30.10.2020 Im Grundgesetz finden sich viele Spuren von dem, was gleich nach dem Ende des 2. Weltkrieg Konsens war und was in dem Schwur von Buchenwald in den beiden Sätzen zusammengefasst wird: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzen ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“.
Die Grundrechte wurden an den Anfang des Grundgesetzes gestellt und an die erste Stelle die Menschenwürde. Aktive Feinde dieser Grundordnung verwirken ihre Grundrechte (Art. 18 GG), ihre Parteien werden aufgelöst (Art. 21. Abs. 2 GG) und erhalten keine staatliche Finanzierung (Art. 21. Abs. 3 GG), ihre Vereine werden verboten (Art. 9 Abs. 2 GG).
Wenn diese Regelungen, so ausgelegt werden, dass sie gegen Demokraten, Sozialisten oder Kommunisten gewendet werden, so passt das nicht zu dem antifaschistischen Konsens, der gleich nach dem Ende des 2. Weltkrieges galt. So galt „die Kommunistische Partei Deutschlands auch in den Westzonen nicht nur als eine demokratische Partei, sondern als eine für den politischen Neuanfang in besonderer Weise legitimierte Partei. 1933 war sie verboten worden und hatte seitdem einen entschlossenen Kampf gegen die NS-Diktatur geführt“ . Wichtige Entscheidungen lagen zu dieser Zeit in den Händen der Besatzungsmächte. Nationalistische Parteien bekamen keine Zulassung (Lizensierung).
Wehret den Anfängen! Es galt alles zu tun, um ein Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern.
Es gibt zwei weitere Artikel im Grundgesetz, die das in besonderem Maße verdeutlichen: Artikel 26 Absatz 2 Grundegesetz und Artikel 139 Grundgesetz.
Artikel 26 Absatz 1 GG erklärte alle Handlungen für verfassungswidrig, „die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“. Die Rechtswissenschaftler Battis und Grigoleit erläutern dieses Verbot so:
„Es richtet sich gleichermaßen gegen den Staat wie gegen Private. Und verbietet auch diesen Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen und religiösen Hass. Nach den Erfahrungen der NS-Diktatur sollte jede „nationalistische Verhetzung der Gemüter“ verboten sein. Insofern erhält das Friedensstaatgebot eine … die Kommunikationsgrundrechte beschränkende, äußerste Grenze für die Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess“.
Artikel 139 GG bestimmt, dass „die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften von den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht berührt werden“, also weiter gelten sollen. Artikel 139 GG ist keinesfalls obsolet, wie vielfach behauptet wird – Behauptungen, denen Wolfgang Abendroth schon vor Jahrzehnten und bis heute beeindruckend in einem Beitrag entgegengetreten ist. Der Bundestag hätte ausreichend Gelegenheit gehabt, diese Vorschrift aufzuheben. Das hat er aber nicht getan.
Ganz sicher muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach hervorgehoben hat: “Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral”. Nach Artikel 15 GG können „zum Zweck der Vergesellschaftung Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“. Der Ursprung dieses Artikels liegt in der Revolution von 1918/19, die dazu führte, dass der 1. Reichsrätekongress beschloss, “mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen”. Das schlug sich in entsprechenden Optionen in der Weimarer Reichsverfassung nieder. Nach den Erfahrungen mit dem Hitler-Faschismus war es weithin Konsens, dass das große Kapital eine besondere Verantwortung Krieg und Faschismus hatte. Die Aufnahme einer Option zur Vergesellschaftung großen Kapitals, wie sie schon in der Weimarer Reichsverfassung enthalten war, wurde als besonders dringlich betrachtet. In diesem Sinnen konnte auch der Schwur von Buchenwald verstanden werden: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung“. Selbst die CDU erklärte in ihrem Ahlener Programm: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“. Sie forderte eine „Neuordnung von Grund aus“ und die Vergesellschaftung der Bergwerke und der eisenschaffenden Großindustrie.
1946 stimmten über zwei Drittel der Bevölkerung in Hessen für die Überführung von Bergbau, Eisen – und Stahlerzeugung sowie Energiewirtschaft in Gemeineigentum und in Sachsen für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher. In Sachsen und in der übrigen von der Sowjetunion besetzten Zone, der späteren DDR, wurden die Betriebe der Nazi- und Kriegsverbrecher enteignet. Die Bundesrepublik behielt die Kapitalherrschaft in vollem Umfang bei. 44 Jahre später wurde sie wieder auf die DDR ausgedehnt. Geblieben aber ist der Artikel 15 Grundgesetz. Auf diesen Artikel beruft sich die gegenwärtige Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“.
