Kitastreik, Friedenspflicht und einstweilige Verfügung

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Der Kitastreik wurde vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wegen angeblichen Verstosses gegen die Friedenspflicht über eine einstweiligen Verfügung verboten. Ein Grund sich etwas genauer mit der Friedenspflicht und einstweiligen Verfügungen gegen Streiks zu beschäftigen.

Es geht um einen Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ für die Berliner landeseigenen Betriebe. Auf die Verhandlungen um diesen Tarifvertrag haben sich die Erzieherinnen und Erzieher lange vorbereitet. Doch sie kamen keinen Schritt weiter. Deshalb beschlossen die Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung mit großer Mehrheit einen Erzwingungsstreik in den landeseigenen Kitabetrieben. Sie wissen, dass sie ihrem Ziel nur so näher kommen können. Man muss das so klar sagen: Sie erkannten, dass sie keine andere Wahl haben.

Allgemein gesprochen: Ohne das Recht auf Streik sind die abhängig Beschäftigten nicht in der Lage, ihre elementarsten Interessen durchzusetzen. Das gilt, wenn es um die Verteidigung der Reallöhne geht, um Arbeitszeitverkürzug oder eben um einen Tarifvertrag, der die pädagogische Arbeit mit den Kindern verbessern und die Erzieherinnen und Erzieher entlasten soll. Tarifverhandlungen ohne Streikrecht sind kollektives Betteln, so das Bundesarbeitsgericht einmal in einer früheren Entscheidung. Die Erzieherinnen und Erzieher hatten erkannt, dass sie mit kollektivem Betteln keinen Schritt weiter gekommen wären.

Und dann wurde dem Streik von der Arbeitsgerichtsbarkeit das Licht ausgeblasen, bevor er überhaupt beginnen konnte. Was ist da geschehen? Wie ist das möglich? Soviel dürfte bekannt sein: Es geht um die Friedenspflicht und eine einstweilige Verfügung. Wir wollen das etwas genauer beleuchten.

Friedenspflicht

Zunächst einmal sei kurz in Erinnerung gerufen, was Friedenspflicht ist: Friedenspflicht ist die Verpflichtung der Gewerkschaften, keinen Streik mit dem Ziel zu führen, Inhalte eines Tarifvertrages während seiner Laufzeit zu ändern. Zur Laufzeit: Sie wird in jedem Tarifvertrag festgelegt; das heißt, dass bis zu einem bestimmten, Tarifvertrag festgelegten Zeitpunkt, dem Ende der Laufzeit, ein Tarifvertrag nicht gekündigt werden darf. Diese Friedenspflicht der Gewerkschaften bezeichnet man auch als relative Friedenspflicht, weil sie sich immer nur auf die Inhalte eines bestimmten Tarifvertrages bezieht. Praktisch geht es immer nur um diese relative Friedenspflicht.

Schon aus der Definition der Friedenspflicht ist erkennbar, dass diese Verpflichtung in aller Regel nur eine Tarifvertragspartei trifft, und zwar die Gewerkschaften.

Nach der herrschenden Meinung soll die relative Friedenspflicht zwingend sein, muss also nicht extra vereinbart werden und soll auch nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt werden können.

Der einseitige Charakter der relativen Friedenspflicht wird dadurch verwischt, dass die Friedenspflicht als Gegenleistung der Gewerkschaften für die Leistung der Arbeitgeber dargestellt wird, einen Tarifvertrag mit den Gewerkschaften abzuschließen. Aber wir hatten schon gesagt, dass die Friedenspflicht nicht auf einer Leistung der Arbeitgeber beruht, sondern zwingend für jeden Tarifvertrag gilt. Es geht hier also nicht um einen Leistung des Arbeitgebers, sondern um eine Leistung durch Gesetz.

In Frankreich gibt es keine zwingende Friedenspflicht und trotzdem werden Tarifverträge abgeschlossen – ohne Friedenspflicht.

Die Friedenspflicht ist also eine einseitige Einschränkung des Arbeitskampfrechts zu Lasten der Gewerkschaften. Es gibt kein Grundrecht der Unternehmer, das dem Freiheitsrecht der Gewerkschaften auf Streik entgegensteht und diese Einschränkung rechtfertigen könnte.

