Welche Rechte haben Wistleblower?

Inhaltsverzeichnis:

1. Februar 2021 von benhop

Whistelblower Rechte im Detail

I. Interne Meldung von Missständen im Betrieb oder Büro

Bei Whistleblowing denkt man zunächst immer an die Veröffentlichung betriebliche Missstände, also zum Beispiel an die Weitergabe betrieblicher Missständen an die Presse. Aber es ist ganz unstreitig, dass auch die interne Mitteilung eines Missstandes im Betrieb oder Unternehmen Whistleblowing ist.

1. Whistleblowing als Meldung von gesetzlichen Verstößen?

Häufig wird von Whistleblowing nur dann gesprochen, wenn es um Verstöße gegen geltendes Recht geht oder wenn zumindest darum geht, dass gegen Ziel oder Zweck einer Rechtsvorschrift verstoßen wurde. So zum Beispiel eine erst vor kurzem beschlossene EU-Richtlinie 2019/1937. Aber das ist zu eng gefasst. Es sollten auch Kolleginnen und Kollegen geschützt werden, die Missstände mitteilen, die sich nicht auf ein Gesetz beziehen. Im vorliegenden Fall wäre es zum Beispiel nicht angebracht, darüber zu streiten, ob gegen ein Gesetz oder gegen Ziel oder Zweck eines Gesetzes verstoßen wurde. Die Pflege litt auf jeden Fall unter schweren Mängeln. Und diese Pflegemängel beruhten auf Personalmangel. Es sollte nicht darauf ankommen, ob dabei gegen ein Gesetz verstoßen wird oder nicht.

2. Zum Beschwerderecht nach § 17 ArbSchG:

Dieses Whistelblowing in Form einer Überlastungsanzeige stützt sich auf § 17 ArbSchG. In § 17 ArbSchG geht es um ein Vorschlags- und ein Beschwerderecht der Beschäftigten gegenüber dem Arbeitgeber bei „allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit“. Dabei geht es um die Sicherheit und die Gesundheit aller Beteiligten, also auch der zur Pflege anvertrauten Personen. Weitere Informationen dazu, was bei einer Überlastungsanzeige konkret zu beachten, findet man unter Überlastungsanzeige:

3. Zum Beschwerderecht nach § 13 AGG:

Auch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ermöglicht „den Beschäftigten“ in § 13 die Beschwerde bei den zuständigen Stellen des Betriebes, des Unternehmens oder der Dienststelle. Sie können sich beschweren, wenn sie sich vom Arbeitgeber, vom Vorgesetzten, anderen Beschäftigten oder Dritten wegen ihrer Rasse, ethnischen Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, sexueller Identität oder ihres Alters benachteiligt fühlen. Die Beschwerde ist zu prüfen und das Ergebnis der bzw. dem beschwerdeführenden Beschäftigten mitzuteilen. Die Rechte der Arbeitnehmervertretungen bleiben unberührt (§ 13 Absatz 2 AGG), insbesondere das Recht des Betriebsrates nach § 85 Absatz 2 BetrVG eine Einigungsstelle zu bilden.

4. Beschwerde nach den §§ 84, 85 BetrVG:

Ein Beschäftigter kann sich nach § 84 BetrVG betriebsintern bei der „zuständigen Stelle“ über jede individuelle Benachteiligung oder Beeinträchtigung beschweren. Deswegen kann sich ein Beschäftigter nach § 85 BetrVG auch beim Betriebsrat beschweren. Dabei können sich auch mehrere Beschäftigte zur gleichen Zeit über ihre individuelle Beeinträchtigung beschweren, was wie eine Arbeitsniederlegung wirken kann. Entsprechende Vorschriften existieren nicht im PersVG. Diese Möglichkeit der Beschwerde leidet u.a. unter der Einschränkung, dass eine individuelle Beeinträchtigung verlangt wird. Sie erfasst damit eine Vielzahl von Missständen nicht, die ein Whistleblower melden oder offenlegen will.

5. Zur internen Meldung nach der EU-Richtlinie:

Wir haben oben schon die EU-Richtlinie 2019/1937 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das EU Recht melden, erwähnt[1] Sie kann im Internet eingesehen werden unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=serv:OJ.L_. 2019.305.01.0017.01.DEU&toc=OJ:L:2019:305:TOC. Sie muss bis zum 17. … Continue reading. Die Artikel 8 und 9 dieser Richtlinie verpflichten bei mehr als 50 Beschäftigten zur Einrichtung einer internen Stelle zur Meldung von Verstößen gegen EU-Recht und regeln das Verfahren für diese interne Meldungen und die Folgemaßnahmen.

6. Kollektives Whistleblowing:

In der Regel denkt man beim Whistleblowing an einzelne mutige Menschen, die einen betrieblichen Missstand bekannt machen. Aber in dem konkreten Fall der Überlastungsanzeige der Brigitte Heinisch und der sieben weiteren Kolleginnen und Kollegen waren es nicht ein, sondern mehrere Menschen, die die Überlastungsanzeige stellten. Es gibt Fälle, in denen es eher ausgeschlossen ist, dass der Hinweisgeber mit mehreren Menschen zusammen Missstände bekannt macht. Man denke nur an Edward Snowden. Jede weitere Person wäre für ihn ein unkalkulierbares Risiko geworden. Die Gefahr wäre zu groß gewesen, dass weitere Personen, die er in sein Tun „einweiht“, ihn verraten hätten, bevor er die Dokumente und sich selbst in Sicherheit hätte bringen können.Doch das gilt nicht in allen Fällen. Sowohl das Arbeitsschutzgesetz (§ 17) als auch das Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (§ 13) sieht ausdrücklich vor, dass „die Beschäftigten“ eine Beschwerde einreichen können. Gemeinsames Handeln kann auch weniger Mutige mutig machen und dem Anliegen mehr Nachdruck verleihen. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Gesetz sollte darauf geachtet werden, dass Whistleblowing nicht nur als ein Individualrecht ausgestaltet wird, sondern auch als kollektives Recht wahrgenommen werden kann.

II. Die externe Meldung von Missständen im Betrieb oder Büro

Eine externe Meldung im Sinne der Terminologie der EU Richtlinie 2018/0106 zum Schutz von Whistleblowern ist nicht die Öffentlichmachung von betrieblichen Missständen, sondern eine Meldung an die zuständigen Behörden.

7. Zuständige Behörden:

Als zuständige Behörden kommen bei einem Altenpflegeheim der Medizinische Dienst der Krankenkassen und die Heimaufsicht in Betracht. In der Lebensmittelbranche führen die Lebensmittelkontrollen die Aufsicht. Allen diesen Ämtern können die Beschäftigten betriebliche Missstände mitteilen.

8. Erst interne, dann externe Meldung?

Ein Beispiel: § 17 Absatz 2 ArbSchG sieht vor, dass sich die Beschäftigten an die „zuständige Behörde“ erst wenden sollen, wenn „der Arbeitgeber ihrer Beschwerde nicht abhilft“. Die zugrunde liegende Rahmen-Richtlinie 89/9392/EWG enthält diese Einschränkung jedoch nicht. Es gibt auch keine Sanktionen, wenn ein Beschäftigter den Missstand nicht erst betriebsintern meldet, sondern sich sofort an die Gewerbeaufsicht wendet. Ein zweistufiges Verfahren, wie es das Arbeitsschutzgesetz vorsieht, passt nicht zu der EU-Richtlinie 2019/1937 zum Whistlerblowerschutz, die keine Rangfolge zwischen interner und externer Meldung vorschreibt: Ein Whistleblower kann einen Missstand direkt extern der zuständigen Behörde melden. Allerdings ist das Arbeitsschutzrecht aus dieser Whistleblower EU-Richtlinie 2019/1937 herausgenommen[2]§ 27 Absatz 3 Satz 2 a.E. und Erwähnungsgrund. Es kommt darauf an, dass das Arbeitsschutzrecht so geändert wird, dass Beschäftigte extern ohne vorherige interne Beschwerde der zuständigen Behörde Missstände im Arbeitsschutzrecht melden können.

Bei der Ausformulierung der EU-Richtlinie 2019/1937 zum Whistlerblowerschutz war zunächst sehr streitig, ob ein Missstand betriebsintern mitgeteilt werden muss, bevor er extern der zuständigen Behörde mitgeteilt werden darf. Die Arbeitgeberverbände haben sich immer für dieses zweistufige Verfahren eingesetzt. Die Gewerkschaften haben immer zusammen mit dem Whistleblower Netzwerk den gegenteiligen Standpunkt vertreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nie einen Vorrang der betriebsinternen Meldung gefordert[3]Der EGMR Heinisch ./. Deutschland in Rn. 65 allgemein zur Frage der Nutzung anderer Kanäle (bevor ein Whistleblower die Öffentlichkeit informiert): „Wegen der Pflicht zur Loyalität und … Continue reading. Die jetzt beschlossene Richtlinie schreibt kein zweistufiges Verfahren vor, sondern lässt dem Whistleblower die Wahl: Ein Whistleblower kann also einen Missstand direkt extern der zuständigen Behörde melden – unter Umgehung der betriebsinterne Meldestelle.

In jedem Fall verlangt die Richtlinie, dass Vertraulichkeit gewährleistet wird. Es wird darauf ankommen, dass beide Regelungen – freie Wahl interner oder externer Meldung und Vertraulichkeit – bei der Umsetzung in deutsches Recht nicht aufgegeben oder verwässert werden.

9. Externe Meldung durch Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft.

Eine wichtige Behörde, die für einen Whistleblower für eine „Externe Meldung“ genutzt werden kann, haben wir bisher noch nicht genannt: Die Staatsanwaltschaft, bei der Anzeige erstattet werden kann, wenn der Verdacht auf eine Straftat besteht. Hinweis: Eine Strafanzeige sollte nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.

10. Keine wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben.

Dabei muss der Anzeigende nicht beweisen, dass die Straftat tatsächlich begangen wurde. Für denjenigen, der eine Straftat anzeigt, dürfen nicht andere höhere Anforderungen gemacht werden als für denjenigen, der außerhalb eines Betriebs eine Straftat anzeigt. Daher kommt es nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[4]BVerfG 2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00 Rn.20 allein darauf an, dass derjenige, der den Verdacht auf eine Straftat seines Arbeitgebers bei der Staatsanwaltschaft anzeigt, nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben macht.

Hinweis: Das gilt für alle internen oder externen Meldungen eines Whistleblowers: Der Anzeigende darf nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben machen. Dagegen sind die Anforderungen, die die  EU-Richtlinie 2019/1937 an interne oder auch externe Meldungen stellt, zu hoch. Sie verlangen, dass Whistleblower “hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die gemeldeten Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen”[5]Artikel 6 Absagz 1 a) der EU-Richtlinie 2019/1937.

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III. Die Offenlegung (Öffentlichmachung)

Offenlegung wird die Weitergabe an Presse , Funk und Fernsehen genannt.

11. Regel: Erst interne oder externe Meldung, dann Offenlegung

Nach der Rechtsprechung des EGfMR ist eine Offenlegung nur das letzte Mittel zur Beseitigung von Missständen:„Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden. Nur wenn dies eindeutig unpraktikabel ist, darf als ultima ratio die Öffentlichkeit informiert werden. Für die Beurteilung, ob die Einschränkung der Meinungsfreiheit verhältnismäßig war, muss der Gerichtshof daher berücksichtigen, ob dem Beschwerdeführer andere wirksame Mittel zur Verfügung standen, um etwas gegen den angeprangerten Missstand zu tun” [6]EGMR Heinisch Rn. 65; siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 73.

In der EU-Richtlinie 2019/1937 ist die Regel: Vor der Offenlegung (Öffentlichmachung) ist der betriebliche Missstand in aller Regel zunächst interne und extern oder extern zu melden[7]Artikel 15 EU-Richtlinie 2019/1937 .

12. Ausnahmsweise Offenlegung ohne vorherige externe Meldung

Eine Offenlegung ohne vorherige interne und externe oder externe Meldung ist nach der Whistleblower-Richtlinie der EU 2019/1937 nur zulässig, wenn 1. der Whistleblower hinreichenden Grund zu der Annahme hat, dass der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann, so z. B. in einer Notsituation oder bei Gefahr eines irreversiblen Schaden, oder 2. im Fall einer externen Meldung Repressalien zu befürchten sind oder 3. aufgrund der besonderen Umstände des Falls geringe Aussichten bestehen, dass wirksam gegen den Verstoß vorgegangen wird, beispielsweise weil Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten oder wenn zwischen einer Behörde und dem Urheber des Verstoßes Absprachen bestehen könnten oder die Behörde an dem Verstoß beteiligt sein könnte[8]Artikel 15 Absatz 1 der EU Richtlinie im Wortlaut: (1) Ein Hinweisgeber, der Informationen offenlegt, hat Anspruch auf Schutz im Rahmen dieser Richtlinie, wenn eine der folgenden Bedingungen … Continue reading.