Artikel 20 Absatz 4 GG normiert das Widerstandsrecht, auch das Recht zum Generalstreik, „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen …, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Danach ist also ein Generalstreik wie der gegen den Kapp Putsch 1920 erlaubt. 1920 wurde mit dem Generalstreik erfolgreich die junge erste deutsche Republik erfolgreich verteidigt. Dieser Artikel 20 Absatz 4 GG ist aber unzureichend, weil er nur in extremen Ausnahmefällen den politischen Streik erlaubt: „ … wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“, das heißt: Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, also ein Streik nicht mehr oder nur noch unter sehr schweren Bedingungen möglich ist. Der Kampf um ein politisches Streikrecht hat sich also keinesfalls erledigt. Der Artikel 20 Absatz 4 wurde im Zusammenhang mit den Notstandsgesetzen in das Grundgesetz aufgenommen. Er war ein Zugeständnis an diejenigen, die die Notstandsgesetze nicht wollten.
Soll das Wort von der Verfassung als dem „historischen Gedächtnis“ der Nation einen Sinn haben, so aktualisiert sich dieser Sinn gerade in Bestimmungen wie Artikel 139 GG und Artikel 15 Grundgesetz.
Allerdings wurde das antifaschistische Fenster, das diejenigen geöffnet hatten, die unmittelbar nach dem Krieg aus dem Exil und den Konzentrationslagern in ihre Heimatstädte zurückgekehrt waren, bald wieder geschlossen. Es folgte der antitotalitäre Konsens. Die Entnazifizierung wurde beendet und die Renazifizierung in Justiz und Verwaltung begann. Es setzte sich eine konservativ-liberale Deutung des Scheiterns der Weimarer Republik durch, die nicht den antirepublikanischen Kräften, sondern “der vermeintlich zu toleranten und nicht abwehrbereiten Republik die Schuld an ihrem eigenen Untergang gab”. Auf dieser Grundlage wurde das antitotalitäre Konzept der wehrhaften Demokratie für die Bundesrepublik entwickelt, das sich vor allem gegen die DDR und die Kommunisten richtete und alle schwächte “die an ‘sozialistischen Vorstellungen’ orientiert waren, auch SPD und Gewerkschaften. Die SPD selbst sah sich im ‘Schatten der Halbverdächtigung, halbe Kommunisten zu sein’ (Hans Apel, in Steiniger/Weiss 2009, Min.2.1)”.
Das Bundesverfassungsgericht meint: „Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubt…. Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr grundsätzlich auch für die Feinde der Freiheit“. Das Bundesverfassungsgericht bezog sich ausdrücklich auf die Position der Rechtswissenschaftler Battis und Grigoleit und des Oberverwaltungsgerichts NRW und lehnte diese Position ab .
Diese Position des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Grundgesetz kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip kennt, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubt, halten wir für äußerst gefährlich. Denn diese Position öffnet das Tor für alle die Anwendungen des Grundgesetzes, die unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Extremismus am Ende nur die Demokraten und Linken bekämpfen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, gegen diese Position des Bundesverfassungsgericht anzugehen: Die eine Möglichkeit ist die, für eine Änderung dieser Positionen des Bundesverfassungsgerichts zu kämpfen. Die andere Möglichkeit ist die, ein allgemeines antifaschistisches Grundprinzip ausdrücklich in das Grundgesetz aufzunehmen. Meines Erachtens sollte man in beide Richtungen gehen.
Initiativen, ein antifaschistisches Grundprinzip in die Verfassung aufzunehmen, gab es auch in verschiedenen Bundesländern. Wenn das eine tatsächliche Wirkung entfalten soll, kommt es ganz entscheidend darauf an, wie das formuliert wird. Das Land Mecklenburg – Vorpommern nahm als Reaktion auf den Einzug der neofaschistischen NPD in den Landtag folgende Formulierung in seine Verfassung auf: „Alles staatliche Handeln muss dem inneren und äußeren Frieden dienen und Bedingungen schaffen, unter denen gesellschaftliche Konflikte gewaltfrei gelöst werden können. Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker oder der Bürger Mecklenburg-Vorpommerns zu stören und insbesondere darauf gerichtet sind, rassistisches oder anderes extremistisches Gedankengut zu verbreiten, sind verfassungswidrig .
In dieser Regelung ist der Begriff “extremistisch” irreführend, weil er unter “linksextrem” auch Vereine und Parteien fasst, deren Bestrebungen nicht gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind, und weil er diese Organisationen mit dem Rechtsextremismus in einen Topf wirft.
Auch in Brandenburg wurde eine Antifaschismus – Klausel in die Landesverfassung aufgenommen: „Das Land schützt das friedlich Zusammenleben der Menschen und tritt der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts entgegen“. In dieser Antifaschismus Klausel wurde der Begriff “extremistisch” vermieden. Doch die irreführende Gleichsetzung von Rechtsextremismus mit demokratischem oder linkem Handeln spielte auch bei der Fassung dieser Klausel eine Rolle, und zwar wenn es um die Frage geht, ob die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit auch für Rechtsextremisten gelten soll. Im ND vom 23.5.2013 war dazu ein aufschlussreicher Bericht zu lesen: „… nach intensiver Diskussion mit den Oppositionsparteien entschied man sich, anstatt etwas zu verbieten, den Staat zu etwas zu verpflichten. … Bei einem Verbot hätte die FDP nicht mitgespielt. Mögliche Einschränkungen der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit wollte sie auch dann nicht hinnehmen, wenn es gegen Neonazis geht. Denn das könnte auch andere treffen, argumentierte der FDP-Abgeordnete Hans-Peter Goetz.“ Als versucht wurde, auch in Sachsen eine Antifaschismus-Klausel in die Verfassung aufzunehmen, lehnte der Vertreter von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das in ähnlicher Weise ab und bezog sich dabei ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2001 und den Folgejahren – gegen den erbitterten Widerstand des Oberverwaltungsgerichts NRW – immer wieder Verbote von Nazi-Aufmärschen aufgehoben, siehe der Streit in der Frankfurter Rundschau.
