung des Betriebszwecks ist nicht allein das Bestreben des Unternehmens, sondern soll in gleichem Maße das aller Gefolgschaftsangehöriger sein, deren Lebensaufgabe die Förderung ihres Betriebes ist“[19] § 1 AOG 1934 Beck-Verlag Anm. 35.

Die „Lebensaufgabe“ der Beschäftigten bestand damit in der Förderung „ihres“ Betriebes, der nicht ihr Betrieb war und in dem der Unternehmer alles und die Beschäftigten nichts zu sagen hatten.

Das also ist Arbeitsrecht im Faschismus. Es ist nichts anderes als die ungehemmte Herrschaft des Kapitals.

Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf: Hans Carl Nipperdey und das Arbeitsrecht in der Zeit der Restauration

Die Traditionen der Betriebsgemeinschaft wurden zum Teil auch schon vorher 1933 gepflegt und nach dem 2. Weltkrieg vehement weiter verteidigt[20]siehe Benedikt Hopmann in: Gün/Hopmann/Niermerg „Gegenmacht statt Ohmacht“, 2020 Hamburg, Seiten 44 und 111. Besonders prominent und einflussreich steht für diese Traditionen Hans Carl Nipperdey. Wie lebendig diese Traditionen bis heute sind, kann sich jede und jeder selbst auf einfache Weise verdeutlichen: Wer benutzt den Begriff „Klassenkampf“? Er ist bis heute weitgehend geächtet und mit ihm diejenigen, die diesen Begriff benutzen. Der Verfassungsschutz stuft die Tageszeitung ‚junge Welt‘ als „extremistisch“ ein, weil sie die Gesellschaft „nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit“ aufteile. Das widerspreche der Menschenwürde[21]„Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum … Continue reading. Aber es gibt nun einmal die Klasse der Lohnabhängigen, die ihre eigene Organisation, die Gewerkschaft, haben und so ganz sichtbar als Klasse handeln. Und es gibt auch die Klasse der Unternehmer und Unternehmerinnen, also die Klasse des Kapitals, die sich in Unternehmerverbänden zusammengeschlossen haben. Es lässt sich auch kaum leugnen, dass die Interessen der Lohnabhängigen den Interessen des Kapitals entgegengesetzt sind. Ein Euro mehr Lohn ist ein Euro weniger Gewinn. Jeder Tarifkampf ist ein Klassenkampf. Gerade dadurch, dass sich die abhängig Beschäftigten in Gewerkschaften organisieren und für ihre eigenen Interessen kämpfen, überwinden sie ihre Angst und werden sich ihrer Menschenwürde bewusst[22]siehe Reinhold Niemerg/Maria Cerull/Susanne Mohrig/Silvia Dulisch/Ruth Potschka-Zwickl (Hrsg.) „Das Ende der Angst“ Hamburg 2021.  

Nach dem 2. Weltkrieg wurden Gewerkschaften und die kollektiven Rechte der abhängig Beschäftigten wieder zugelassen, zum Teil in gestärkter Form. Gebrochen ist die Herrschaft des Kapitals jedoch bis heute nicht. Man muss sich nur die Rechte anschauen, die ein Betriebsrat nach dem geltenden Betriebsverfassungsgesetz hat: Je mehr es um die Existenzgrundlagen der Beschäftigten geht, desto weniger Rechte haben sie. Jede andere Beschreibung der Realitäten in den Betrieben und in der Wirtschaft gehört in das Reich der Märchen und Schönfärberei.

Auch werden die Gewerkschaften immer wieder mit Angriffen auf ihre Organisation, ihre Arbeit und ihre Tarifverträge konfrontiert. Erinnert sei an die Versuche von CDU/CSU und FDP, im Jahre 2003 die Betriebsräte über die gesetzliche Absicherung von sogenannten ‚Bündnissen für Arbeit‘ gegen die Gewerkschaften in Stellung zu bringen. Auch die seit Jahren zu beobachtende Abnahme der Tarifbindung gehört in diesen Zusammenhang; denn wo die Unternehmen an keine Tarife gebunden sind, bestimmen die Unternehmen allein die Arbeitsbedingungen. Und dann sind wir wieder bei der Regelung der Mindestarbeitsbedingungen in den Betrieben. Dann sind wir wieder bei der Regelung der Arbeitsbedingungen allein durch die Unternehmen statt durch Tarifvereinbarung mit den Gewerkschaften. Die Pläne der neuen Bundesregierung zur Stärkung der Tarifbindung sind zu zaghaft, um den Trend der abnehmenden Tarifbindung auch nur stoppen zu können.