Wenn die Öffentlichkeit informiert wird, ist besonders sorgfältig ist die Richtigkeit der Angaben zu prüfen, die an die Öffentlichkeit gegeben werden sollen.

Hinweis: Eine Offenlegung (Öffentlichmachung) sollte nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.

IV. Wertung der Regeln zur Mitteilung und Offenlegung

13. Meldung vor Offenlegung‘ ist kein Schutz von Whistleblowern, sondern ein besonderer Schutz der Unternehmen vor freier Meinungsäußerung:

Der Vorrang der externen Meldung (an die zuständige Behörde) vor der Offenlegung (Öffentlichmachung) ist ein besonderer Schutz der Unternehmen vor der freien Meinungsäußerung und wird aus einer arbeitsvertraglichen Loyalitätspflicht hergeleitet. Eine Kündigung wegen Verletzung dieser Loyalitätspflicht – das ist ein Recht, das nur die Unternehmen geltend machen können[9]Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan … Continue reading. Auch Vivantes machte dieses Recht geltend und kündigte Brigitte Heinisch. Würde gegenüber dem Arbeitgeber das Recht auf freie Meinungsäußerung in demselben Umfang gelten wie sonst im zivilen Leben, dann müsste sich ein Arbeitgeber mit den außerhalb des Arbeitslebens üblichen Abwehrrechte zufrieden geben (Strafanzeige wegen falscher Verdächtigung, zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz und Unterlassung usw.).

14. Aus der Geschichte lernen!

Whistelblowerinnen und Whistelblower stützen sich auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung.

Der Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung (WRV) enthielt einen viel weitergehenden Schutz als heute die überwiegende Rechtsmeinung dem Whistelblowing einräumen will. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde in der Weimarer Reichsverfassung durch folgende Ergänzung zusätzlich geschützt: „An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht“ (Art. 118 Absatz 1 Satz 2 WRV).

Diese Verfassung war geprägt von der Novemberrevolution 1918, der Geburtsstunde der ersten Republik in Deutschland. Der erste Aufruf der neuen Regierung, dem Rat der Volksbeauftragten, verkündete am 12. November 1918 neben dem 8-Stunden-Tag die bürgerlichen Rechte, so unter Ziff. 4: „Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist frei“. Die Novemberrevolution war stark von dem Bestreben geprägt, auch in den Betrieben, den Unternehmen und der gesamten Wirtschaft mehr Demokratie durchzusetzen. So wurden die Enteignung (Sozialisierung) von großen Unternehmen und Arbeiter-, Bezirks- und Wirtschaftsräte gefordert. Die Enteignungsforderung schlug sich in Art. 156 Satz 1 WRV (heute: Art 15 GG) nieder und die Forderung nach Räten in Art. 165 WRV. Die Betriebsräte stehen in dieser Tradition, die erste Betriebsverfassung wurde mit dem Betriebsrätegesetz von 1920 beschlossen (heute: Betriebsverfassungsgesetz). Und das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte uneingeschränkt auch in den Betrieben und Unternehmen gelten; es wurde deswegen durch den oben zitierten Zusatz (Art. 118 Absatz 1 Satz 2 WRV) besonders geschützt.

Würde dieser Zusatz heute noch gelten und Wortlaut sowie Sinn und Zweck dieser Regelung ernst genommen, so gäbe es kein Sonderrecht der Unternehmen zum Schutz vor unliebsamen Meinungsäußerungen. Ebenso wie Whistleblower wählen können, ob sie einen Missstand zunächst betriebsintern oder sofort und direkt extern einer zuständigen Behörde melden, müssten Whistelblower auch frei wählen können zwischen interner bzw. externer Meldung eines Missstandes und dem sofortigen und unmittelbaren Gang an Presse, Funk oder Fernsehen.

References

References
1  Sie kann im Internet eingesehen werden unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=serv:OJ.L_. 2019.305.01.0017.01.DEU&toc=OJ:L:2019:305:TOC. Sie muss bis zum 17. Dezember 2021 in nationales Recht umgesetzt werden; geschieht das nicht, kann man sich nach Ablauf dieser Frist unmittelbar auf diese EU-Richtlinie berufen.
2 § 27 Absatz 3 Satz 2 a.E. und Erwähnungsgrund
3 Der EGMR Heinisch ./. Deutschland in Rn. 65 allgemein zur Frage der Nutzung anderer Kanäle (bevor ein Whistleblower die Öffentlichkeit informiert): „Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden“. Zu beachten ist das „oder“, mit dem die möglichen Kanäle aufgezählt werden; die Vorgesetzten als betriebsinterner ‚Kanal‘ und die externe zuständige Behörde werden gleichrangig nebeneinander genannt. Micha Heilmann, NGG in der öffentlichen Anhörung am 4.6.2008 des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Protokoll Nr. 16/81 – neu): Ein Arbeitnehmer „wendet sich an die Lebensmittelbehörden, oder er wendet sich an den Datenschutzbeauftragten oder die Staatsanwaltschaft. Dann fängt die Prüfung erst an. Damit steht ja nicht fest, dass das was der Arbeitnehmer dort aufgrund von konkreten Anhaltspunkten berichtet hat, sozusagen automatisch zutreffend ist. Es geht darum, eine Prüfung zu ermöglichen, zu sagen, hier liebe Behörden, hört mich an und ich möchte, dass das geklärt wird. Ein absoluter Vorrang innerbetrieblicher Klärung wäre das Letzte, was man gebrauchen kann.“
4 BVerfG 2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00 Rn.20
5 Artikel 6 Absagz 1 a) der EU-Richtlinie 2019/1937
6 EGMR Heinisch Rn. 65; siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 73
7 Artikel 15 EU-Richtlinie 2019/1937
8 Artikel 15 Absatz 1 der EU Richtlinie im Wortlaut:

(1) Ein Hinweisgeber, der Informationen offenlegt, hat Anspruch auf Schutz im Rahmen dieser Richtlinie, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

a) Er hat zunächst intern und extern oder auf direktem Weg extern gemäß den Kapiteln II und III Meldung erstattet, aber zu seiner Meldung wurden innerhalb des Zeitrahmens ……… keine geeigneten Maßnahmen ergriffen oder

b) der Hinweisgeber hat hinreichenden Grund zu der Annahme, dass

i) der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann, so z. B. in einer Notsituation oder bei Gefahr eines irreversiblen Schadens; oder

ii) im Fall einer externen Meldung Repressalien zu befürchten sind oder aufgrund der besonderen Umstände des Falls geringe Aussichten bestehen, dass wirksam gegen den Verstoß vorgegangen wird, beispielsweise weil Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten oder wenn zwischen einer Behörde und dem Urheber des Verstoßes Absprachen bestehen könnten oder die Behörde an dem Verstoß beteiligt sein könnte.

Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1866-3, S. 287 ff), ist von einer ausgeprägten Blindheit geschlagen. Denn die Folge dieser Kündigung trägt ganz allein der Beschäftigte, der sich auf diese Weise gegen die Illoyalität des Arbeitgebers wehren will. Aus Empörung über die Illoyalität des Arbeitgebers schadet sich der Beschäftigte nur selbst, der sich mit der eigenen Entlassung (und nicht der Entlassung des Arbeitgebers) seine eigene Existenzgrundlage entzieht. Die Illoyalität des Arbeitgebers beginnt im Übrigen schon damit, dass er tagtäglich die Dienste als die seinen ausgibt und verkauft, obwohl die Beschäftigten sie erbracht haben.

9 Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1866-3, S. 287 ff), ist von einer ausgeprägten Blindheit geschlagen. Denn die Folge dieser Kündigung trägt ganz allein der Beschäftigte, der sich auf diese Weise gegen die Illoyalität des Arbeitgebers wehren will. Aus Empörung über die Illoyalität des Arbeitgebers schadet sich der Beschäftigte nur selbst, der sich mit der eigenen Entlassung (und nicht der Entlassung des Arbeitgebers) seine eigene Existenzgrundlage entzieht. Die Illoyalität des Arbeitgebers beginnt im Übrigen schon damit, dass er tagtäglich die Dienste als die seinen ausgibt und verkauft, obwohl die Beschäftigten sie erbracht haben

Missstände am Arbeitsplatz bekannt machen

Inhaltsverzeichnis:

  1. 1. Whistleblower
  2. 1. Whistleblower oder Unternehmen schützen?
  3. 2.1 Die besonderen Sanktionsmöglichkeiten eines Unternehmers gegen seine Beschäftigten
  4. 2.2. Keiner Pflicht, einen Missstand zuerst intern zu melden
  5. 2.3 Unterrichtung der Öffentlichkeit als letztes Mittel?
  6. 2.4 Das Arbeitsverhältnis als Herrschaftsverhältnis
  7. 3. Umsetzung von EU-Recht in deutsches Recht
  8. 4. Zusammenfassung
  9. 5. Hinweis für Journalisten

2. Februar 2021 von benhop

“Alles zu retten
Muss alles gewagt werden.
Ein verzweifeltes Übel
Will eine verwegene Tat”
Friedrich Schiller: Aus “Die Verschwörung des Fiesco zu Genua”

Whistleblowing

1. Whistleblower

Whistleblower sind Menschen, die unternehmensinterne Missstände bekannt macht. Eine Person ist auch ein whistleblower, die Missstände der öffentlichen Einrichtung, in der sie arbeitet, bekannt macht.

Daniell Ellsberg war ein Whistleblower. Er kopierte als Mitarbeiter im Verteidigungsministerium die so genannten Pentagon Papiere. Diese Papiere zeigten, dass bereits Vorbereitungen für einen Krieg gegen Vietnam  getroffen worden waren, als US-Präsident Johnson noch behauptete, nicht in Vietnam intervenieren zu wollen. Die Papiere zeigten auch, dass der Krieg trotz steigender amerikanischer Verluste weiter geführt werden sollte, um Vietnam auszubluten. Die New York Times begann 1971, sie abzudrucken. US-Präsident Nixon verbot die weitere Veröffentlichung. Dieses Veröffentlichungsverbot wurde vom obersten Gerichtshof der USA aufgehoben. Das Geheimhaltungsinteresse des Staates müsse im Zweifelsfall hinter den Interessen der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit zurückstehen.

Miroslav Strecker war ein Whistleblower. Ihm wird als LKW-Fahrer bekannt, dass die Wertfleich GmbH Wurst- und Fleischfabrik Fleischabfälle zu Dönerfleisch verarbeitet und gibt das an die Gewerbeaufsicht weiter. Der Bundesminister für Landwirtschaft und Forsten, Horst Seehofer, ehrt ihn 2007 mit der „Goldenen Plakette“ für Zivilcourage. Strecker wird krank wegen eines Rückenleidens. Nachdem er wieder gesund ist, erhält er die Kündigung. Jetzt arbeitet er als Busfahrer (https://www.anstageslicht.de/menschen-dahinter/miroslav-strecker/).     

Brigitte Heinisch war eine Whistleblower. Sie bekam den Whistleblower-Preis der Vereinigug deutscher Wissenschaftler. Wegen schwerer Pflegemängel in einem Altenpflegeheim von Vivantes, in dem sie als Altenpflegerin arbeitet, erstattete sie Strafanzeige gegen ihre eigene Arbeitgeberin, die Vivantes – Netzwerk für Gesundheit GmbH. Brigitte Heinisch wird krank, auch wegen der Belastungen in diesem Konflikt. Der Kern ihrer Kritik: Personalmangel führte zu schweren Pflegemängeln. Vivantes kündigt ihr zunächst wegen ihrer Krankheit, dann erneut, fristlos, wegen des „Verdachts der Initiierung eines Flugblattes“, in dem gegen die unhaltbaren Zustände in dem Pflegeheim und ihre erste Kündigung protestiert wurde. Brigitte Heinisch klagt gegen diese Kündigungen. In der ersten Instanz gewinnt sie, weil das Flugblatt durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. In der zweiten Instanz verliert sie wegen der Strafanzeige, die sie erstattet hatte. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wertet diese Strafanzeige als rechtmäßig. Die Kündigung war eine Verletzung der  Meinungsäußerungsfreiheit, auf die sich Brigitte Heinisch bei ihrer Strafanzeige berufen konnte (Entscheidung des EGfMR Nr. 28174/08 vom 11. Oktober 2011 Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland). 

