Überlegungen zur „Ahnengalerie“ des Bundesarbeitsgerichts

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Dr. Martin Borowsky ist Richter am Landgericht Erfurt und früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesarbeitsgericht. Seit Frühjahr 2019 forscht er zur NS-Belastung des Gerichts. Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um die erste wissenschaftliche Veröffentlichung zum Thema. Der Beitrag wurde im Dezember 2021 in „Betrifft: JUSTIZ“ Nr. 148 veröffentlicht. Wir veröffentlichen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung dieser Zeitschrift und des Autors.

„Mit Stolz kann man auch auf die erste arbeitsgerichtliche Nachkriegsgeneration zurückblicken“

Überlegungen zur „Ahnengalerie“ im Bundesarbeitsgericht

Von Martin Borowsky

„Mit Stolz kann man auch auf die erste arbeitsgerichtliche Nachkriegsgeneration zurückblicken“ – dieses Zitat stammt von Peter Hanau, dem Doyen des deutschen Arbeitsrechts, der zum 60-jährigen Jubiläum des Bundesarbeitsgerichts, das im Mai 1954 gegründet wurde, im Jahr 2014 eine Chronik verfasst hat und bei der Geschichte beginnt. Es ist aufschlussreich, wie Hanau zu dieser Wertung kommt. Er beginnt „Das Bundesarbeitsgericht hat nicht bei Null angefangen, sondern hat im Arbeitsrecht und in der Arbeitsgerichtsbarkeit wichtige Vorgänger“. Dann stellt er Hugo Sinzheimer in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, den Vater des deutschen Arbeitsrechts, der als Jude später verfolgt wurde. Hanau geht knapp auf den Nationalsozialismus ein. Ich zitiere: „Im Nationalsozialismus ging das Recht weitgehend verloren und eine verderbte Politik gewann die Oberhand. Die Gerichte haben dem wenig Widerstand entgegengesetzt, während in den nicht politisch infizierten Angelegenheiten die Rechtsentwicklung normal weiterging, so dass das Bundesarbeitsgericht auf Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts zurückgreifen konnte.“ Interessant, dass Hanau die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts im „Dritten Reich“ nicht als politisch infiziert ansieht. Dann berichtet er noch von widerständigen Arbeitsrichtern im „Dritten Reich“, und vor diesem Hintergrund resümiert er: „Es ist gut zu wissen, dass es solche Vorgänger gibt. Mit Stolz kann man auch auf die erste arbeitsgerichtliche Nachkriegsgeneration zurückblicken, die unter widrigsten Umständen an die Weimarer Tradition anknüpfen und sie selbständig fortentwickeln konnte.“ Im Lichte eines solchen positiven Narrativs – Sinzheimer als jüdischer Vater des Arbeitsrechts, widerständige Arbeitsrichter, unbelastete „saubere“ Judikate des Reichsarbeitsgerichts und der Arbeitsgerichtsbarkeit – begegnet eine Ahnengalerie, wie wir sie am Bundesarbeitsgericht vorfinden, keinerlei Bedenken und Einwänden. Im Gegenteil: Mit Stolz könne man auf die Portraits der Richter:innen in der Ahnengalerie blicken.

Die wenigsten unter Ihnen dürften diese Ahnengalerie vor Augen haben. Sie befindet sich im Konferenzbereich im zweiten Stock. Rechts befinden sich die Portraits der Präsidenten in Öl, links Fotoportraits der in jüngerer Zeit ausgeschiedenen Bundesrichter. Linker Hand gibt es noch einen Konferenzraum, in dem etwa wöchentliche Kaffeerunden stattfinden, wo sich die Richter und Richterinnen versammeln. Dort hängen auch die Portraits der ersten Generation der Bundesrichter und Bundesrichterinnen.