Faschistische Prägungen im deutschen Arbeitsrecht

Nachdem der Autor dieses Beitrags die oben empfohlene Sendung in Deutschlandfunk zu Hans-Carl Nipperdey gehört hat, ist ihm noch einmal bewußt geworden, dass alle seine Prozesse, die ein großes öffentliches Interesse erregt haben, eine Auseinandersetzung nicht nur mit den weitreichenden Rechten des Kapitals waren, sondern auch mit den faschistischen Prägungen des deutschen Arbeitsrechts:

  • Der Fall ‚Emmely“: Es ging u.a. um das Vertrauen, das durch die angebliche Unterschlagung von Bonds im Wert von 1,30 € zerstört wurde. Dieser Begriff des Vertrauen war vom faschistischen Arbeitsrecht geprägt und zeichnete sich durch seine Unbestimmtheit aus. Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass es ausschließlich darum geht, ob in Zukunft nicht mehr mit mit vergleichbaren arbeitsvertraglichen Verstößen gerechnet werden kann[23]siehe Hopmann/Emme/Niemerg „“Emmely und die Folgen“ 2012 Hamburg.
  • Das Whistleblowing der Altenpflegerin Brigitte Heinisch: Es ging um sogenannte „Treue- und Fürsorgepflichten“. Auch der Begriff der ‚Treupflichten‘ war so unbestimmt gehalten, dass auf den abhängig Beschäftigten neben seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nahezu unbegrenzt weitere Pflichten übertragen werden konnten. Diese ‚Treupflichten‘ bestehen heute unter dem Begriff Nebenpflichten weiter. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht von einer ‚Loyalitätspflicht‘ eines abhängig Beschäftigten aus. Doch die Rechtsprechung der deutschen Gerichte ging dem Europäischen Gerichtshof zu weit. Brigitte Heinisch durfte ihre Strafanzeige gegen Vivantes stellen[24]siehe Heinisch/Hopmann „Altenpflegerin schlägt Alarm“ 2012 Hamburg.
  • Die gerichtlichen Auseinandersetzungen um das Streikrecht im Fall Mercedes Bremen und im laufenden Fall der Kündigungen von Gorrilas-Beschäftigten wegen ihrer Teilnahme an einem Streik: Nach der herrschenden Meinung ist der verbandsfreie und politische Streik immer noch verboten. Das Recht der Weimarer Republik zum Streikrecht war äußerst restriktiv, aber es bestand weder ein Verbot des verbandsfreien Streiks noch ein Verbot des politischen Streiks. Diese Rechtsprechung der Nachkriegszeit durch vom Faschismus geprägte Juristen ist unvereinbar mit Artikel 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta[25]siehe Kupfer „Streik und Menschenwürde“ 2012 Hamburg. Zum faschistischen Einfluss auf das gegenwärtige Streikrecht hier weiterlesen lesen.
  • Die sogenannte ‚vertrauensvolle Zusammmenarbeit‘ der Betriebsräte mit dem Arbeitgeber nach dem Betriebsverfassungsgesetz[26]§ 2 Abs. 1 BetrVG: In zahllosen Seminaren für Betriebsräte ist das immer wieder Thema. In kleineren Betrieben schert sich das Unternehmen häufig nicht um den Betriebsrat, so dass solche Betriebsräte sich manchmal darauf berufen. Doch in großen Betrieben pochen die Unternehmen mit Verweis auf die „vertrauensvolle Zusammmenarbeit“ darauf, dass die Betriebsräte nicht gegen das Handeln des Unternehmens mobil machen. Der Begriff der ‚vertrauensvollen Zusammenarbeit‘ steht in der Tradition der „Betriebsgemeinschaft“ des faschistischen AOG. Zur Geschichte der Leitsätze in den Betriebsverfassungen seit 1920 und zum faschistischen Einfluss auf den Leitsatz des gegenwärtigen Betriebsverfassungsgesetzes hier weiterlesen lesen.