In Sachsen-Anhalt gelang dann im Jahr 2020 ein wichtiger Etappenerfolg. Gegen die Stimmen der AfD wurde von CDU und der Partei DIE LINKE ein zusätzlicher Artikel (Artikel 37a) in die Landesverfassung aufgenommen, der lautet: “Die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen”. In die Bremer Verfassung soll eine ähnliche Ergänzung aufgenommen werden . Der Begriff “extremistisch” wird vermieden und dadurch Faschismus und neofaschistische Bestrebungen nicht relativiert.
Es sei erinnert an den Widerstand der FDP, ein Verbot in die Verfassung des Landes Brandenburg aufzunehmen: “Mögliche Einschränkungen der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit wollte sie auch dann nicht hinnehmen, wenn es gegen Neonazis geht”. Wir hatten schon darauf hingewiesen: Das ist genau die Position, die das Bundesverfassungsgericht in den Jahren 2001 und 2002 im Streit mit dem Oberverwaltungsgericht NRW durch gesetzt hatte. Aus Sicht derer, die wie das Oberverwaltungsgericht NRW für ein schärferes antifaschistisches Profil in den Verfassungen sind, geht es jedoch darum, demonstrative faschistische Meinungsäußerungen aus dem demokratischen Meinungskampf auszugrenzen. Um dem verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheitsgebot zu genügen, müsste allerdings ein Verbot genauer festlegen, was unter nationalsozialistischem Gedankengut zu verstehen ist: Was gehört dazu und was nicht?
Zu beachten ist, dass es sich bei all diesen Bemühungen um Änderungen der Länderverfassungen handelt. Es bleibt die Aufgabe des Bundestages, auch in der Bundesverfassung, also dem Grundgesetz, klarzustellen, dass Antifaschismus Verfassungsauftrag ist. Dies schon deswegen, weil das Bundesverfassungsgericht, meint, das Grundgesetz kenne kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip. Allerdings besteht die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht solche Regelungen abzuschwächen versucht, indem es – wie schon in der Vergangenheit – die besondere Bedeutung der Demonstrations- und Meinungsäußerungsfreiheit hervorhebt, die auch für Nazis zu gelten habe. Es kommt also darauf an, eine möglichst klare Regelung zu finden, über die sich das Bundesverfassungsgericht nicht hinweg setzen kann.
Zu beachten ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung des Jahres 2009 eine Verschärfung des Strafrechts und auf dieser Grundlage ein Verbot von Nazi-Kundgebungen in Wunsiedeln für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärte und damit einen Schritt in die richtige Richtung ging, weil diese Strafverschärfung sich nicht allgemein gegen „Extremisten“ richtete, sondern ausschließlich gegen denjenigen, der „nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“. Das reicht aber nicht. Denn in derselben Entscheidung meinte das Bundesverfassungsgericht eben auch, wie schon zitiert: „Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubt…. Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr grundsätzlich auch für die Feinde der Freiheit“. Die Folgen zeigten sich in dem Nazi-Aufmarsch in Dresden im Jahr 2010, der nicht verboten wurde und wohl auch wegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht nicht verboten werden konnte. Die vielen Naziaufmärsche der vergangenen Jahre dürfen nicht zur Gewohnheit werden. Die Bemühungen der Bundesländer, in ihren Verfassungen antifaschistische Klauseln aufzunehmen, machen deutlich, dass die rechtlichen Grundlagen, um gegen Nazis vorzugehen, als unzureichend betrachtet werden.
Noch einmal zusammenfassend:
Es gibt zwei Möglichkeiten, gegen die Position des Bundesverfassungsgericht, wonach das Grundgesetz kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip kennt, anzugehen: Die eine Möglichkeit ist der Kampf dafür, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung ändert und anerkennt, dass das Grundgesetz doch ein allgemeines antifaschistisches Grundprinzip kennt. Die andere Möglichkeit ist die, ein allgemeines antifaschistisches Grundprinzip ausdrücklich in das Grundgesetz aufzunehmen. Beide Richtungen sollten meines Erachtens weiter verfolgt werden.
Wichtig ist, sich klar zu machen, dass in jedem Fall Erfolge in die eine oder andere Richtung oder beide Richtungen nur erzielt werden können, wenn sich ein breiter antifaschistischer Konsens in großen Teilen der Gesellschaft herausbildet. Das ist ein Kampf, der täglich geführt werden muss.