Im Grunde genommen ist die selbstsichere Wertung von Hanau erstaunlich, weil es 2014 an jeder Tatsachengrundlage fehlte und bis heute fehlt. Vor 2014 war nur die Biografie von Nipperdey, dem ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, erforscht worden; danach die Biografien von Marie Luise Hilger und von zwei Richtern, Walter Schilgen und Hugo Berger – dies von Georg Falk, weil sie vorher am OLG Frankfurt tätig waren. Das heißt, Hanau kommt zu dieser Wertung ohne jede Tatsachengrundlage. Dies kontrastiert mit der Jubiläumsschrift für die Bundesrechtsanwaltskammer aus derselben Zeit, die sich sehr eindringlich und intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und auch die belasteten Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer deutlich benennt. Es kontrastiert auch mit meinen vorläufigen, zwischenzeitlichen Erkenntnissen aufgrund der nunmehr bald dreijährigen Forschungen zu der NS-Belastung einzelner Bundesarbeitsrichter.

Ich möchte hier nur kurz in Erinnerung rufen: Von den 25 untersuchten Personen sind rund die Hälfte als erheblich bis schwer belastet anzusehen. Von zehn Juristen, die schon im „Dritten Reich“ in der Justiz tätig waren, halte ich neun für so belastet. Es gibt zwei spätere Vizepräsidenten, Hermann Stumpf und Friedrich Auffarth, die in der SA engagiert waren; es gibt Hans-Gustav Joachim, der eine Dissertation im Geiste des eliminatorischen Antisemitismus verfasst hat, und wir sehen in der Ahnengalerie sechs Juristen, die aufgrund ihrer konkreten Tätigkeit als schwer belastet zu gelten haben. Es handelt sich um zwei ehemalige Rechtsanwälte, Boldt und Holschemacher, die in der Wehrmacht im Divisionsstab als Ic-Offiziere, also als Führungsoffiziere für die Geheime Feldpolizei – das war die Gestapo der Wehrmacht – tätig waren. Dann Schilgen, der am Oberlandesgericht in Kattowitz, heute Polen, im politischen Strafsenat Todesurteile zu verantworten hatte. Kattowitz liegt in unmittelbarer Nähe von Auschwitz mit eigenem Amtsgericht – das konnte ihm nicht verborgen geblieben sein. Weiter Willy Martel und Theodor Simons, die an Sondergerichten – „Panzertruppe der Rechtspflege“ (Freisler) – Todesurteile fällten, die als Mord qualifiziert werden könnten, und schließlich Georg Schröder, der in den Niederlanden der führende Jurist für die Arisierung, Enteignung, Ausplünderung der niederländischen und in die Niederlande geflüchteten Juden war. Furchtbare Juristen. Vor diesem Hintergrund erstaunt die Auffassung von Hanau.

Meine Ausführungen gliedern sich im Weiteren in zwei Teile: die Belastungsgeschichte des Bundesarbeitsgerichts und dann die Suche nach Gründen für die mangelnde Erforschung und Aufarbeitung bis zum heutigen Tag.

Belastungsgeschichte

Was waren die Gelegenheiten und Gründe für eine individuelle oder kollektive Konfrontation der Richter und Richterinnen mit ihrer Vergangenheit, für eine – unabschließbare – Aufarbeitung? Bedauerlicherweise habe ich keine Einsicht in Generalakten bekommen können. Meine Bewertung stützt sich also nur auf Personalakten, Urteile und Publikationen, die ich finden konnte. Ich identifiziere jetzt Aufarbeitungsfenster, Chancen und Möglichkeiten, innezuhalten und herauszufinden, was jemand konkret getan hat. Und auch, was die Institution Bundesarbeitsgericht hätte unternehmen können.