Romana Knezevic ist Whistleblower. Sie arbeitet als Krankenpflegerin in der Asklepios-Klinik St. Georg in Hamburg, ist dort Mitglied des Betriebsrates und seit Jahren in der Bewegung für ein besseres Gesundheitswesen aktiv. Sie hatte im Fernsehen den Personalmangel in der Intensivstation der Asklepios-Klinik St. Georg kritisiert. Daraufhin forderte die Klinik die Zustimmung des Betriebsrates zur Kündigung von Ramona Knezevic. Der Betriebsrat lehnte ab. Die Klinik zog vor das Arbeitsgericht, um sich dort die Zustimmung ersetzen zu lassen, die der Betriebsrat verweigerte. Ramona Knezevic kämpfte zusammen mit dem Betriebsrat gegen ihre Kündigung und erfuhr große Zustimmung. Das war etwas ganz Besonderes, weil es häufig der Geschäftsleitung gelingt, die Kolleginnen und Kollegen gegen Whistleblower aufzubringen, so dass sie von ihren Kolleginnen und Kollegen gemieden werden. Das entschiedene Handeln von Ramona Knezevic zusammen mit der Unterstützung durch ihre Kolleginnen und Kollegen führten zu einer Solidaritätsbewegung über die Pflegekräfte hinaus: Hört auf die Beschäftigten! Diese Kraft war so wirksam, dass die Asklepios-Klinik St. Georg den Antrag beim Arbeitsgericht zurückzog.

Chelsea Manning war eine Whistleblower. Sie übergab Material an Wikileaks weiter, darunter ein dienstlich aufgenommenes Bord-Video, das die gezielte Tötung von mindestens sieben Zivilpersonen durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers am 12.07.2007 im Irak zeigt (https://collateralmurder.wikileaks.org). Chelsea Manning hatte zu diesem Material Zugang als Nachrichtendienstanalytikerin der US-Army.

Edward Snowden war ein Whistleblower. Er gab Informationen an den Guardian-Journalisten Glenn Greenwald über streng geheime US-amerikanische und britische Programmen weiter, die der Überwachung der weltweiten Internetkommunikation dienten und zu denen er als Systemadministrator Zugang hatte.Eine sehr präzise Beschreibung für seine Entscheidung zum Whistleblowing gibt Edward Snowden in seinem Buch “Permanent Record – Meine Geschichte”[1]Edward Snowden “Permanent Record – Meine Geschichte” Frankfurt a. M. 2019. In den USA wird Edward Snowden per Haftbefehl gesucht.

2. Whistleblower oder Unternehmen schützen?

Wer einen Arbeitsvertrag hat, ist „im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet“[2]§ 611 a BGB)) und soll schweigen über das, was er tut und sieht. So sind private Unternehmen, in denen wir einen großen Teil unserer Kräfte verausgaben, eine Blackbox. Was dort geschieht, … Continue reading von der Verpflichtung zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen ausgenommen.

Die Meinungsäußerungsfreiheit von Whistleblowern ist deswegen so  bedeutsam, weil sie die Warnung vor drohenden Gefahren ermöglicht, denen die Allgemeinheit sonst schutzlos ausgeliefert wäre; niemand anderes weiß davon oder wir erfahren das erst, wenn es zu spät ist.

Das ist der Grund, warum dieses Recht der Meinungsäußerungsfreiheit von dem Leitgedanken geprägt sein müsste, keine zusätzlichen Hürden für die aufzubauen, die ihren Arbeitgeber öffentlich kritisieren oder anzeigen.

Aber die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse sind nicht so. Die öffentliche Kritik gegenüber dem Arbeitgeber wegen unternehmensinterner Missstände unterliegt Einschränkungen, die höchst einseitig nur die  abhängig Beschäftigten treffen und im übrigen zivilen Leben unbekannt sind.

2.1 Die besonderen Sanktionsmöglichkeiten eines Unternehmers gegen seine Beschäftigten

Die Kündigung wegen Verletzung von Loyalitätspflichten – das ist ein  Recht, das nur Unternehmen geltend machen können[3]Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan … Continue reading. Auch die Vivantes GmbH machte dieses Recht geltend: Vivantes kündigte der Altenpflegerin Brigitte Heinisch. Sie hatte die Vivantes GmbH, Betreiberin von Krankenhäusern und Pflegeheimen, wegen schwerer schwerer Pflegemängel bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Es ging um das Pflegeheim, in dem Brigitte Heinsch arbeitete. Die Pflegemängel beruhten auf Personalmangel. Brigitte Heinisch konnte das nicht mehr ertragen.

Würde gegenüber dem Unternehmer das Recht auf freie Meinungsäußerung in demselben Umfang gelten wie sonst im zivilen Leben, dann müsste sich ein Unternehmer mit den üblichen Abwehrrechten zufrieden geben, die außerhalb des Arbeitslebens gelten (Strafanzeige wegen falscher Verdächtigung, zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz und Unterlassung usw.).

Ein Unternehmer muss nicht einmal zur Kündigung greifen, um seine Beschäftigten davon abzuhalten, Missstände extern anzuziegen oder öffentlich zu machen. Der Arbeitgeber hat über sein Direktionsrecht zahlreiche andere Möglichkeit, Druck auszuüben. Schikanen, Mobbing, Zuweisung schlechter Arbeit, Versetzung – alles das sind Repressalien, die die Arbeit auf Dauer unerträglich machen können. Alles kann ein Unternehmer so anlegen, dass der Zusammenhang mit der Meinungsäußerung seines Beschäftigten verschleiert wird und deshalb nicht mehr nachweisbar ist. Die Beweislastumkehr ist da nur ein schwach wirkendes Gegenmittel. 

Wenn sich ein Beschäftigter trotz alledem entschließt, interne Missstände extern anzuzeigen oder zu veröffentlichen, dann spricht alles dafür, diesem  Menschen nicht noch weitere Steine in den Weg zu rollen.

2.2 Keiner Pflicht, einen Missstand zuerst intern zu melden

Immer wieder wird zu Unrecht behauptet, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte schreibe vor, Missstände grundsätzlich zuerst intern zu melden, bevor sie einer zuständigen Stelle extern gemeldet werden dürfen. Es war ein erheblicher Kampf notwendig, um eine Regelung in der EU-Richtlinie durchzusetzen, die es Whistleblowern erlaubt, frei zwischen interner und externer Meldung zu wählen[4]Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und … Continue reading.

2.3 Unterrichtung der Öffentlichkeit als letztes Mittel?

Doch ist mit externer Meldung nur die Anzeige eines Missstandes bei einer zuständigen externen Stelle gemeint, das sind in der Regel Behörden wie zum Beispiel die Ämter für Lebensmittelkontrollen. Damit ist aber eben nicht die Unterrichtung der Öffentlichkeit gemeint. Das geltende Recht verlangt von einem von einem Whistleblower, regelmäßig erst dann die Öffentlichkeit, also die Presse oder den Rundfunk oder das Fernsehen zu informieren, wenn der Missstand vorher intern dem Arbeitgeber oder extern einer zuständigen Stelle angezeigt wurde. Der Gang in die Öffentlichkeit soll nur die “ultima ratio” sein, also das letzte Mittel, wenn alles andere unpraktikabel ist – das ist nicht nur die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, sondern schreibt auch die Whistelblower-EU-Richtlinie so vor, die 2019 beschlossen wurde.

Ein Recht, das die Unternehmen zusätzlich vor unliebsamen Äußerungen schützt, sollte in Deutschland nicht gelten und muss auch nicht in Deutschland gelten, denn die EU- Richtlinie schließt ein besseres deutsches Schutzrecht für Whistleblower nicht aus[5]„Dieser Artikel gilt nicht in Fällen, in denen eine Person auf der Grundlage spezifischer nationaler Bestimmungen, die ein Schutzsystem für die Freiheit der Meinungsäußerung und die … Continue reading. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach – auch aufgrund der Erfahrungen aus dem Faschismus – die besondere Bedeutung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung hervorgehoben[6]Lüth BVerfGE 6, 198 ff, siehe auch: https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv007198.html. Gerade weil der Einfluss von Unternehmen, insbesondere von großen Unternehmen auf den Staat so enorm ist, ist die Meinungsäußerungsfreiheit über die Verhältnisse in ihrem Herrschaftsbereich so wichtig. 

2.4 Das Arbeitsverhältnis als Herrschaftsverhältnis

Whistleblower sind mutige Menschen. Andere haben diesen Mut nicht, aber sie haben das interne Wissen über schwere Missstände und Gefahren. Wie kann vermieden werden, dass dieses Wissen verschwiegen wird?

Unsere Gesellschaft ist geprägt von Angst. Welche gesellschaftlichen Bedingungen führen zu dieser Angst, Missstände und Gefahren bekannt zu machen?

Die Kolleginnen der Altenpflegerin Brigitte Heinisch waren nicht dazu verpflichtet, sich von ihr nach der Kündigung in einer schriftlichen Erklärung zu distanzieren. Sie taten es trotzdem. Auf Drängen der Pflegedienstleitung. Aus Angst.

Ist der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der niemand mehr diese Angst hat, nur ein Wunschtraum oder sollte eine Gesellschaft nicht gerade dadurch gekennzeichnet sein, dass es keines Mutes bedarf, Missstände öffentlich bekannt zu machen? Das sind keine Fragen zur ‚Kultur des Miteinander’. Da geht es um das Arbeitsverhältnis als Herrschaftsverhältnis. Wir fordern von den Unfreien, sich frei zu äußern. Das ist das Problem. Die abhängig Beschäftigten sind nicht frei.

Die Meinungsäußerungsfreiheit wurde als eine der wichtigen bürgerlichen Freiheitsrechte gegen die Feudalstaaten durchgesetzt. Jetzt kommt es darauf an, dieses Recht gegen diejenigen durchzusetzen, die in ihren Betrieben so herrschen können wie ehemals in der Monarchie die Könige in ihren Reichen.

Dieser Gedanke war in der Revolution 1918/19, die das Ende des Kaiserreichs besiegelte und der die abhängig Beschäftigten zum Sieg verhalfen, ganz lebendig. So verkündete der erste Aufruf der  Rat der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 „An das deutsche Volk!“: Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist frei.[7] BArch R 43 I/1972, Bl.22 Und Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung präzisierte das, indem er nicht nur pauschal die Meinungsäußerungsfreiheit gewährleistete, sondern in einem Zusatz ausdrücklich auch diejenigen schützte, die am Arbeitsplatz als abhängig Beschäftigte ihre Meinung äußern. Das schützte insbesondere die, die Missstände in ihrem Unternehmen öffentlich machen; denn Meinungsfreiheit ist die Freiheit der Meinung, die das Unternehmen nicht veröffentlicht sehen will: Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht[8]http://www.documentarchiv.de/wr/wrv.html#ERSTER_ABSCHNITT02.

3. Umsetzung von EU-Recht in deutsches Recht

2019 wurde eine EU-Richtlinie beschlossen, die Whistleblower in zahlreichen Bereichen besser schützen soll[9]https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2019/1937/oj?locale=de. Nun muss der Bundestag diese Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021 in deutsches Recht umsetzen[10]Dies schon deswegen, weil die EU-Richtlinie das so verlangt: Bis zum 17. Dezember 2020 muss die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein, siehe Art. 27 der EU Richtlinie. Zur Umsetzung siehe … Continue reading.  

Zunächst wird es darum gehen, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht nicht zu schlechteren Regelungen führt als von der EU-Richtlinie vorgesehen. Zu beachten ist jedoch auch, dass die EU-Richtlinie  ausdrücklich nur Mindeststandards vorgeben will[11]  Art. 1 der EU-Richtlinie. Das eröffnet dem deutschen Gesetzgeber auch die Möglichkeit, Whistleblower besser zu schützen als durch die EU-Richtlinie vorgesehen.

Forderungen zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie der EU in deutsches Recht weiterlesen hier:

4. Zusammenfassung

Der ehemalige Richter beim Bundesverfassungsgericht Dr. Jürgen Kühling beschrieb 1999 die Situation von Whistleblowern so: „ …Von Freunden gemieden, vom Recht verfolgt – das ist das gewöhnliche Schicksal dessen, der sich im Interesse von Frieden, Umwelt, oder anderen höchstrangigen Rechtsgütern zum Bruch der Verschwiegenheit entschließt. Das darf nicht so bleiben. … … Wer überragende Gemeinschaftsbelange, Überlebensinteressen der Menschheit über seine beruflichen oder allgemeinen Loyalitätsbindungen stellt, darf nicht zum Verfolgten werden. Das Recht muss auf seiner Seite stehen[12]Geleitwort von Dr. Jürgen Kühling zur Verleihung des Wistleblowerpreises 1999 an Alexander Nikitin.

