7. September 2020 von benhop
Die neuen Betreiber können nicht zu einem Vertrag mit den Gewerkschaften verpflichtet werden, aber als Ersatz können sie zu einem Vertrag mit dem Staat verpflichtet werden. In diesem Vertrag verpflichtet der Staat den neuen Betreiber zur Einhaltung von bestimmten Tarifverträgen (Tariftreue)[1].
Nach dem Wortlaut des Gesetzes haben die Länder Berlin und Brandenburg zwar einen Ermessenspielraum bei der Bestimmung dieser Tarifverträge, aber das Gesetz stellt auch klar, dass das Land Berlin einen neuen Betreiber der Verkehrsdienste nur dazu verpflichten muss, seine Beschäftigten „bei der Ausführung dieser Dienste mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen“[2]. Das Gesetz verlangt nicht, dass die Tariftreue auch für alle anderen Arbeitsbedingungen gilt, die durch die bisher geltenden Tarifverträge festgeschrieben wurden und die sich nicht auf den Lohn beziehen, z.B. Arbeitszeit, Ruhezeit, Urlaub, Kündigungsschutz usw.
Die Ausschreibung der Nord-Süd-Bahn und der Stadtbahn enthält eine Verpflichtung zur Tariftreue im Verkehrsdienst[4] und eine Verpflichtung zur Tariftreue in der Instandhaltung[5]. Unternehmen, die den Verkehrsbetrieb oder die Instandhaltung übernehmen wollen, werden in der Ausschreibung verpflichtet, ihre Arbeitskräfte bei der Ausführung dieser Tätigkeiten „mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen“. Dann werden die Tarifverträge (pdf-Datei) aufgelistet, die zur Anwendung kommen sollen. Es sind nur Tarifverträge mit Entgeltregelungen. Alle anderen Regelungen in diesen Tarifverträgen und alle anderen Tarifverträge der EVG und GdL, an die die S-Bahn GmbH gebunden ist, fallen unter den Tisch, z.B. der Demographie-TV der EVG, der einen sehr starken Kündigungsschutz enthält. Zudem kritisiert die EVG, dass der Senat in die Liste nicht einschlägige Entgelttarife für die Beschäftigten der S-Bahn GmbH aufgenommen hat.
Weil es sich um einen Vertrag mit dem Staat handelt, kann auch nur der Staat für die Einhaltung dieser Tariftreue sorgen. Aus dieser Tariftreue entstehen keine Ansprüche, die der einzelne Beschäftigte geltend machen könnte. Vielmehr sind die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften darauf angewiesen, dass der Staat für die Einhaltung dieser Tariftreue sorgt.
Tariftreue heißt also nicht Tarifbindung. Tariftreue ist besser als keine Tariftreue[3], aber wesentlich schlechter als die bisherige Tarifbindung. Nach einem Betreiberwechsel müssen die Gewerkschaften die Bindung an die bestehenden Tarifverträge neu erkämpfen. Sollten der Verkehrsbetrieb nach 15 Jahren und das Instandhaltungsunternehmen nach 30 Jahren aufgrund einer erneuten Ausschreibung noch einmal wechseln, fängt wieder alles von vorne an.
[1] Das Kapital entzieht sich in den letzten 20 Jahren nicht nur immer mehr der Tarifbindung und hat selbstverständlich auch kein Interesse an Auflagen zur Tariftreue, die in einem über viele Jahre andauernden Konflikt gegen das Kapital durchgesetzt wurden. Die einschlägigen Regeln zur Tariftreue finden sich im Berliner Auftrags – und Vergabegesetz (BerlAVG), GVBl. 2020, 276. Das geänderte BerlAVG trat am 1. Mai 2020 in Kraft. Es gilt für alle Vergabeverfahren, die ab dem 1. Mai 2020 begonnen werden. Am 2. April 2020 hatte das Berliner Abgeordnetenhaus dieses Gesetz in der Fassung der Vorlage zur Beschlussfassung – Drucksache 18/2538 – angenommen Die Regelungen zur Tariftreue finden sich also nicht im GWB, sondern in den Ländergesetzen, die dafür auch die Zuständigkeit haben, da diese „Regelungen unter das Recht der Wirtschaft nach Art. 74 Absatz 1 Nr. 11 GG fallen und nach Art. 70 GG i.V.m. Art. 72 Absatz 2 GG der Bund im Rahmen dieser konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz den hier vorliegenden Regelungsgegenstand nicht abschließend gesetzlich geregelt hat (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.07.2006 – 1 BvL 4/00)“ – so wörtlich die Begründung zu § 9 BerlAVG.