Dreh- und Angelpunkt ist die Entnazifizierung. Die Entnazifizierungsakten liegen zu praktisch allen Bundesrichtern vor. Spannend sind die „Persilscheine“, mit denen sie weißgewaschen wurden und die sie sich auch untereinander ausgestellt haben. Nipperdey hat so dem späteren Vizepräsidenten Stumpf einen Persilschein ausgestellt, und umgekehrt Stumpf Nipperdey. Und wie nicht anders zu erwarten, sind nahezu alle damals betroffenen Juristen als entlastet oder sogar nicht betroffen eingestuft worden. Das waren in der Regel Männer um die 40, hoch ehrgeizig, die zum größten Teil der Generation des Unbedingten angehörten, und deren Karriere noch nicht zu Ende sein sollte. Alle haben es geschafft, dieses Entréebillet in die Nachkriegsjustiz zu bekommen, und konnten so entweder, wenn sie schon vorher Justizjuristen waren, wieder aufgenommen werden, bzw. – als ehemalige Anwälte oder Wissenschaftler – erstmals in die Justiz aufgenommen werden. Nach meiner bisherigen Erkenntnis sind sie fortan unbehelligt geblieben, bis auf zwei oder drei Ausnahmen, bei denen es ganz konkrete besondere Anlässe für eine Befassung gab.

Weitere Gelegenheiten zur Aufarbeitung blieben ungenutzt, so z.B. die Beförderung in der Landesjustiz – die Bundesrichter kamen ja in der Regel über das Landesarbeitsgericht oder ein Oberlandesgericht zum Bundesarbeitsgericht. Da wäre Gelegenheit gewesen, sich mit ihrer Vergangenheit zu befassen. Und die Wahl zum Bundesrichter. In den Akten, die ich in Koblenz einsehen konnte, waren zumindest die formellen Mitgliedschaften in NSDAP, SA, SS erfasst. Aber diese Mitgliedschaften waren kein Hinderungsgrund für die Berufung. Erstaunlich auch, dass sich bisweilen in den Akten der Name von Fritz Bauer als Vertreter der hessischen Justiz findet – auch er hat offenbar keinen Anstoß genommen. Gelegenheit hätte zudem die Beförderung am Bundesarbeitsgericht selbst geboten. Weiter hätte die Blutrichter- und Braunbuchkampagne der DDR den Anstoß geben können, sich der Vergangenheit zu stellen. Dort sind immerhin vier Richter am Bundesarbeitsgericht angeprangert worden. Später ging es um Honorarprofessuren. Ich habe mir zwei oder drei Berufungsvorgänge anschauen können: Dort wird die Vergangenheit so gut wie nicht thematisiert. Es haben auch mehrere NS-Juristen das Bundesverdienstkreuz bekommen, so der erheblich belastete Vizepräsident Hermann Stumpf. Beim Bundespräsidialamt war man darüber jetzt auch erstaunt, denn eigentlich wären Regelanfragen beim Berlin Document Center fällig gewesen, aber die sind wohl unterblieben. Die Ehrungen waren also kein Anlass, Nachforschungen anzustellen. Das gilt auch für die offiziellen Nachrufe und die wenigen biografischen Skizzen, die es zu diesen Richtern gibt. So hat der Vizepräsident Dirk Neumann zu einem Richter am Reichsarbeitsgericht, Johannes Denecke, der noch kurz am Bundesarbeitsgericht tätig war, aus den Personalakten positiv zitiert, aber die negativen Belege daraus schlicht weggelassen, die etwa besagten, dass Denecke Urteile im Geiste des Nationalsozialismus fälle, die in der nationalsozialistischen Presse begeistert gefeiert würden.

Es gab drei Ausnahmen, bei denen die Vergangenheit hochgekommen ist. Zunächst Martel und Simons, die an Sondergerichten Todesurteile gefällt haben. Da wurde eine rote Linie überschritten. Diese beiden Herren durften dann still und heimlich bei vollen Bezügen in den Vorruhestand gehen. Bei Joachim ist Ende der 70er Jahre die Doktorarbeit aufgefallen. Der Spiegel und andere Presseorgane haben skandalisiert – aber da war er schon Präsident des Landesarbeitsgerichts in Frankfurt, und der Skandal hat nicht mehr das Bundesarbeitsgericht erreicht.