Ein besseres Gesetz ist also notwendig. Aber es kann nicht das Problem lösen, dass wir von den Unfreien erwarten, sich frei zu äußern. Die abhängig Beschäftigten sind nicht frei. Die Lösung dieses Problems ist ein größeres Programm. Es verlangt die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses als Herrschaftsverhältnis.

5. Hinweis für Journalisten

Immer sollten Journalisten, die über diese Missstände berichten, beachten: Wenn es um den Erfolg eines Unternehmens geht, rechnet es sich gerne und ganz selbstverständlich diesen Erfolg zu. Wenn es aber um Missstände im Unternehmen geht, versucht es, sich der Verantwortung zu entziehen und verweist auf die Beschäftigten. Es verschweigt gerne, dass diese Beschäftigten dem Direktionsrecht und der Kontrolle des Unternehmens unterliegen.

References

References
1 Edward Snowden “Permanent Record – Meine Geschichte” Frankfurt a. M. 2019
2 § 611 a BGB)) und soll schweigen über das, was er tut und sieht.

So sind private Unternehmen, in denen wir einen großen Teil unserer Kräfte verausgaben, eine Blackbox. Was dort geschieht, wird  systematisch dem Licht der Öffentlichkeit entzogen. Die freie Meinungsäußerung endet spätestens da, wo das Geschäftsgeheimnis beginnt. Doch wenn es um Missstände am Arbeitsplatz, im Büro oder Betrieb geht, sind die Konsequenzen der Einschränkung der Meinungsfreiheit so gravierend, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Im Jahr 2019 wurden Whistleblower in einem Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen((GeschGehG  – www.gesetze-im-internet.de/geschgehg/BJNR046610019.html

3 Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1866-3, S. 287 ff), ist von einer ausgeprägten Blindheit geschlagen. Denn die Folge dieser Kündigung trägt ganz allein der Beschäftigte, der sich auf diese Weise gegen die Illoyalität des Arbeitgebers wehren will. Aus Empörung über die Illoyalität des Arbeitgebers schadet sich der Beschäftigte nur selbst, der sich mit der eigenen Entlassung (und nicht der Entlassung des Arbeitgebers) seine eigene  Existenzgrundlage entzieht. Die Illoyalität des Arbeitgebers beginnt im Übrigen schon damit, dass er tagtäglich die Dienste als die seinen ausgibt und verkauft, obwohl die Beschäftigten sie erbracht haben.
4 Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und externer-meldung-prof-dr-ninon-colneric
5 Dieser Artikel gilt nicht in Fällen, in denen eine Person auf der Grundlage spezifischer nationaler Bestimmungen, die ein Schutzsystem für die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit bilden, Informationen unmittelbar gegenüber der Presse offenlegt“ (Art. 15 Abs. 2 EU-Richtlinie). Das ist die sogenannte Schwedenklausel, die Schweden durchgesetzt hat, weil in Schweden das Recht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weitergehend ist als in der Whistleblower EU-Richtlinie
6 Lüth BVerfGE 6, 198 ff, siehe auch: https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv007198.html
7  BArch R 43 I/1972, Bl.22
8 http://www.documentarchiv.de/wr/wrv.html#ERSTER_ABSCHNITT02
9 https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2019/1937/oj?locale=de
10 Dies schon deswegen, weil die EU-Richtlinie das so verlangt: Bis zum 17. Dezember 2020 muss die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein, siehe Art. 27 der EU Richtlinie. Zur Umsetzung siehe auch: Ninon Colneric, Simon Gerdemann “Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht – Rechtsfragen und rechtspolitsche Überlegungen”, HSI-Schriftenreihe Band 34, Frankfurt a.M. 2020
11   Art. 1 der EU-Richtlinie
12 Geleitwort von Dr. Jürgen Kühling zur Verleihung des Wistleblowerpreises 1999 an Alexander Nikitin

Kurzbiographie Dr. Gawlik

15. Februar 2021 von benhop

Lothar Gawlik

Dr. med. Lothar Gawlik, geb. 1967, ist Chefarzt für Innere Medizin und Geriatrie. Er hat Humanmedizin in Göttingen studiert und promovierte 1997. Nach seiner Facharztausbildung war er klinisch unter anderem in England sowie dem Fürstentum Liechtenstein tätig. Nachdem er wegen des Verdachts unerlaubter Sterbehilfe Strafanzeige gegen seinen ehemaligen Chef gestellt hat und darauffolgend fristlos entlassen wurde, heuerte er nach 3-monatiger Arbeitslosigkeit zunächst als Schiffsarzt an. Eine honorarärztliche Tätigkeit führte ihn 2018 nach Achim bei Bremen, wo er seitdem tätig ist.
Gawlik ist verheiratet und Vater von 3 Kindern.

Pressemitteilung Dr. Gawlik

16. Februar 2021 von benhop

Erklärung des Dr. Gawlik auf der Pressekonferenz am 16.2.2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich nehme den am 16.02.21 ergangenen Urteilsspruch mit Bestürzung zur Kenntnis.

Der Urteilsspruch des EGMR basiert u.a. darauf, dass beide Sachverständigengutachten der Gegenseite die Handlungen des damaligen Chefarztes Dr …. als palliativmedizinisch rechtmäßig einstuften.

Zum ersten Gutachten ist auszuführen, dass es sich hierbei um ein von der Gegenseite initiierte Privatgutachten von Dr. …. aus der Schweiz handelt.

Interessant hierbei ist, dass sowohl dieser Gutachter, als auch der damalige Chefarzt, zur gleichen Zeit in Bern als Kollegen gearbeitet haben. Das ist auch den im Internet verfügbaren Lebensläufen zu entnehmen.

Das zweite Gutachten wurde als unabhängiges und neutrales Sachverständigengutachten an den vereidigten Sachverständigen Prof. L., Klagenfurt vergeben.

Dieses wurde unter Mitarbeit von dem damaligen Chefarzt des Landesspital erstellt.

Sie werden sich Fragen Mitarbeit an einem neutralen, unabhängigen Aktengutachten?

Sie hören Richtig.

Der damalige Chefarzt Dr. …. durfte mitarbeiten.

Dieses Sachverständigengutachten vom 30.10.2014 beinhaltet auf Seite 86 die Einladung des damaligen Chefarztes nach Klagenfurt zum persönlichen Gespräch zur Klärung offener Fragen hinsichtlich nicht leitliniengerechter Applikation/Vorgehensweise/ Dokumentation in den Ihm vorliegenden Akten.

Laut Maßgaben des Gutachter und Sachverständigenverbandes muss der Gutachter unabhängig und unparteiisch arbeiten.

Dem zu Folge ist das Seitens des EGMR zu Grunde gelegte Gutachten juristisch unzulässig.

Im Gegenteil: überhaupt keine Gewichtung findet das zur Einstellung meines Verfahrens wegen Verleumdung 2016 erstellte Gutachten des deutschen Rechtsmediziners Prof. Klaus Püschel.

Dieser macht in seinem Ausführen klar:

Als Rechtsmediziner ist für mich nachvollziehbar, dass Herr Dr. Gawlik, der hier von einer Häufung der Todesfälle ausging und Sorge um weitere Todesfälle hatte, aktiv wurde und die ihm vorliegenden Informationen anderen zur Kenntnis brachte

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Hinweise auf eine Opiat-Überdosierung bewusst vermieden wurden, indem die Dokumentation der Vitalparameter (bewusst!) frühzeitig abgebrochen wurde“

Warum eine Auswertung dieser essentiellst entscheidenden Dokuments selbst auf Ebene des EGMR offensichtlich nicht durchgeführt wurde, erschüttert mich zutiefst.

Ich werde gemeinsam mit meinem Rechtsbeistand weitere rechtliche Mittel prüfen.

Ich darf jetzt das Wort an meinem Rechtsanwalt Hr. Hopmann weiterreichen.

Dr. Lothar Gawlik

Pressemitteilung RA Hopmann 16.02.21

16. Februar 2021 von benhop

Pressemitteilung zur Entscheidung des EGMR vom 16. Februar 2021 zur Beschwerde Nr. 23922/19 Gawlik ./. Liechtenstein

Ein verheerendes Fehlurteil

Stellungnahme von RA Benedikt Hopmann, Anwalt des Dr. Gawlik:

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) prüft, ob Sanktionen gegen einen Whistleblower das Menschenrecht auf freie Meinung verletzen, wägt er die Interessen der streitenden Parteien gegeneinander ab. Dabei hat der EGMR hat eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt, die bei dieser Abwägung maßgebend sind. Diese Abwägung kann nur zugunsten von Dr. Gawlik ausgehen. Das Urteil des EGMR ist ein verheerendes Fehlurteil. 

Übrigens: Die Bundesregierung blieb während des ganzen Verfahrens stumm, obwohl sie vom EGMR zur Stellungnahme aufgefordert wurde, weil Dr. Gawlik deutscher Staatsbürger ist.

Zu den Urteilsgründen des EGMR im Einzelnen:

Der EGMR meint: „Da jedoch der Beschwerdeführer als stellvertretende Chefarzt, wie von den inländischen Gerichten festgestellt wurde … , jederzeit die Papierakten hätte einsehen können, ist das Gericht der Ansicht, dass diese Überprüfung nicht sehr zeitaufwendig gewesen wäre. In Anbetracht der Schwere des Vorwurfs der aktiven Euthanasie stimmt der Gerichtshof daher mit der Feststellung der inländischen Gerichte überein, dass der Beschwerdeführer zu einer solchen Überprüfung verpflichtet war, diese aber unterlassen hat …Er hat daher nicht sorgfältig, soweit es die Umstände zulassen, überprüft, ob die von ihm offengelegten Informationen richtig und zuverlässig waren“ (Rn. 81; Hinweis: Dr. Gawlik istder Beschwerdeführer).

Unsere Stellungnahme dazu: Dr. Gawlik war überzeugt, dass die Angaben in den elektronischen Patientenakten die Tötung von Menschen bewiesen. Eine Einsichtnahme in die physischen Akten hätte ihn in dieser Überzeugung nur noch mehr bestätigt. Er wollte nicht noch weitere Menschenleben gefährden. Für den angesehenen Rechtsmediziner Dr. Klaus Püschel war die Überzeugung von Dr. Gawlik „nachvollziehbar“. Für Dr. Klaus Püschel entstand der Eindruck, „dass Hinweise auf eine Opiat-Überdosierung bewusst vermieden wurden, indem die Dokumentation der Vitalparameter (bewusst!) frühzeitig abgebrochen wurde“.

Der EGMR zitierte in einer früheren Entscheidung die Auffassung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das unmissverständlich klar stellte, dass es bei einer Strafanzeige darauf ankommt, dass der Anzeigende nicht vorsätzlich oder leichtfertig falsche Angaben macht[1]. Der EGMR erklärte, dass es in erster Linie Aufgabe der Strafverfolgungsbehörde sei, den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu prüfen78[1a]. Die Staatsanwaltschaft muss weiter ermitteln. Das hat sie auch getan. Auf ihre Veranlassung wurden die Papierakten beschlagnahmt. Sie ließ ein Gutachten erstellen, das zu prüfen hatte, ob die Tatsachen für eine Anklage wegen Tötung ausreichen. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

Es ist das Recht eines jeden Bürgers, Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft zu stellen. Wenn er es nicht tut, aber weitere Tötungen für möglich hält, kann er sich sogar wegen Untätigkeit strafbar machen. Das zeigt das gegenwärtige Verfahren vor dem Landgericht Oldenburg[2].

Dieses Recht, das sogar eine strafbewehrte Pflicht sein kann, darf nicht dadurch erschwert werden, dass von dem Beschäftigten weitere Ermittlungen verlangt werden. Das führt zu unzumutbaren zusätzlichen Belastungen für Whistleblower und zu einem unzulässigen Schutz für Arbeitgeber vor Strafverfolgung. Das Prinzip „Jeder ist vor dem Gesetz gleich“ gilt dann für Arbeitgeber nicht mehr. Anstatt Whistleblowing zu schützen wird es noch schwerer gemacht als es jetzt schon ist. Nur wenn die verhängten Sanktionen gegen Dr. Gawlik vom Gerichtshof nicht gebilligt werden, verlieren sie ihre abschreckende Wirkung auf andere. Hier ging es um die Entscheidung über Leben oder Tod. Wenn der Verdacht der Tötung in einer Klinik von Beschäftigten nur unter erschwerten Bedingungen angezeigt werden darf, ist das eine Bedrohung für Alle.  

Der EGMR meint: “Da jedoch der Beschwerdeführer als stellvertretender Chefarzt, wie von den inländischen Gerichten festgestellt wurde, … jederzeit die Papierakten hätte einsehen können, ist das Gericht der Ansicht, dass diese Überprüfung nicht sehr zeitaufwendig gewesen wäre” (Rn. 78).