An zwei Beispielen soll die Problematik der Friedenspflicht deutlich gemacht werden:

  1. Konkret entstehen die meisten Konflikt um die Reichweite der Friedenspflicht. Das lässt sich an dem Streit um den Kitastreik veranschaulichen. Das Landesarbeitsgericht meinte, aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) lasse sich eine Friedenspflicht herleiten, die den Gewerkschaften nicht erlaube, für einen gesonderten Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ zu streiken. Dabei zog das Landesarbeitsgericht „Regenerationstage“ heran, deren Aufnahme in den TV-L von ver.di erwartet worden sein soll, die aber nicht in den TV-L aufgenommen wurden. Diese Regenerationstage habe ver.di angeblich jetzt wieder für den geplanten Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ gefordert. Die Regenerationstage seien also ein Streikziel.[1]Aus der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts: „Ausgangspunkt dieser Vereinbarung sei die von ver.di geäußerte Erwartung gewesen, die Regelungen zur Entlastung von Erzieherinnen und … Continue reading Tatsächlich sind aber für den von der Gewerkschaft geplanten Tarifvertrag ‚Pädagogische Qualität und Entlastung‘ Regenerationstage nicht vorgesehen und irgendeine Regelung zu Regenerationstagen ist im TV-L nicht zu finden. Regenerationstage sind also weder ein Streikziel noch wurden sie im Tarifvertrag der Länder (TV-L) vereinbart. Daraus eine Friedenspflicht herzuleiten, ist geradezu absurd und ganz unvereinbar mit der bisherigen Rechtsprechung.
  2. Ein weiteres Problem der Friedenspflicht ergibt sich daraus, dass bei einem plötzlichen und unvorhersehbaren Inflationsschub die Beschäftigten weniger in der Tasche haben, ohne dass sie das, solange die Laufzeit des Lohntarifvertrages noch nicht abgelaufen ist, durch höhere Lohnforderungen ausgleichen können. Das hat dann schon zu verbandsfreien Streiks geführt, obwohl auch solche verbandsfreien Streiks, also Streiks ohne Aufruf der Gewerkschaften, nach der herrschenden Meinung verboten sind.

Daraus ergeben sich folgende Forderungen zur Bekämpfung der negativen Wirkungen der Friedenspflicht:

  • die relative Friedenspflicht als Grundrechtseinschränkung muss von den Gerichten eng ausgelegt werden,
  • eine zwingende Friedenspflicht ist nicht mit dem Grundrecht auf Streik vereinbar; die Gewerkschaft kann nur Pflichten treffen, die im Tarifvertrag vereinbart wurden;
  • vielleicht gelingt es den Gewerkschaften dadurch Fakten zu schaffen, dass sie dort, wo es sich anbietet, die Friedenspflicht in Tarifverträgen ausschließen oder zuminest einschränken[2]Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 170, Rn. 263.

Einstweilige Verfügung

Den Betriebseigentümern – also den privaten Unternehmern oder dem Staat wie im vorliegenden Fall dem Land Berlin – kommt in ihrem Bemühen, einen Streik zu unterbinden, die Möglichkeit entgegen, beim Arbeitsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu stellen. Wegen der Kürze der Zeit – es handelt sich ja schließlich um ein Eilverfahren – kann das Gericht den Fall nicht gründlich prüfen. Außerdem gehen diese Eilverfahren nur bis zur 2. Instanz, also bis zum Landesarbeitsgericht. Eine Überprüfung der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts durch das Bundesarbeitsgericht ist im Eilverfahren nicht möglich.

Deswegen werden durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zwei Verfahren angestoßen: In einem ersten „Durchlauf“, prüfen und entscheiden die Gerichte im Eilverfahren und vorläufig. In einem folgenden zweiten Verfahren, dem sogenannten Hauptsacheverfahren, wird die erste Entscheidung überprüft und neu entschieden. Es handelt sich um ein ganz normales Gerichtsverfahren. Dieser zweite „Durchlauf“ kann durch drei Instanzen gehen, eine Überprüfung durch das Bundesarbeitsgericht ist also möglich.