Eine individuelle Aufarbeitung im Einzelfall hat mithin nicht stattgefunden. Dies gilt leider auch für die kollektive oder institutionelle Aufarbeitung. Da ist erstaunlich, dass die einflussreiche 68er-Generation, die auch am Bundesarbeitsgericht maßgeblich gewirkt hat, sich offenbar nicht mit der eigenen Geschichte befasst hat. Auch diverse Publikationen in den letzten Jahrzehnten, die Probleme aufgezeigt haben, hat man nicht zum Anlass genommen, in die Tiefe zu gehen. Das gilt etwa für die Doktorarbeit von Marc von Miquel, der schon 2004 die Braunbuchkampagne der DDR auswertet und vier Richter am Bundesarbeitsgericht benennt, oder die großen Forschungen von Hubert Rottleuthner 2010, oder eine Habilitationsschrift von Britta Rehder zum Bundesarbeitsgericht und dessen Frühgeschichte von 2011. Die Autobiografie des Präsidenten Thomas Dieterich aus 2016, exzellent und gut lesbar, spricht gelegentlich Problemfälle an, so Martel am Sondergericht, und zwischen den Zeilen meine ich zu lesen, dass Dieterich eine Aufarbeitung wünschte. Leider ist er kurz darauf verstorben. Ein letztes Beispiel ist die ebenfalls 2016 veröffentlichte Dissertation meiner Thüringer Kollegin Misselwitz zu Marie Luise Hilger.

Diese Publikationen haben nicht wirklich interessiert. Frau Misselwitz zum Beispiel wurde nie eingeladen, ihre Doktorarbeit beim Bundesarbeitsgericht zu präsentieren. Immerhin hat sie einen Preis des Deutschen Juristinnenbundes für ihre Forschung erhalten.

Es gab sogar einen Großversuch: Die damalige Generalbundesanwältin Monika Harms hat 2008 oder 2009 angeregt, dass sich Bundesjustizministerium und Bundesgerichte mit ihrer Vergangenheit befassen. Diese Initiative ist bekanntlich gescheitert. Auf verschlungenen Wegen ist daraus allerdings zum einen das Rosenburg-Projekt entstanden, zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesjustizministeriums, und zum anderen eine Ringvorlesung an der Universität Jena zu der frühen Rechtsprechung der Bundesgerichte. Gerade Jena geht vorzüglich voran bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Was allerdings die Bundesgerichte angeht, ist das Projekt im Sande verlaufen. Laut Jena war die Bereitschaft der Bundesgerichtspräsident:innen sehr unterschiedlich ausgeprägt, Akten zur Verfügung zu stellen. Es werden auch Finanzprobleme angeführt. Das Bundesarbeitsgericht soll sich sogar – als „nachkonstitutionelles Gericht“ – als nicht betroffen angesehen haben. Eine Aufarbeitung oder auch nur Thematisierung einer möglichen NS-Belastung fand nicht statt.

Zusammengefasst: Es gab ein Nicht-Wissen, aber es war auch Nicht-Wissen-Wollen, so dass sich bis heute der Mythos des unbelasteten Gerichts halten konnte.

Erklärungsversuche

Das zweite große Themenfeld sind die Erklärungsversuche – eine Annäherung, warum man sich nicht mit der eigenen Geschichte befasst hat. Zunächst banal: schlichtes Desinteresse und andere Prioritäten. Auch kollegiale Rücksichtnahme, Takt. Ich habe schon Dirk Neumann erwähnt, dessen Biografie ich wegen des fehlenden Ablaufs von Schutzfristen nicht erforsche. Man nimmt zudem Rücksicht auf Angehörige.