Unsere Stellungnahme dazu: Die Papierakten waren entweder ‘unterwegs’, das heißt irgendwo im Krankenhaus oder sie waren im Archiv. Im ersten Fall hätte Dr. Gawlik danach suchen müssen. Im zweiten Fall galt: Die Einsichtnahme in die physischen Patientenakten im Archiv wurde prokolliert. Dr. Gawlik musste fürchten, dass seine Recherchen nach und in den Papierakten nicht verborgen geblieben wären und zu seiner fristlosen Kündigung geführt hätten – spätestens als die Landespolizei genau diese Akten heraus verlangte.

Der EGMR meint: „Das Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Beschwerdeführer seine Vorwürfe zunächst nicht öffentlich geäußert, sondern sie durch Einreichung einer Strafanzeige insbesondere bei der Staatsanwaltschaft offengelegt hat, die zur Verschwiegenheit verpflichtet war … Nach den anschließenden Ermittlungen einschließlich der Beschlagnahme der Krankenakten im Landeskrankenhaus wurden die Vorwürfe des Beschwerdeführers jedoch einer größeren Öffentlichkeit bekannt …“ (Rn. 79).

Unsere Stellungnahme dazu: Sowohl der Präsident der Geschäftsprüfungskommission (GPK) als auch der Staatsanwalt sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wenn dann trotzdem „durchgestochen“ wird, kann dies nicht zu Lasten des Anzeigenden, hier Dr. Gawlik, gehen. Nachdem Radio Liechtenstein den Chefarzt mit den Vorwürfen konfrontierte, war es übrigens der Stiftungsratspräsident, der sich dazu erstmals öffentlich äußerte. 

Der EGMR meint: „Aufgrund der mit der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung verbundenen Pflichten und Verantwortlichkeiten … steht der Schutz, den Art. 10 Whistleblowern gewährt, unter dem Vorbehalt, dass sie gehandelt haben, um Informationen offenzulegen, die korrekt und zuverlässig sind und im Einklang mit der Berufsethik stehen … Dies gilt insbesondere dann, wenn die betreffende Person, wie der Antragsteller im vorliegenden Fall als stellvertretender Chefarzt und damit als hochrangiger und hochqualifizierter Mitarbeiter, seinem Arbeitgeber gegenüber eine Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht schuldet“ (Rn. 77; Hinweis: Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt das Menschenrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit) .

Unsere Stellungnahme dazu: Ich wiederhole zunächst den EGMR: “… Informationen offenzulegen, die korrekt und zuverlässig sind und im Einklang mit der Berufsethik stehen“.

Ich frage: Was war an den Informationen, die Dr. Gawlik an die Staatsanwaltschaft gab, nicht korrekt? Er übergab Auszüge der elektronischen Patientenakten,auf die er seinen Verdacht stützte. Es kann niemand bezweifeln, dass diese elektronischen Akten korrekt waren. Sie waren auch zuverlässig. Wir haben oben schon gesagt, dass ihn eine Einsichtnahme in die physischen Akten in seiner Überzeugung nur noch mehr bestärkt hätten. Dass sie im Ergebnis nicht ausreichten, um Anklage zu erheben, ist eine Sache, die der Anzeigende nicht wissen kann und auch nicht muss. Wenn der EGMR meint, Dr. Gawlik habe auch die Papierakten prüfen müssen, so ändert das zunächst einmal nichts an der Korrektheit und Zuverlässigkeit der elektronischen Akten. Der EGMR kann nur Unvollständigkeit geltend machen. Aber ein Mensch, der eine Strafanzeige stellt, ist nicht zur vollständigen Aufklärung eines Sachverhalts verpflichtet.

Ich frage: Standen die Informationen des Dr. Gawlik nicht “im Einklang mit der Berufsethik”? Er stellte Strafanzeige, weil er das Leben der Patienten bewahren wollte. Das ist die Aufgabe eines Arztes. Das ist der Kern des hippokratischen Eides, dem jeder Arzt verpflichtet ist. Das darf nicht zu Sanktionen zu führen und schon gar nicht von einem Gericht gebilligt werden. Gerade weil Dr. Gawlik stellvertretender Chefarzt war, war er in besonderer Weise dem Leben der Patienten verpflichtet und damit angehalten, Anzeige zu erstatten, nachdem sich aufgrund seiner Ermittlungen in den elektronischen Akten sein Verdacht der aktiven Sterbehilfe verdichtet hatte. Zur Prüfung der Papierakten war er nicht verpflichtet.

Der EGMR meint: „In Anbetracht der Schwere des Vorwurfs der aktiven Euthanasie stimmt der Gerichtshof daher mit der Feststellung der inländischen Gerichte überein, dass der Beschwerdeführer zu einer solchen Überprüfung verpflichtet war, diese aber unterlassen hat …  “ (Rn. 78).

Unsere Stellungnahme dazu: Es ist genau umgekehrt: Gerade in Anbetracht der Schwere des Vorwurfs der aktiven Euthanasie musste Dr. Gawlik Anzeige erstatten und braucht nicht weiter zu ermitteln. Er hat in den elektronischen Akten ermittelt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Verdacht auf Euthanasie besteht. Dafür hatte er konkrete Anhaltspunkte.

Der EGMR meint: „Im vorliegenden Fall …, in dem die Begründetheit dieses Verdachts vor seiner Offenlegung nicht hinreichend überprüft worden war, kann das öffentliche Interesse an einer solchen Information das Interesse des Arbeitgebers und des Chefarztes am Schutz ihres Ansehens nicht überwiegen“ (Rn. 80).

Unsere Stellungnahme dazu: Genau diese Abwägung führt zu dem schlimmen Fehlurteil des Gerichtshofs. Unstreitig war der Verdacht der Euthanasie in der Klinik, in der Dr. Gawlik arbeitete, von herausragendem öffentlichem Interesse. Der EGMR hat immer wieder hervorgehoben, dass das öffentliche Interesse an einer Information ein besonderes Gewicht bei der Interessenabwägung hat[3]. Der Gerichtshof bejaht zwar das öffentliche Interesse, gibt aber diesem öffentlichen Interesse in seiner Abwägung nicht das notwendige Gewicht. Das Gewicht ist hier so groß, weil es um Entscheidungen über Leben oder Tod geht. Wenn der Verdacht auf solche schweren Straftaten – und das ausgerechnet in einem Krankenhaus – besteht, wiegt das öffentliche Interesse an einer Anzeige schwerer als das Interesse des Arbeitgebers und Chefarztes am Schutz ihres Ansehens. Dem Ansehen des Arbeitgebers und Chefarztes hätte es am meisten geholfen, wenn sie es begrüßt hätten, dass durch die Staatsanwaltschaft und damit unabhängig von internen personellen Verflechtungen der Verdacht gründlich geprüft wird. Dafür war die Einschaltung der Staatsanwaltschaft genau die richtige Institution und damit eine Strafanzeige der richtige Weg ohne dass Dr. Gawlik vorher weitere Ermittlungen hätte anstellen müssen.

Mit diesem Urteil wird Wistleblowing noch schwerer gemacht als es jetzt schon ist. Wie soll ein Whistleblower wissen, ob er Strafanzeige stellen darf. Wie soll er wissen, ob er nicht noch mehr hätte ermitteln sollen, bevor er Strafanzeige stellt? Wenn da ein Whistelblower einen Fehler macht, kann er noch so uneigennützig gehandelt haben, dann wird er nicht nur von seinem Arbeitgeber sanktioniert. Dann billigen die Gerichte das auch noch.

Dr. Gawlik hatte für sich auch eine Interssenabwägung getroffen. Es war eine Abwägung, die dem Leben der Patienten ein größeres Gewicht gab als es das Gericht wollte. Dr. Gawlik stellte Strafanzeige, weil er das Leben der Patienten bewahren wollte. Das ist die Aufgabe eines Arztes. Das ist der Kern des hippokratischen Eides, dem jeder Arzt verpflichtet ist. Das darf nicht zu Sanktionen zu führen und schon gar nicht von einem Gericht gebilligt werden.

Berlin 16. Februar 2021

RA Benedikt Hopmann

(in Bürogemeinschaft mit RA R. Niemerg) Schönhauser Allee 72 A 10437 Berlin
Mobil: 49 (0)170 38 25 372
e-mail: hopmann@kanzlei72a.de

…………………………………………………………………………………………………………………………………………

Weitere Hinweise

Lesenwerte Besprechung der Entscheidung des EGMR unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/egmr-whistleblower-klinik-anzeige-bverfg-kuendigung-bmjv-entwurf-richtlinie/

Pressemitteilung des EGMR vom 11. Februar 2021 zum Sachverhalt Gawlik ./. Liechtenstein (Beschwerde Nr. 23922/19)

Bericht am 14. Februar von Dietmar Hipp in SPIEGEL online: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/aus-sorge-um-patienten-zeigte-er-seinen-chef-an-und-wurde-gefeuert-a-dfa69854-5104-451b-81f5-15ef1cf3ba03

Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen für deutsche Gerichte: https://widerstaendig.de/2021/02/08/wie-binden-urteile-des-egmr-deutsche-gerichte/

Zum Maßstab, nach dem der EGMR prüft, ob Whistleblowing rechtmäßig ist: https://widerstaendig.de/2021/02/08/wie-pruefte-der-egmr-whistleblower-faelle/

Zum Streit um eine Rangfolge von interner und externer Missstände-Meldung bei der Abfassung der Whistleblower-Richtlinie der EU: Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und externer-meldung-prof-dr-ninon-colneric

Dieser Streit ist auch nicht nicht ausgestanden in der gegenwärtigen Phase der Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht. Siehe dazu die Stellungnahme des Arbeitgeberverbandes BDA: https://www.whistleblower-net.de/online-magazin/2021/02/04/bda-fordert-verfassungswidrige-und-unionsrechtswidrige-umsetzung-der-eu-whistleblowing-richtlinie

Zum Verfahren beim Landgericht Oldenburg: https://landgericht-oldenburg.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/anklage-gegen-verantwortliche-aus-dem-klinikum-delmenhorst-aktueller-sachstand-193695.html

…………………………………………………………………………………………………………………………………………..

[1] BerfG v. 2. Juli 2001 Az. 1 BvR 2049/00.  Auf diese Entscheidung verweist der EGMR in EGMR Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland Rn. 78

[1a] EGMR Nr. 28274/08 in Rn. 80 mit Hinweis auf BerfG v. 2. Juli 2001 Az. 1 BvR 2049/00

[2]  LG Oldenburg 5 Ks 20/16

[3] EGMR v. 21. Juli 2011 Nr. 28274/08 (https://www.bmjv.de/SharedDocs/EGMR/DE/20110721_28274_08.html) Rn. 44, 72KategorienAllgemeinBeitrags-Navigation4. Frage des EGMRPressemitteilung Dr. Gawlik

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Unterstützende Links zu: Ausschreibung beenden! Keine Zerschlagung! Keine Privatisierung!


Hier ein Link zu dem Bündnis, das sich gegen die Zerschlagung und die Privatisierung der S-Bahn richtet


Grußbotschaft des Arbeitskreises Internationalismus in der Berliner IG Metall am 14.8.2020 auf der Kundgebung am Gesundbrunnen an das Bündnis.


Erklärung der fidays-for-future Bewegung zur Zusammenarbeit von verdi und fff für eine Stärkung des ÖPNV


Und hier die entsprechende Nachricht von verdi

Hände weg von der Berliner S-Bahn! Redeausschnitte von Demo am 14.08.2020:

16. August 2020 von benhop

Redeausschnitte von Demo am 14.08.2020: Hände weg von der Berliner S-Bahn! Die Ausschreibung der S-Bahn ist veröffentlicht. Das erklärte Ziel der Ausschreibung durch Verkehrssenatorin Regine Günther ist die Zerschlagung und Privatisierung der Berliner S-Bahn! Das brauchen wir nicht in Berlin! Als S-Bahn-Beschäftigte, Fahrgäste, und Berliner Initiativen stehen wir gemeinsam ein für eine soziale und ökologische Verkehrswende. Hände weg von unserer S-Bahn. Unser Vorteil: Der Senat kann die Ausschreibung bei vergleichsweise geringen Kosten jederzeit zurücknehmen. Dafür müssen wir es schaffen, gemeinsam mehr Druck aufzubauen als die private Eisenbahnlobby. Also nichts wie ab auf die Straße! Die Rednerinnen und Redner auf der Kundgebung des Bündnisses: ” Eine S-Bahn für Alle”: Elias, Sandra, Jürgen und Wolfgang vom Bündnis; Janek, Beschäftigter der S-Bahn; Ingo, AKL; Uwe Krug, GDL; Erik, Students for Future; Hände weg von Wedding; Rosemarie Heyer , Joe, SAV; Timo Schramm, SPD; Peter, IG Metall; Sylvia, BAGA. Im Auftrag für das Bündnis: “Eine S-Bahn für Alle” Kamera,Ton und Bearbeitung: Ingo Müller rec:ingmue1957; 14.08.2020 https://www.eine-s-bahn-fuer-alle.de/aktuelles/ https://dielinke.berlin/s-bahn-faq/ http://www.arbeitskreis-internationalismus.de/keine-privatisierung-und-zerschlagung-der-berliner-s-bahn/ www.widerstaendig.de https://www.die-linke-reinickendorf.de/nc/termine/news/mitgliederversammlung-24/https://www.youtube.com/embed/XY0GilMcJJM?feature=oembedKategorien

Ausschreibung beenden! Keine Zerschlagung! Keine Privatisierung! S-Bahn unter landeseigener Regie!