Nach dem, was wir über die Eilentscheidung des Landesarbeitsgerichts zum Kitastreik gesagt haben, ist es wahrscheinlich, dass diese Eilentscheidung in dem Hauptsacheverfahren spätestens vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben wird und ver.di gewinnt.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite haben die Erzieherinnen und Erzieher in den letzten Tagen erlebt: Die vorläufige Entscheidung im Eilverfahren geht sehr schnell – die endgültige Entscheidung im Hauptsacheverfahren kann dagegen sehr lange dauern. Und das heißt konkret: Der Streik wird beendet, bevor er überhaupt beginnen konnte – ein Ende auf eine sehr lange Zeit. Das können zwei Jahre sein. Denn solange die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht endgültig aufgehoben wurde, können die Gewerkschaft nicht erneut zum Streik aufrufen. Das gerichtliche Streikverbot ist mit einem Ordnungsgeld verbunden, das bei jedem Verstoß gegen das Verbot erneut verhängt wird. Die Höhe des Ordnungsgeldes beträgt nicht 250.000 €, sondern in der Regel „bis zu 250.000 €“; es beginnt also in einem niedrigen Bereich und erhöht sich bei jedem weiteren Verstoß.

Am Ende kann sich das Verbot des Kitastreiks durch das Landesarbeitsgericht als Fehlurteil herausstellen und es ist sogar wahrscheinlich, dass das Verbot als Fehlurteil vom Bundesarbeitsgericht kassiert wird. Trotzdem wurde der Kitastreik auf Jahre hinaus unmöglich gemacht. Damit wird deutlich, um was es geht: Ohne den Streik können wir nicht die Verhandlungsmacht aufbauen, die es erst erlaubt, auf Augenhöhe Tarifverträge mit der Gegenseite auszuhandeln. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass dieses Recht auf Streik dadurch ausgehebelt wird, dass die Unternehmer bzw. das Land Berlin im Eilverfahren ein Streikverbot auf lange Zeit durchsetzen können. Zwei Jahre Streikverbot beenden in der Regel jeden Tarifkampf endgültig. Wenn nach zwei Jahren im Hauptsacheverfahren entschieden wird, dass das Streikverbot rechtwidrig war, sind „alle Messen gesungen.“ Das gilt übrigens auch, wenn am Ende in der Hauptsache die Rechtswidirgkeit eines verbotenen Streiks bestätigt wird. Es kommt nach so lange Zeit nicht mehr darauf an.

Mit der Zulassung von einstweiligen Verfügungen gegen einen Streik ist also das Streikrecht massiv gefährdet. Es wird uns die einzige wirksame Möglichkeit aus der Hand genommen, Verhandlungsmacht aufzubauen, um unsere elementaren Interessen durchzusetzen. Das Streikrecht ist ein Freiheitsrecht und Grundrecht. Es kann sogar als die Mutter aller demokrtischen Rechte bezeichnet werden, wenn man bedenkt, dass vor über 100 Jahren am 9. November die erste deutschlandweite Republik durch einen Streik aus der Taufe gehoben und 1 1/2 Jahre später gegen den Kapp-Lüttwitz Putsch durch einen Streik verteidigt wurde. Es kommt also darauf an, dass wir uns dieses Recht nicht nehmen lassen und es stärken.

In den USA führten die angeführten Gründe gegen die einstweilig Verfügung dazu, dass die Abschaffung von einstweiligen Verfügungen gegen Streiks zu einer der wichtigsten Forderungen der Gewerkschaftsbewegungen wurde[3]Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 383, Rn. 642 mit Verweis auf M. Reimann „Der Rechtsschutz gegen den politischen Streik in den USA, RdA 1985, S. 34 … Continue reading. Es wurde ein weitgehendes Verbot einstweiliger Verfügungen bei „labour disputes“[4]das sind arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten , die sich – im deutschen Sprachgebrauch ausgedrückt – auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ … Continue reading durchgesetzt.