Weiter gibt es wissenschaftliche Nähebeziehungen: Das deutsche Arbeitsrecht ist eine überschaubare geschlossene Welt, un petit monde, in der man sich kennt, austauscht, mit vielen Vernetzungen und Freundschaften und Feindschaften. Da nimmt man Rücksicht aufeinander. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es den Übervater Nipperdey aus Köln gab, den ersten Präsidenten. Köln ist maßgeblich für die erste Richtergeneration. Nipperdey hatte bei sehr vielen Berufungen und Wahlen zum Bundesarbeitsgericht seine Hände im Spiel. Das spiegelt sich auch in der regionalen Herkunft der ersten Richter wider. Sie kamen zum Großteil entweder aus NRW oder aus Hessen. Bremer, Saarländer, Bayern waren lange nicht vertreten. Ich erinnere an diesen berühmten Historikertag, wo Schüler meinten, ihre Lehrer verteidigen zu müssen – so ähnlich stelle ich es mir auch hier vor: wissenschaftliche Nähebeziehungen. Belastete Juristen als Namensgeber für führende arbeitsrechtliche Kommentare … Das führte dann dazu, dass man schwieg. Ein kollektives und kommunikatives Beschweigen. Auch nachdem meine ersten Forschungsergebnisse über die FAZ und andere Medien wie den MDR ab Dezember 2020 in die Öffentlichkeit gekommen sind, herrscht Schweigen in der Welt des Arbeitsrechts. Die führende arbeitsrechtliche Zeitschrift NZA hat auf diverse Zuschriften von mir keinerlei Reaktion gezeigt. Siehe Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren“

Familiäre und gesellschaftliche Verflechtungen treten hinzu. Es fehlt allerdings an einer Richtersoziologie, anders als in den USA: Zur Herkunft, Einstellung usw. der Bundesrichter:innen liegt kaum Forschung vor. Ich gehe davon aus, dass es eine Selbsterneuerung der deutschen juristischen Elite gibt – wesentlich erleichtert durch Recht und Praxis der Bundesrichterwahlen. Eine Pädagogik- Professorin, die bei vielen Berufungen mitwirkt, hat mich gefragt, ob es denn üblich sei, dass die Kinder und Enkel von Jura-Professoren wieder Jura-Professoren würden. Family-owned success stories? Ich weiß es nicht, aber anekdotisch gibt es durchaus Anhaltspunkte.

Damit komme ich zu einem weiteren möglichen Motiv: Die Furcht vor Lawfare, also davor, vor Gericht gezerrt zu werden. Der Doyen des Forum Justizgeschichte, Helmut Kramer, kann davon ein Lied singen. Wir können aktuell die Politik der Hohenzollern bewundern. Ostrazismus, Ausgrenzung, der Vorwurf der Nestbeschmutzung bis hin zu Gerichtsverfahren. Ich selbst muss auch sehr vorsichtig sein, um solche Prozesse zu vermeiden. Das hat abschreckende Wirkung, einen chilling effect.

Für zentral halte ich die Furcht der Institution vor Reputationsverlust bis hin zur Delegitimation der eigenen Rechtsprechung. Damit sind wir bei der Frage nach den tiefen Schichten der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts angekommen. Das Arbeitsrecht ist bekanntlich stark richterrechtlich geprägt. Das Bundesarbeitsgericht war vor allem in der Anfangszeit ein Ersatzgesetzgeber. Es gibt sachliche Kontinuitäten. Ich habe nach meinem Gang an die Öffentlichkeit Zuschriften von überallher zu solchen Kontinuitäten bekommen. Ich erwähne hier nur das – in Deutschland – restriktive Streikrecht. Man hat wohl Angst davor, die Büchse der Pandora zu öffnen, wie Annette Weinke vor kurzem befand. Und ich frage mich, ob es nicht doch immer wieder Kollegen und Kolleginnen gegeben hat, die in die Tiefe gegangen sind und einzelne Fakten ausgegraben haben – und sie dann lieber nicht veröffentlichten.