Inhaltzverzeichnis:

  1. Zur Veröffentlichung der Ausschreibung der S-Bahn im Amtsblatt der EU am 7. August
  2. 1. Welche Arbeitskräfte der S-Bahn GmbH müssen von einem neuen Betreiber übernommen werden?
  3. 2.Welche Arbeitsbedingungen muss ein neuer Betreiber für die Arbeitskräfte einhalten, die er von der S-Bahn GmbH übernimmt?
  4. Welche Arbeitsbedingungen muss der neue Betreiber für die Tätigkeiten einhalten, die er von der S-Bahn GmbH übernimmt, die er aber nicht von den von der S-Bahn übernommenen Arbeitskräften ausführen lässt?
  5. Ohne Ausschreibung kein Verlust der Tarifbindung und keine Spaltung
  6. Zusammenfassung
Zur Veröffentlichung der Ausschreibung der S-Bahn im Amtsblatt der EU am 7. August

Am 7. August 2020 wurde die Ausschreibung der S-Bahn im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Sie wurde in vier Lose aufgeteilt:

  • Los 1 A: Lieferung von Neufahrzeugen sowie deren Instandhaltung und Bereitstellung für das Teilnetz Nord-Süd,
  • Los 1 B: Fahrplanmäßiger Betrieb auf dem Teilnetz Nord-Süd und damit zusammenhängende Dienstleistungen mit Ausnahme des Vertriebs,
  • Los 2 A: Lieferung von Neufahrzeugen sowie deren Instandhaltung und Bereitstellung für das Teilnetz Stadtbahn,
  • Los 2 B: Fahrplanmäßiger Betrieb auf dem Teilnetz Stadtbahn  und damit zusammenhängende Dienstleistungen mit Ausnahme des Vertriebs;

Das Teilnetz Stadtbahn umfasst die folgenden Strecken (vorangestellt sind die Betriebsaufnahme-Zeitpunkte nach einem Betreiberwechsel):

  • 07.02.2028: S9 (Flughafen BER – Spandau);
  • 06.08.2029: S75 (Spandau – Wartenberg);
  • 13.01.2031: S5 (Westkreuz – Strausberg Nord);
  • 12.04.2032: S7 (Potsdam Hbf. – Ahrensfelde);
  • 30.05.2033: S3 (Erkner – Charlottenburg).

Das Teilnetz Nord-Süd umfasst die folgenden Strecken (vorangestellt sind wieder die Betriebsaufnahme-Zeitpunkte nach einem Betreiberwechsel):

  • 13.12.2027: S8 (Hohen Neuendorf – Wildau);
  • 11.06.2029: S86 (Buch – Grünau);
  • 15.07.2030: S2 (Bernau – Blankenfelde);
  • 13.10.2031: S25 (Hennigsdorf – Teltow Stadt);
  • 19.09.2033: S1 (Oranienburg – Wannsee); S15 (Frohnau – Hauptbahnhof);
  • 11.09.2034: S85 (Hauptbahnhof – Ostkreuz – Flughafen BER).

Die Verträge über die Instandhaltung laufen über 30 Jahre, während die Verträge über den Fahrbetrieb über 15 Jahre laufen.

Das Land Berlin behält sich vor, die vier Lose alle zusammen, einzeln oder zu zweit zu vergeben. 

Wenn die S-Bahn GmbH, die jetzt für den Betrieb der S-Bahn und die Werkstätten verantwortlich ist, nicht den Zuschlag für alle vier Lose bekommt, stellen sich die folgenden drei Fragen: 

  1. Welche Arbeitskräfte der S-Bahn GmbH müssen von einem neuen Betreiber übernommen werden?
  2. Welche Arbeitsbedingungen muss ein neuer Betreiber für die Arbeitskräfte einhalten, die er von der S-Bahn GmbH übernimmt?
  3. Welche Arbeitsbedingungen muss der neue Betreiber für die Tätigkeiten einhalten, die er von der S-Bahn GmbH übernimmt, die er aber nicht von den von der S-Bahn übernommenen Arbeitskräften ausführen lässt?

Diese drei Fragen sollen im Folgenden auf der Grundlage des veröffentlichten Ausschreibungstextes beantwortet werden. Die Vertragsunterlagen, auf die in der Ausschreibung verwiesen wird, waren mir bisher nicht zugänglich, so dass ich auf die darin enthaltenen „näheren Angaben“ auch nicht eingehen konnte. Meine in den vorangegangenen Beiträgen gemachten Aussagen müssen im Wesentlichen nicht korrigiert werden; sie werden nur etwas präzisiert.

1. Welche Arbeitskräfte der S-Bahn GmbH müssen von einem neuen Betreiber übernommen werden?

Zur Übernahmeverpflichtung von Arbeitskräften nach einem Betreiberwechsel heißt es in der Ausschreibung:

“Soweit das Vergabeverfahren zu einem Betreiberwechsel führt, besteht eine Verpflichtung des neuen Betreibers zur Personalübernahme vom bisherigen Betreiber gemäß § 131 Abs. 3 GWB, der nach Auffassung der AG auch das für die Instandhaltung von S-Bahn-Fahrzeugen beim aktuellen Betreiber beschäftigte Werkstattpersonal schützt. Sollte die Verpflichtung zur Personalübernahme für das Werkstattpersonal auf die Rüge eines Bewerbers aufgehoben werden, wird dem bei einem Betreiberwechsel nicht weiter beschäftigten Werkstattpersonal ein Übernahmeangebot durch eine Beschäftigungsgesellschaft des Landes Berlin (LBG) gemacht. Das neue Instandhaltungsunternehmen wird sodann zur Bildung eines Gemeinschaftsbetriebs mit der LBG verpflichtet”.

Ein neuer Betreiber wird also verpflichtet, das bisherige Personal zu übernehmen, und zwar auch das Werkstattpersonals.

Der Berliner Senat beruft sich dabei auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB)[1]§ 131 Abs. 3 GWB enthält unter Verweis auf die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 die Regelungen: „ dass bei einem Wechsel des Betreibers  … der ausgewählte Betreiber die Arbeitnehmerinnen und … Continue reading. Danach übernimmt ein neuer Betreiber alle, die bei der S-Bahn GmbH „für die Erbringung der Verkehrsleistung beschäftigt waren“, und garantiert für diese Beschäftigten über ihre  individuellen Arbeitsverträge alle Arbeitsbedingungen weiter, die schon bei der S-Bahn GmbH galten. Nach dem Gesetz beschränkt sich diese Garantie jedoch auf die Beschäftigten, die „für die Erbringung der übergehenden Verkehrsdienstleistungen unmittelbar erforderlich sind“; zum Beispiel sind die Lokomotivführer für die Erbringung der Verkehrsdienstleistung der S-Bahn „unmittelbar erforderlich“. Nach Auffassung des Berliner Senats ist aber auch das Werkstattpersonal „für die Erbringung der übergehenden Verkehrsdienstleistungen unmittelbar erforderlich“. 

Der Senat befürchtet wohl, dass diese Auffassung nicht ‚gerichtsfest‘ ist, also vor einem Gericht mit der Begründung erfolgreich zu Fall gebracht werden könnte, dass das Werkstattpersonal für die Erbringung der übergehenden Verkehrsdienstleistungen nicht „unmittelbar erforderlich“ ist. Dann wäre das Werkstattpersonal nicht durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschützt; es hätte damit weder einen Anspruch auf Übernahme durch den neuen Betreiber noch eine Anspruch auf Weitergeltung der bisherigen Arbeitsbedingungen. Jedenfalls entschied sich der Senat in der Ausschreibung sogleich für eine Ersatzregelung: Wenn ein Mitbewerber diese Verpflichtung zur Übernahme des Werksattpersonals rügt, wird die Verpflichtung zur Übernahme des Werkstattpersonals aufgehoben, aber das neue Instandhaltungsunternehmen zur Bildung eines Gemeinschaftsunternehmens mit einer Beschäftigungsgesellschaft des Landes Berlin verpflichtet. Dem Werkstattpersonal, das nicht weiter bei der S-Bahn GmbH beschäftigt wird, wird eine Übernahme in diese Beschäftigungsgesellschaft angeboten.  

Ein Gemeinschaftsbetrieb ist so ausgestaltet, dass diejenigen, die das Angebot einer Übernahme in die landeseigene Beschäftigungsgesellschaft (LBG) annehmen, ihr Arbeitsverhältnis mit der LBG auch dann noch beibehalten, wenn dieser Gemeinschaftsbetrieb zwischen Instandhaltungs-unternehmen und LBG mit dem Instandhaltungsunternehmen gebildet ist.

Um die Verpflichtung zur Übernahme des Werkstattpersonals bei einem Betreiberwechsel gab es Streit im Senat. Dieser Streit endete in einer Protokollnotiz[2]In der Protokollnotiz wird unter Nr. 2 verlangt, dass „im Bereich der Instandhaltung sichergestellt werden muss, dass die Menschen, die beim bisherigen Betreiber für die Instandhaltung der S-Bahn … Continue reading, die zu dieser Regelung in der veröffentlichten Ausschreibung führte und die auch die selben Arbeitsbedingungen verspricht wie bei der S-Bahn GmbH. Rechtssicher ist diese Zusicherung derselben Arbeitsbedingungen allerdings nicht, ein neuer Senat muss sich nicht daran gebunden fühlen, erst recht nicht ein neuer Senat, der politisch anders zusammen gesetzt ist als der derzeitige rot-rot-grüne Senat.

Eine grobe Beschreibung, für welche Beschäftigten der Berliner Senat eine Übernahme sicherstellen will, ergibt sich aus der Beschreibung der einzelnen Lose. Der Vertrieb wurde ausdrücklich ausgenommen. Für die Arbeitskräfte in den Bereichen Fahrgastinformation, Marketing, Planung und Disposition, die aufgrund eines  Betreiberwechsels ihren Arbeitsplatz bei der S-Bahn GmbH verlieren werden, wird ebenfalls keine Lösung angeboten, obwohl die EVG schon frühzeitig auch für diese Beschäftigten eine Übernahme verlangt hatte[3]Pressemitteilung der EVG vom 18. Mai 2020.

2.Welche Arbeitsbedingungen muss ein neuer Betreiber für die Arbeitskräfte einhalten, die er von der S-Bahn GmbH übernimmt?

Über die Arbeitskräfte, deren Übernahme nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen sichergestellt werden soll, hatten wir eben unter 1. gesprochen. Für sie gilt zugleich auch die Verpflichtung des neuen Betreibers, die bisherigen Arbeitsbedingungen zu übernehmen: Der neue Betreiber muss die Weitergeltung aller Arbeitsbedingungen garantieren, auf die die Beschäftigten bisher aufgrund des Tarifvertrages bei der S-Bahn GmbH Anspruch hatten. Die Weitergeltung muss der neue Betreiber über den individuellen Arbeitsvertrag mit jedem Beschäftigten gewährleisten[4]§ 131 Abs. 3 GWB verweist ausdrücklich auf die „Rechte, auf die sie Anspruch hätten, wenn eine Übergang gemäß § 613 a BGB erfolgt wäre“. § 613 a BGB wandelt aber alle vor der Übernahme … Continue reading

3. Welche Arbeitsbedingungen muss der neue Betreiber für die Tätigkeiten einhalten, die er von der S-Bahn GmbH übernimmt, die er aber nicht von den von der S-Bahn übernommenen Arbeitskräften ausführen lässt?