[2] § 10 BerlAVG lautet: „Öffentliche Personennahverkehrsdienste
Unbeschadet etwaiger weitergehender Anforderungen nach § 128 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vergeben öffentliche Auftraggeber gemäß § 2 Aufträge über öffentliche Personennahverkehrsdienste, wenn sich die Auftragnehmer bei der Angebotsabgabe verpflichten, ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (ohne Auszubildende) bei der Ausführung dieser Dienste mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen. Die öffentlichen Auftraggeber bestimmen in der Bekanntmachung der Ausschreibung sowie in den Vergabeunterlagen den oder die einschlägigen Tarifverträge nach Satz 1 nach billigem Ermessen und vereinbaren eine dementsprechende Lohngleitklausel für den Fall einer Änderung der Tarifverträge während der Vertragslaufzeit. Außerdem sind insbesondere die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (Abl. L 315 vom 3. Dezember 2007, S. 1) zu beachten“.(§ 10 BerlAVG v. 22.April 2020, verkündet als Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes und weiterer Rechtsvorschriften v. 22. April 2020 (GVBl. S. 276))
[4] „Das BerlAVG und das BbgVgG enthalten Verpflichtungen zur Tariftreue. Die AG haben gem. § 4 Satz 1 BerlAVG und § 4 Abs. 3 BbgVgG entschieden, für die Leistungen auf den Gebieten beider Länder die Regelungen des BerlAVG in der jeweils geltenden Fassung zur Anwendung zu bringen. Der AN wird daher im Sinne von § 10 Satz 1 BerlAVG verpflichtet, seine Arbeitskräfte bei der Ausführung der vertragsgegenständlichen Leistungen über öffentliche Personennahverkehrsdienste mindestens nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen. Etwaige Änderungen der Entgelttarife bei Änderungen der Tarifverträge während der Vertragslaufzeit sind nachzuvollziehen. Maßgeblich sind die hier dargestellten Tarifverträge: https://www.daisikomm.de/download.aspx?file=D63399/008. Der Auftragnehmer wird verpflichtet, Leistungen der Kundenbetreuer und Leistungen der Triebfahrzeugführer in einem bestimmten Umfang selbst zu erbringen. Nähere Angaben hierzu sind aus den Vertragsunterlagen ersichtlich. Die in Abschnitt III.2.2), (1) geregelte Pflicht zur Personalübernahme bleibt hiervon unberührt.“ (Aus der Ausschreibung Teillose 2 und 4, jeweils unter II.2.4)
[5] „Die AG haben sich zum Schutz des für die vertragsgegenständlichen Instandhaltungsleistungen eingesetzten Personals für eine Tariftreueverpflichtung entschieden. Der AN wird daher verpflichtet, diese Arbeitskräfte bei der Ausführung der o.g. Leistungen mind. nach den hierfür jeweils geltenden Entgelttarifen zu entlohnen. Maßgeblich sind die hier dargestellten Tarifverträge: https://www.daisikomm.de/download.aspx?file=D63399/008. Etwaige Änderungen der Entgelttarife bei Änderungen der Tarifverträge während der Vertragslaufzeit sind nachzuvollziehen. Für alle vorstehenden Ausführungen wird ergänzend auf die Vertragsunterlagen verwiesen.“ (Aus der Ausschreibung Teillose 1 und 3, jeweils unter II.2.4)