Spannend zum Abschluss: Es gab 2011 eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag zur NS-Belastung von Bundesbehörden und Bundesgerichten. In ihrer Antwort hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass es am Bundesarbeitsgericht für die Richter:innen bis Jahrgang 1927 15 Mitgliedschaften in der NSDAP gab. Ich wollte in Erfahrung bringen, woher die Bundesregierung diese Kenntnis hatte, und habe über die Initiative „FragDenStaat“ eine offizielle Anfrage an das Bundesinnenministerium geschickt, das damals die Antworten auf die parlamentarische Anfrage gebündelt hatte. Das BMI teilte mit, dies sei vom Bundesarbeitsministerium zugearbeitet worden. Auf Anfrage dort erfuhr ich, die Auskünfte kämen aus dem Bundesarbeitsgericht selbst … Die Verwaltung des Bundesarbeitsgerichts schrieb mir dann:

„Die gewünschte Auskunft zu den Namen der NSDAP-Mitglieder und NSDAP-Mitgliedsnummern kann nicht erteilt werden. Die Personalakten der zwischenzeitlich verstorbenen Bundesrichter sind in den letzten Jahren vollständig an das Bundesarchiv abgegeben worden. Hausinterne Aktenvorgänge zu Parlamentarischen Anfragen werden in regelmäßigen Abständen vernichtet. Dies betrifft auch die Unterlagen für die Zuarbeit zu der Antwort der Bundesregierung vom 14. Dezember 2011 (Ds.17/8134) auf eine parlamentarische Anfrage. Ob und inwieweit die NS Belastung auf einer Mitgliedschaft in der NSDAP beruhte, um wen es sich handelte und wie die genannte Zahl 15 zustande kam, lässt sich daher heute nicht mehr nachvollziehen.“

Auch da: Fehlanzeige. Immerhin steht fest, dass man am Bundesarbeitsgericht schon 2011 die Akten nach einer NS-Belastung durchforstet hat. Es stellt sich die brisante Frage, wer wann von einer NS-Belastung wusste, und untätig blieb. Die Ahnengalerie wurde jedenfalls nicht als anstößig empfunden.

Ausblick: Was tun mit der Ahnengalerie?

In der Tiefe denke ich, dass man eine solche Ahnengalerie nur darum belassen konnte, weil man die Opfersicht vollkommen abspaltete. Ich war diese Woche zu einem „Weimarer Salon“ im Hotel Elephant mit Bodo Ramelow und vier Überlebenden des Holocaust. Wir haben dort von einem Auschwitz-Überlebenden erfahren, dass ungarische jüdische Kinder lebend ins Feuer geworfen wurden. Das unermessliche Leid der Opfer muss in den Blick genommen werden, nach innen wie nach außen. Ich frage mich, wie die homosexuellen Richter:innen am Bundesarbeitsgericht, die heute dort tätig sind, damit umgehen, dass ihr Fotoportrait, das man in der Regel zum Ausscheiden bekommt, in der Nähe des Porträts eines Willy Martel hängen wird, der am Sondergericht Mannheim zwei junge, geistig zurückgebliebene Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Orientierung auf das Schafott geschickt hat. Oder ich frage mich, wie man damit umgeht, dass ein Georg Schröder, der in den Niederlanden – im Wissen um die Shoa – zahllose Juden ausgeplündert hat, heute – 2021 – von der Ahnengalerie auf die wöchentlichen Kaffeerunden oder Gäste aus Israel und den Niederlanden herab lacht. Der Vater des deutschen Arbeitsrechts Hugo Sinzheimer hat als geflüchteter Jude in den Niederlanden die Befreiung nur kurze Zeit überlebt …

Es hängen in der Ahnengalerie Juristen, die den Dolch des Mörders unter der Robe trugen oder Wegbereiter der Shoa waren. Daher lautet meine abschließende Frage: Wie können wir als Citoyens, als aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger angesichts des absolut Bösen eine solche Ahnengalerie rechtfertigen?

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Der Artikel beruht auf dem Vortrag „Überlegungen zur Ahnengalerei im Bundesarbeitsgericht“ im Rahmen der Jahrestagung des Forum Justizgeschichte am 25. September 2021 „Wie Justitia zurückblickt – Erinnerungskulturen der Deutschen Justiz“. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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