In diesen Fällen greifen die Regeln zur Tariftreue. Zur Tariftreue werden in der Ausschreibung die neuen Betreiber eines jeden Loses verpflichtet:

„Der AN (= Auftragnehmer = Auftragsbewerber; B.H.) wird daher im Sinne von § 10 Satz 1 BerlAVG[5]In § 10 BerlAVG „Öffentliche Personennahverkehrsdienste lautet Satz 1: „Unbeschadet  etwaiger weitergehender Anforderungen nach § 128 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vergeben … Continue reading verpflichtet, seine Arbeitskräfte für die Ausführung der vertragsgegenständlichen Leistungen über öffentliche Personennahverkehrsdienste mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen.[6]Der vollständige Ausschreibungstext: „Das BerlAVG und das BbgVgG enthalten Verpflichtungen zur Tariftreue. Die AG (= Auftraggeber = Länder Berlin und Brandenburg; B.H.) haben gem. § 4 Satz 1 … Continue reading

Die Tariftreue für die Tätigkeiten, die ein neuer Betreiber von der S-Bahn GmbH übernimmt, beziehen sich also nur auf bestimmte Tarifverträge, die in der Ausschreibung im Einzelnen aufgezählt werden und dort auch nur auf die Entgelttarife.

Es wird im Zusammenhang mit den Werkstätten ausdrücklich vermerkt, dass die Länder Berlin und Brandenburg nach ihrer „Auffassung“ berechtigt sind, auch „zum Schutz der mit der Ausführung der Instandhaltungsarbeiten Beschäftigten … Anforderungen an die Entlohnung in Form von Tariftreueverpflichtungen aufzustellen“. Dabei wird auf die Tariftreueregelung für die übrigen Tätigkeiten verwiesen, die ein neuer Betreiber von der S-Bahn GmbH übernimmt[7]„Nach Auffassung der AG (= Auftraggeber = Länder Berlin und Brandenburg; B.H.) sind sie aus § 128 Abs. 2 GWB berechtigt, zum Schutz des mit der Ausführung der Instandhaltungsarbeiten … Continue reading.

Die EVG forderte gleich nach der Veröffentlichung der Ausschreibung noch einmal den verpflichtenden Personalübergang für alle Beschäftigen unter den aktuell bestehenden Arbeits- und Sozialstandards:

“Die Weiterbeschäftigung aller betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der S-Bahn Berlin unter den aktuell bestehenden Arbeits- und Sozialbedingungen muss garantiert werden – mit dem EVG-Tarifvertrag für die S-Bahn Berlin, der für alle Beschäftigtengruppen gilt”, machte Robert Seifert deutlich. Bislang sehe der Senatsbeschluss dies nicht vor und benenne stattdessen Tarifverträge, die für die S-Bahn Berlin nicht relevant sind und schlechtere Bedingungen vorsehen. “Das ist ein Affront gegenüber die derzeit Beschäftigten, aber auch gegenüber den künftigen Kolleginnen und Kollegen, und mit uns nicht zu machen“, stellte Robert Seifert fest“[8]https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/ausschreibung–s-bahn-berlin-evg-kritisiert-bruch-von-gespraechszusagen-8026/ abgerufen am 9. August 2020.

Zudem stellte der stellvertretende EVG-Vorsitzende, Martin Burkert, fest:

“Vor allem der Einsatz von Subunternehmern, der bei bis zu 30 Prozent liegen soll, erfüllt uns mit Sorge”.

Ohne Ausschreibung kein Verlust der Tarifbindung und keine Spaltung

Es sei noch einmal auf den Unterschied zwischen der 2.  und 3. gestellten Frage hingewiesen, die wir inzwischen auch beantwortet haben: In der 2. Frage geht es um die Arbeitsbedingungen für die Arbeitskräfte, die von der S-Bahn GmbH übernommen wurden;  in der 3. Frage um die Arbeitsbedingungen für die Tätigkeiten, die von der S-Bahn GmbH übernommen wurden. Noch andere Arbeitsbedingungen können für  Tätigkeiten gelten, die der neue Betreiber nicht von der S-Bahn GmbH übernommen hat,  die  sich aber auch nicht von diesen Tätigkeiten unterscheiden. 

Die Arbeitskräfte, die von der S-Bahn GmbH übernommen werden, haben bessere Arbeitsbedingungen als die übrigen Arbeitskräfte. Die schlechtesten Arbeitsbedingungen haben diejenigen, die weder von der S-Bahn GmbH übernommen werden, noch Tätigkeiten ausüben, die von der S-Bahn GmbH übernommen werden. Für diese Tätigkeiten gibt es in der Ausschreibung keinerlei Verpflichtungen und kann es wohl auch keine geben.

Diese unterschiedlichen Arbeitsbedingungen bestehen auch dann, wenn exakt dieselbe Tätigkeit – zum Beispiel als Lokomotivführer – ausgeübt wird. Die Erfahrung zeigt, dass in diesen unterschiedlichen Arbeitsbedingungen bei gleicher Tätigkeit eine große Sprengkraft liegt[9]J. Seppelt, R. Niemerg u.a. Der Aufstand der Töchter, Hamburg 2018 VSA Verlag, weil die Belegschaft gespalten und gegeneinander aufgebracht wird.

Ein Grund für die Differenzierungen in den Arbeitsbedingungen ist, dass ein neuer Betreiber alle Tätigkeiten in seinem Unternehmen auch von Arbeitskräften ausführen lassen kann, die er nicht von der S-Bahn GmbH übernommen hat. Die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen kommen allerdings nur zustande, weil nach einem Betreiberwechsel die bisher bestehende Tarifbindung zerstört wird; anderes gilt nur wenn der neue Betreiber sich derselben Tarifbindung unterworfen hat wie die S-Bahn GmbH. Eine Verpflichtung zu dieser Tarifbindung enthält die Ausschreibung aber nicht und kann sie wohl auch nicht enthalten. Die Zerstörung der bisherigen Tarifbindung ist also eine Folge der Ausschreibung.

Also: Ohne Ausschreibung kein Verlust der Tarifbindung und keine Spaltung unter den Beschäftigten.  

Die Bedeutung der Differenzierung in den Arbeitsbedingungen nach einer Ausgliederung oder nach einer Vergabe durch Ausschreibung wie im vorliegenden Fall wird regelmäßig deswegen unterschätzt, weil alles nur aus der Jetzt-Perspektive der S-Bahn Beschäftigten betrachtet wird: Deren Ansprüche sollen sich nicht verschlechtern. Nach einem Betreiberwechsel kommt es aber auf die neue Belegschaft an, die eben nicht nur aus den von der S-Bahn GmbH übernommenen Arbeitskräften besteht. Fehlende Tarifbindung und Spaltung erhöhen den Druck auch auf diejenigen, die individualrechtlich ihren Anspruch auf die Arbeitsbedingungen nach den S-Bahn Tarifen aufrecht erhalten konnten. Die allein auf den individuellen Anspruch fokussierte Betrachtungsweise ist ein Gift, das die Beschäftigten ohnmächtig macht, weil es davon ablenkt, dass diese Individualansprüche immer das Ergebnis von gemeinsamem Handeln sind und auch nur in gemeinsamem Handeln verteidigt werden können.

Diese Spaltung wird zusätzlich vertieft durch den Einsatz von Leiharbeitskräften.

Zusammenfassung

Die Länder Berlin und Brandenburg bieten in der Ausschreibung den Bewerbern ein Grundstück für die Errichtung einer  Werkstatt  an, es werden neue Fahrzeuge für die S-Bahn gekauft, die in Landeseigentum übergehen sollen, und schließlich stellt das Land Berlin über eine landeseigene Beschäftigungsgesellschaft Werkstattpersonal. Es drängt sich so die Frage auf: Warum nicht gleich alles in landeseigener Regie übernehmen, also auch den Betrieb und die Instandhaltung der landeseigenen Fahrzeuge in landeseigener Regie durchführen? Es sei daran erinnert, dass Berlin schon einmal die S-Bahn in eigener Regie betrieben hat, und zwar vor 1989 drei Jahre lang. Es wäre möglich ein eigenes Bahn-Unternehmen in Berlin zu schaffen, eventuell auch unter Beteiligung der Deutschen Bahn. Dann kann rechtssicher auf eine Ausschreibung verzichtet werden. Nur dann wäre die Gefahr der Zerschlagung der S-Bahn gebannt. Daher müssen diejenigen, die gegen die Zerschlagung der S-Bahn sind, auch gegen ihre Ausschreibung sein.     

Nur wenn auf eine Ausschreibung verzichtet wird, kann gesichert werden, dass niemand der S-Bahn Beschäftigten seinen Arbeitsplatz verliert. Nur wenn auf die Ausschreibung verzichtet wird, ist sicher, dass die bestehende Tarifbindung erhalten bleibt. Nur bei einem Verzicht auf eine Ausschreibung bleiben für alle Tätigkeiten, die jetzt von den Beschäftigten der S-Bahn GmbH ausgeführt werden, in vollem Umfang die Arbeitsbedingungen (z.B. DemographieTV, Arbeitszeiten, Ruhezeiten usw.) erhalten, die in den letzten Jahren von den Gewerkschaften erkämpften wurden.

Und – nicht zu vergessen – Privatisierung führt zu Arbeitsverdichtung. Das ist eine der bevorzugten Methoden, um die Gewinne in die Höhe zu treiben und trifft alle. Das Jahr 2009 lieferte einen drastischen Beweis. Um zur Vorbereitung der Privatisierung hohe Gewinne zu erzeugen, wurden derart viele Arbeitsplätze nicht mehr besetzt, dass dies nicht nur für alle Beschäftigten zu einer enormen Belastung, sondern 2009 auch zu einem Desaster für alle S-Bahn-Nutzer führte.

Es steht zu viel auf dem  Spiel. Gleichzeitig bestehen Möglichkeiten einer Gegenwehr, wie es sie nicht alle Tage gibt. Für die Gewerkschaften besteht die Chance, sich dadurch stärker zu machen, dass sie nicht nur unmittelbar für ihre eigenen Interessen kämpfen, sondern ihre Interessen mit dem großen Interesse der Berliner Bevölkerung an einem Erhalt der S-Bahn  verbinden. Wird aus diesen gemeinsamen Interessen ein gemeinsamer Kampf, dann kann das eine erhebliche Sprengkraft entwickeln. Daher sehe ich auch jetzt, da die Ausschreibung veröffentlicht ist, immer noch die Möglichkeit, eine Zerschlagung der S-Bahn zu verhindern.

Man sagt manchmal: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Gegenüber dem Schrecken ohne Ende, der uns nach einer Privatisierung und Zerschlagung erwartet, ist das Ende der der Ausschreibung ein ziemlich harmloser Schrecken.

Wir sollten glaubwürdig bleiben. Wir können nicht einerseits den Öffentlichen Personennahverkehr als einen zentralen Hebel für ein umweltfreundlicheres Leben beschwören und andererseits die S-Bahn-Ausschreibung stillschweigend hinnehmen. Wir sollten nicht die Tür für ihre Privatisierung und Zerschlagung öffnen. Es wäre kein Fortschritt, wenn die erheblichen Gewinne, die in den letzten Jahren an die Deutsche Bahn abgeführt wurden, zukünftig an private Betreiber gehen.