Lässt man weiter einstweilige Verfügungen gegen Streiks zu, so muss die Möglichkeit, einstweilige Verfügungen gegen Streiks zu erlassen, jedenfalls eingeschränkt werden:

  • einstweilige Verfügungen dürfen nur bei Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz eines Arbeitgebers zugelassen werden; bloße finanzielle Nachteile genügen nicht[5]Däubler a.a.O. S. 385, Rn. 645,
  • eine einstweilige Verfügung sollte nur bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit verhängt werden dürfen[6]Däubler a.a.O. S. 384 Rn. 643,
  • auch bei einer einstweiligen Verfügung muss das Bundesarbeitsgericht im Eilverfahren die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts überprüfen können.

Für die Abschaffung oder Einschränkung von einstweiligen Verfügungen im Falle von Streiks spricht auch, dass das Bundesarbeitgericht entschieden hat, dass eine grundsätzliche Vermutung generell für die Rechtmäßigkeit von gewerkschaftlich organisierten Streiks spricht[7]BAG AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf). und dass nach dem Bundesverfassungsgericht eine Bewertung durch die Fachgerichte als rechtswidrig grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn eine Arbeitskampfmaßnahme offensichtlich ungeeignet und unverhältnismäßig ist. Hintergrund ist, das Art 9 Abs. 3 GG die Wahl der Mittel, die eine Koalition zur Erreichung von Streiks für geeignet hält, grundsätzlich ihr selbst überlassen bleibt.[8]BVerfG v. 10.9.2004 – 1 BvR 1193/03 zu B II b Gründe

Es stellt sich natürlich sofort die Frage, wie diese Forderungen durchgesetzt werden können. Ich glaube, hier gilt das, was für das gesamte Streikrecht gilt. Das Streikrecht muss zunächst vielmehr in den Gewerkschaften diskutiert werden. Solche Entscheidungen, wie die des Landesarbeitsgerichts zum Kitastreik, müssen darüber hinaus in der Öffentlichkeit kritisiert, ja auch skandalisiert werden. Sie dürfen nicht einfach hingenommen werden und, daraus abgeleitet, muss eine Änderung des Rechts, eine Änderung der Rechtsprechung verlangt werden.

References

References
1 Aus der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts: „Ausgangspunkt dieser Vereinbarung sei die von ver.di geäußerte Erwartung gewesen, die Regelungen zur Entlastung von Erzieherinnen und Erziehern in der TV-L aufzunehmen, die ver.di tariflich mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände im Jahr 2022 geregelt hatte (TVöD-VKA). Dazu gehörten u.a. eine monatliche Zulage für Erzieherinnen und Erzieher und jährlich zwei Rehabilitationstage. Im Zuge der Tarifverhandlungen mit der TdL sei über die diesbezüglichen Regelungen aus dem TVöD-VKA verhandelt worden. Ergebnis der Verhandlung sei die Aufnahme der Zulagenregelung in den TV-L gewesen, während sich die Gewerkschaft mit den weiteren Punkten nicht habe durchsetzen können. Da alle Regelungen des TVöD-Pakets Gegenstand der Verhandlungen gewesen seien, sei dieses Paket abschließend geregelt worden. Die aktuellen Streikforderungen seien teilweise in diesem Regelungspaket enthalten, nämlich hinsichtlich der Regenerationstage und hinsichtlich der Vorbereitungszeit. Dadurch werde die Friedenspflicht verletzt“ (https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1493394.php).
2 Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 170, Rn. 263
3 Däubler Das Arbeitsrecht 1, 1998, 15. überarbeitete Neuauflage, Hamburg, S. 383, Rn. 642 mit Verweis auf M. Reimann „Der Rechtsschutz gegen den politischen Streik in den USA, RdA 1985, S. 34 ff
4 das sind arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten , die sich – im deutschen Sprachgebrauch ausgedrückt – auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ beziehen
5 Däubler a.a.O. S. 385, Rn. 645
6 Däubler a.a.O. S. 384 Rn. 643
7 BAG AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf).
8 BVerfG v. 10.9.2004 – 1 BvR 1193/03 zu B II b Gründe