References

References
1 Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände BDA veröffentlichte ein Rechtsgutachten von Hans Carl Nipperdey vom 2. Januar 1953 unter dem Titel: „Die Ersatzansprüche für Schäden, die druch den von den Gewerkschaften gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz geführten Zeitungsstreik vom 27. bis 29. Mai 1952 entstanden sind„; Gutachter auf Seiten der Gewerkschaften waren Schnorr von Carolsfeld und Wolfgang Abendroth, der während des Faschismus mit den griechischen Partisanen gegen den Fachismus gekämpft hatte; mit Ausnahme des Berliner Landesarbeitsgerichts entschieden alle Landesarbeitsgericht im Sinne des Gutachtens von Hans Carl Nipperdey – eine Weichenstellung, die bis heute das deutsche Streikrecht prägt
2 Hueck/ Nipperdey Lehrbuch des Arbeitsrechts 2. Band, Mannheim 1930
3 Staudinger-Nipperdey BGB 1939, Vorbemerkung 283, 284, 286 zu § 611, Fußnote 28 in Vorbem. 284 zu §611 und Vorbem. 286 zu §611
4 Nipperdey, Grundfragen der Reform des Schadensrechts, in ArbBerAkDR Nr.14, S. 42,43 und Fußnote 31, S.49 ebendort; ArbBerAkDR = Arbeitsberichte der Akademie für Deutsches Recht
5 BAG 28.1.1955 – GS 1/54, juris, Rn. 35. Zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts unter dem Vorsitz Nipperdeys siehe S. 261ff.
6 ein instruktiver Vortrag von Prof. Dr. Eva Schumann zur Bedeutung der Akademie für Deutsches Recht und die Auswirkungen der Arbeit dieser Akademie auf das Jugendstrafrecht bis heute: https://www.youtube.com/watch?v=07pzqoc_FFQ
7 Dr. Alfred Hueck, Dr. Hans Carl Nipperdey, Dr. Rolf Dietz „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“, München und Berlin 1934; dies war nicht der einzige Kommentar zum AOG; so existierte auch noch ein Kommentar zum AOG von Mansfeld-Pohl-Steinman-Krause, Berlin 1934
8 § 65 AOG
9 § Vorbem. zum dritten Abschnitt „Betriebsordnung und Tarifordnung“ Anm. 3
10 § 32 AOG
11 „Das Gesetz gibt den Führer des Betriebes das Recht, in der Betriebsordnung die gesamten Arbeitsbedingungen einseitig zu regeln. … Das Schwergewicht der arbeitsrechtlichen Rechtssetzung ist bewußt in den Betrieb verlegt …“(§ 32 AOG Anm. 1). Für die Kommentierung des Abschnitts „Betriebsordnung und Tarifordnung“, § 26 -34 AOG, war Nipperdey verantwortlich
12 § 27 Absatz 3 AOG
13 § Vorbem. zum dritten Abschnitt „Betriebsordnung und Tarifordnung“ Anm. 2
14 siehe schon das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918, das den Tarifvertrag anerkannte (Nr. 6.: „Die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen sind … durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen“) und die Errichtung von Arbeiterausschüssen anerkannte (Nr. 7.: Für jeden Betrieb mit einer Arbeiterschaft von mindestens 50 Beschäftigten ist ein Arbeiterausschuss einzusetzen, der … darüber zu wachen hat, dass die Verhältnisse des Betriebes nach Maßgabe der Kollektivvereinbarungen geregelt werden“
15 siehe Tarifsperre in § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG („Arbeitsentgelte und sonstige Tarifbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein“) und in § 87 Absatz 1 BetrVG Eingangssatz („Der Betriebsrat hat, soweit … eine tarifliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen …“; zudem geht es in den „folgenden Angelegenheiten“ nicht um das Volumen von Arbeitszeit, Urlaub, Löhnen/Gehältern usw., sondern nur um deren Verteilung
16 § 32 AOG Anm. 48
17 Vorbem. zum dritten Abschnitt „Betriebsordnung und Tarifordnung“ Anm. 2
18 siehe Rüdiger Hachtmann „Auf den Trümmern der Arbeiterbewegung: Arbeitsrecht und Betriebsverfassung 1933 bis 1945“ in: Gün/Hopmann/Niermerg „Gegenmacht statt Ohmacht“, 2020 Hamburg
19 § 1 AOG 1934 Beck-Verlag Anm. 35
20 siehe Benedikt Hopmann in: Gün/Hopmann/Niermerg „Gegenmacht statt Ohmacht“, 2020 Hamburg, Seiten 44 und 111
21 „Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum „bloßen Objekt“ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der Einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln. Demgegenüber stellt die unbedingte Unterordnung einer Person unter ein Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion eine Missachtung des Wertes dar, der jedem Individuum um seiner selbst willen zukommt. Die Menschenwürde ist egalitär, d. h. sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht“ aus der Antwort von Prof. Krings „namens der Bundesregierung“ auf eine kleine Anfrage der BT-Fraktion DIE LINKE, BT-Drucksache 19/28956
22 siehe Reinhold Niemerg/Maria Cerull/Susanne Mohrig/Silvia Dulisch/Ruth Potschka-Zwickl (Hrsg.) „Das Ende der Angst“ Hamburg 2021
23 siehe Hopmann/Emme/Niemerg „“Emmely und die Folgen“ 2012 Hamburg
24 siehe Heinisch/Hopmann „Altenpflegerin schlägt Alarm“ 2012 Hamburg
25 siehe Kupfer „Streik und Menschenwürde“ 2012 Hamburg
26 § 2 Abs. 1 BetrVG