Berlin 9. August 2020

Benedikt Hopmann, Rechtsanwalt


References

References
1 § 131 Abs. 3 GWB enthält unter Verweis auf die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 die Regelungen: „ dass bei einem Wechsel des Betreibers  … der ausgewählte Betreiber die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beim bisherigen Betreiber für die Erbringung einer Verkehrsleistung beschäftigt waren, übernimmt und ihnen die Rechte gewährt, auf die sie Anspruch hätten, wenn eine Übergang gemäß § 613 a BGB erfolgt wäre“. Diese Regelung „soll“ bei einer Ausschreibung nach § 131 Abs. 3 GWB der öffentliche Arbeitgeber verlangen. Für den Fall, dass ein öffentlicher Auftraggeber dies verlangt, wie im vorliegenden Fall der Berliner Senat, „beschränkt sich das Verlangen auf  die diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die für die Erbringung der übergehenden Verkehrsdienstleistungen unmittelbar erforderlich sind (Hervorhebung durch B.H.)“.  Der Kreis der von den Regeln des Betriebsübergangs (§613a BGB) erfassten Arbeitskräfte wird damit noch weiter eingeschränkt als nach der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 vorgesehen, wo es in Artikel 4 Absatz 5 dieser Verordnung heißt: „Unbeschadet des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts, einschließlich Tarifverträge zwischen den Sozialpartnern, kann die zuständige Behörde den ausgewählten Betreiber eines öffentlichen Dienstes verpflichten, den Arbeitnehmern, die zuvor zur Erbringung der Dienste eingestellt wurden  (Hervorhebung durch B.H.), die Rechte zu gewähren, auf die sie Anspruch hätten, wenn ein Übergang im Sinne der Richtlinie 2001/23/EG erfolgt wäre. Verpflichtet die zuständige Behörde die Betreiber eines öffentlichen Dienstes, bestimmte Sozialstandards einzuhalten, so werden in den Unterlagen des wettbewerblichen Vergabeverfahrens und den öffentlichen Dienstleistungsaufträgen die betreffenden Arbeitnehmer aufgeführt und transparente Angaben zu ihren vertraglichen Rechten und zu den Bedingungen gemacht, unter denen sie als in einem Verhältnis zu den betreffenden Diensten stehend gelten“.; die Richtlinie 2001/23/EG ist vergleichbar mit § 613 a BGB
2 In der Protokollnotiz wird unter Nr. 2 verlangt, dass „im Bereich der Instandhaltung sichergestellt werden muss, dass die Menschen, die beim bisherigen Betreiber für die Instandhaltung der S-Bahn Fahrzeuge beschäftigt waren und für die Erbringung der Instandhaltungsleistungen unmittelbar erforderlich sind, entweder von einem etwaigen neuen Betreiber ein Arbeitsangebot nach Maßgabe der Vorgaben für einen Betriebsübergang  (§613a BGB)  erhalten oder ein Angebot erhalten, im Rahmen einer Auffanggesellschaft und unter Bildung eines Gemeinschaftsbetriebs mit dem neuen Betreiber zu den bisherigen Bedingungen beschäftigt zu werden, wenn diese Menschen beim bisherigen Betreiber nicht weiter beschäftigt werden“.
3 Pressemitteilung der EVG vom 18. Mai 2020
4 § 131 Abs. 3 GWB verweist ausdrücklich auf die „Rechte, auf die sie Anspruch hätten, wenn eine Übergang gemäß § 613 a BGB erfolgt wäre“. § 613 a BGB wandelt aber alle vor der Übernahme geltenden Ansprüch in individualrechtliche Ansprüche aus Arbeitsvertrag um.
5 In § 10 BerlAVG „Öffentliche Personennahverkehrsdienste lautet Satz 1: „Unbeschadet  etwaiger weitergehender Anforderungen nach § 128 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vergeben öffentliche Auftraggeber gemäß § 2 Aufträge über öffentliche Personennahverkehrsdienste, wenn sich die Auftragnehmer bei der Angebotsabgabe verpflichten, ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (ohne Auszubildende) bei der Ausführung dieser Dienste mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen“. Der übrigen Sätze in § 10 lauten: „Die öffentlichen Auftraggeber bestimmen in der Bekanntmachung der Ausschreibung sowie in den Vergabeunterlagen den oder die einschlägigen Tarifverträge nach Satz 1 nach billigem Ermessen und vereinbaren eine entsprechende Lohngleitklausel für den Fall einer Änderung der Tarifverträge während der Vertragslaufzeit. Außerdem sind insbesondere die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 23. Oktober 2007  über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnung  (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates … zu beachten“.
6 Der vollständige Ausschreibungstext: „Das BerlAVG und das BbgVgG enthalten Verpflichtungen zur Tariftreue. Die AG (= Auftraggeber = Länder Berlin und Brandenburg; B.H.) haben gem. § 4 Satz 1 BerlAVG und § 4 Abs. 3 BbgVgG entschieden, für die Leistungen auf den Gebieten beider Länder die Regelungen des BerlAVG in der jeweils geltenden Fassung zur Anwendung zu bringen. Der AN wird daher im Sinne von § 10 Satz 1 BerlAVG verpflichtet, seine Arbeitskräfte für die Ausführung der vertragsgegenständlichen Leistungen über öffentliche Personennahverkehrsdienste mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen.

Maßgeblich sind die hier dargestellten Tarifverträge: https://www.daisikomm.de. Etwaige Änderungen der Entgelttarife bei Änderungen der Tarifverträge während der Vertragslaufzeit sind nachzuvollziehen“.

7 „Nach Auffassung der AG (= Auftraggeber = Länder Berlin und Brandenburg; B.H.) sind sie aus § 128 Abs. 2 GWB berechtigt, zum Schutz des mit der Ausführung der Instandhaltungsarbeiten beschäftigten Personals Anforderungen an die Entlohnung in Form von Tariftreueverpflichtungen aufzustellen. Die von den AG für die Fachlose FBI und Betrieb jeweils ausgewählten Tarifverträge sind Abschnitt II.2.4) zu entnehmen“ so der entsprechende Ausschreibungstext
8 https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/ausschreibung–s-bahn-berlin-evg-kritisiert-bruch-von-gespraechszusagen-8026/ abgerufen am 9. August 2020
9 J. Seppelt, R. Niemerg u.a. Der Aufstand der Töchter, Hamburg 2018 VSA Verlag

Arbeit, Recht und Streik

Der Kampf um höhere Löhne, Herabsetzung der Arbeitszeit und mehr Rechte im Betrieb und am Arbeitsplatz ist der Kampf um die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung. Er wird täglich in den Betrieben und Unternehmen ausgefochten, aber auch in ganzen Branchen, in der Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt haben diese Konflikte eine herausragende Bedeutung und lange Geschichte. Das Ziel bleibt eine sozialistische Gesellschaft, auch wenn gegenwärtig nur wenige Kolleginnen und Kollegen dieses Ziel vor Augen haben. Doch wir teilen mit sehr vielen von ihnen das Ziel, sich nicht dem Kapitalismus zu unterwerfen, der Frieden, Leben und Klima zerstört.

Inhalt:


Gewalttaten des Kapitals

Das DuMont-Unternehmen in Köln setzte von einem Tag auf den anderen 200 Kolleginnen und Kollegen vor die Tür. Mindestens eben soviele Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter mussten nach einem Bericht der Jungen Welt vom 14./15 Oktober 2023 gehen. Die DuMont-Druckerei in Köln, in der bisher die Zeitungen Kölner Stadtanzeiger, Express und die im Heinen-Verlag erscheinende Kölnische Rundschau gedruckt wurden, wurde geschlossen. Die Festangestellten wurden “beurlaubt”. Nur für den Betriebsrat sah sich das Unternehmen gezwungen, eine Ausnahme zu machen. Alle anderen haben keinen Zutritt mehr zum Betrieb. Über 300 Teilnehmende bei der Demonstration gegen die Entlassung von 200 Festangestellten und mindestens ebenso vielen Leiharbeitern bei DuMont Druck Köln. Ehemalige Mitarbeitende, Gewerkschaften, die Lokalpolitik und Medienschaffende waren am 12. Oktober 2023 in Köln vor Ort um ihre Solidarität zu bekunden.

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Streik

Einführung

Über den Streik haben wir Demokratie und Frieden durchgesetzt. Die erste deutsche Republik wurde 1918 durch einen Generalstreik erzwungen und 1920 gegen den Kapp-Lüttwitz Putsch verteidigt.

Wenige Jahre später hatten die Beschäftigten diese Kraft nicht mehr – mit verheerenden Folgen.

Was wir einmal über den Streik erzwungen haben, müssen wir über den Streik verteidigen können. Der politische Streik ist unverzichtbar.

Der Krieg zerstört alles und gefährlich ist die schrittweise Zerstörung der Demokratie. Dagegen müssen wir uns mit den Mitteln des Streiks wehren können.

Doch in Deutschland stoßen wir schon mit Aufrufen zu Klimastreiks, mit Aufrufen zu Arbeitsniederlegungen gegen Rechts oder mit Aufrufen zu Streiks für die Rechte der Frauen an die Grenzen eines restriktiven und rückständigen Streikrechts.

An den Anfang der folgenden Beiträge haben wir den Wiesbadener Appell “Für ein umfassendes Streikrecht” gestellt.

Ausgelöst durch diesen Appell wurden auf vielen Gewerkschaftstagen Beschlüsse für ein besseres Streikrecht gefasst.

Seit Jahren erklären die zuständigen europäische Kontrollgremien, dass das „Verbot aller Streiks, die

  • nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und
  • nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“

ein Verstoß gegen die Europäische Sozialcharta ist[1].

Seit Jahren fordern diese Kontrollgremien Deutschland auf, das deutsche Streikrecht diesen europäischen Standards anzupassen – bisher vergeblich, obwohl Deutschland sich zur Einhaltung dieser Charta verpflichtet hat.

Deutschland besteht weiter darauf, dass der Streik auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sein muss. Wenn Beschäftigte gegen den Staat, also politisch streiken, streiken sie nicht mehr gegen ihre Arbeitgeber um einen Tarifvertrag. Das soll also nach deutschem Recht verboten sein. Und weil nur Gewerkschaften einen Tarifvertrag abschließen können, sollen auch nur Gewerkschaften zum Streik aufrufen dürfen, also Streiks ohne Gewerkschaft verboten sein. Deutschland bricht damit seit Jahren Völkerrecht.

Das Streikrecht ist ein Menschenrecht.

Eine Verbesserung kann nur erstreikt werden. Das gilt sowohl für den verbandsfreien als auch für den politischen Streik.

Die Gorillas-Beschäftigten haben einen wichtigen ersten Schritt getan. Jetzt ist es an den Gerichten deren mutiges Handeln zu schützen und das rückständige deutsche Streikrecht an die Europäische Sozialcharta anzupassen.

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Tarifverträge

Diese Seite beschäftigt sich mit dem Kampf um Tarifbindung und um bessere Tarifverträge. Wir werden anhand von aktuellen Beispielen nach und nach zeigen, was das bedeutet.

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Betriebsverfassung

Hier werden ausgewählte Probleme zur Betriebsverfassung behandelt.

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Whistleblowing

“Alles zu retten
Muss alles gewagt werden.
Ein verzweifeltes Übel
Will eine verwegene Tat”
Friedrich Schiller: Aus “Die Verschwörung des Fiesco zu Genua”.

Whistleblower sind Menschen, die unternehmensinterne Missstände bekannt macht. Eine Person ist auch ein whistleblower, die Missstände der öffentlichen Einrichtung, in der sie arbeitet, bekannt macht.

Die Meinungsäußerungsfreiheit von Whistleblowern ist deswegen so bedeutsam, weil sie die Warnung vor drohenden Gefahren ermöglicht, denen die Allgemeinheit sonst schutzlos ausgeliefert wäre; niemand anderes weiß davon oder wir erfahren das erst, wenn es zu spät ist.

Doch die Machtmittel der Unternehmen und des Staates sind groß, Whistleblowing zu unterbinden. Denn das Arbeitsverhältnis ist ein Herrschaftsverhältnis. Ein Unternehmer muss nicht einmal zur Kündigung greifen, um seine Beschäftigten davon abzuhalten, Missstände im Betrieb oder Büro extern anzuzeigen oder öffentlich zu machen. Der Arbeitgeber hat über sein Direktionsrecht zahlreiche andere Möglichkeit, Druck auszuüben. Schikanen, Mobbing, Zuweisung schlechter Arbeit, Versetzung – alles das sind Repressalien, die die Arbeit auf Dauer unerträglich machen können.  

So werden die privaten Betriebe und Büros zu einer Blackbox.

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Leiharbeit

Die Zahl der Leiharbeitskräfte explodierte in den vergangenen 50 Jahren. 1973 wurden 19.417 Leiharbeitskräfte gezählt, 1990 rund einhunderttausend, 2015 knapp eine Millionen[1] und 2019 knapp 900.000[2]Leiharbeitskräfte. Es lohnt, sich mit der Geschichte der Leiharbeit zu befassen.

Ein Leiharbeiter schreibt in einem Leserbrief in der METALL-Zeitung von Oktober 2016 unter der Überschrift „Druck auf Kranke bei Randstadt“:

„Da ändert sich wohl nichts bei diesem Sklavenhändler. … Sobald ich eine Krankmeldung eingereicht hatte, wurde ich regelmäßig dazu genötigt, Freizeitausgleich oder Urlaub zu nehmen. Zudem wurde ich in die Geschäftsstelle beordert, wo man mich dann immer schön verbal plattmachte… Nie mehr wieder Zeitarbeit““

2016 wollte die zuständige Ministerin A. Nahles  dem „Missbrauch“ bei Leiharbeit einen Riegel vorschieben[3]. Schon 1972, als das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verabschiedet wurde, war das Ziel, „Missstände“ zu beseitigen[4]. Aber  der Missstand ist die Leiharbeit selbst.

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Faschismus und Arbeitsrecht

Hier veröffentlichen wir Beiträge, die darüber berichten, wie das deutsche Arbeitsrecht durch den Faschismus geprägt wurde: weiterlesen


Gespräche

In der Reihe Gespräche sprechen Kolleginnen und Kollegen über ihre Arbeit als Gewerkschaftsmitglied und ihren Einsatz gegen Krieg und Faschismus: hier lesen