Welche Möglichkeiten zur Vergesellschaftung eröffnet das Grundgesetz?

image_pdf

Maria Metzke || Richterin b. LAG a.D.


Regelungen zur Enteignung gab es schon im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 und im Kaiserreich. Zur Anwendung kamen sie vor allem beim Ausbau der Verkehrswege – Eisenbahn, Schiffahrtskanäle, Fernstraßenbau – im Zuge der Industrialisierung. Nach der Revolution von 1918 wurde in der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 nicht nur die Enteignung in Art. 153 Abs. 2 neu geregelt, sondern darüber hinaus die Möglichkeit der „Überführung für die Vergesellschaftung geeigneter privater wirtschaftlicher Unternehmungen in Gemeineigentum“ eröffnet, Art. 156 Satz 1 WRV. Aus den Beratungen des parlamentarischen Rates ist erkennbar, dass man sich bei der Abfassung der entsprechenden Regelungen in Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 GG weitgehend an diesen Bestimmungen orientieren, jedoch auch die Erfahrungen der Weimarer Zeit berücksichtigen wollte. In der damaligen Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde nämlich nur eine Entschädigung zum vollen Verkehrswert als „angemessen“ angesehen. Dies machte damals wesentliche Änderungen der Wirtschaftsverfassung unmöglich.


Enteignung nach Artikel 14 Grundgesetz


Das Grundgesetz regelt in Art. 14 Abs. 3 Satz 1, dass eine Enteignung, d.h. die vollständige oder teilweise Entziehung des in Art. 14 Abs. 1 geschützten und nach Art. 14 Abs. 2 sozial gebundenen Eigentums nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig ist. Sie ist beschränkt auf Fälle, in denen Güter hoheitlich beschafft werden, mit denen ein konkretes, der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienendes Vorhaben durchgeführt werden soll [1]Beschluss des BVerfG vom 22.5.2001, BVerfGE 104,1, „Baulandumlegung“. Eine Enteignung kann laut Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG nur durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Diese sog. „Junktimsklausel“ schützt einerseits den von der Enteignung betroffenen Eigentümer, weil sie ihm für den Eigentumsverlust eine Entschädigung zusichert. Andererseits soll sie den Gesetzgeber, der auch für den Staatshaushalt zuständig ist, vor unvorhersehbaren Ausgaben bewahren.
Die Enteignung durch Gesetz, die sog. Legalenteignung, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts [2]Urteil vom 18.12.1968 zum Hamburger Deichordnungsgesetz BVerfGE 24, 367 nur in eng begrenzten Fällen zulässig. Regelfall ist die Enteignung auf der Grundlage eines Gesetzes durch Verwaltungsakt, die sog. Administrativenteignung. Die Enteignung ist ferner an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden [3]BVerfGE 24, 367, 404. Sie muss demnach geeignet, erforderlich und das mildeste Mittel zur Erreichung des mit ihr beabsichtigten Zwecks sein.


Entschädigung ist eine Abwägung


Die Entschädigung ist nach Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 Grundgesetz unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Der Gesetzgeber hat dabei „wie es die Gerechtigkeit fordert, einen freien Spielraum von einer bloßen nominellen bis zur vollen Entschädigung“ [4]so jedenfalls v. Mangoldt im Schriftlichen Bericht des Parlamentarischen Rates zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 12, zitiert nach Wieland, in Dreier, GG, 2. Aufl., … Continue reading. Er ist nicht auf eine Verkehrswert-entschädigung festgelegt. Ist z.B. der Wert des Enteignungsgegenstandes ohne eigene Leistung des Eigentümers gestiegen, etwa aufgrund der Bauplanung oder durch Spekulationsgewinne, kann dies bei der Bemessung der Entschädigung ebenso – durch Abzug – berücksichtigt werden wie eine besondere Sozialbindung dieses Enteignungs-gegenstandes. Zugunsten des Betroffenen fällt demgegenüber eine besondere Bedeutung des Enteignungsgegenstandes für seine persönliche Entfaltung ins Gewicht [5]Wieland, aaO, Rn. 116, 117. Insoweit gibt es aber viel Streit in der Kommentarliteratur um die Reichweite des Spielraums des Gesetzgebers. Schließlich ist in Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG wegen der Höhe der Entschädigung ausdrücklich der Rechtsweg zu den Zivilgerichten eröffnet, wobei jedoch die Verwaltungsgerichte zuständig sind für den primären Rechtsschutz gegen Administrativenteignungen. Man spricht insoweit von einer Doppelgleisigkeit des Rechtswegs.


Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz


Während Art. 4 Abs. 3 GG die Individualenteignung im Interesse der Allgemeinheit regelt, geht es in Art. 15 GG um Sozialisierung, also um die Möglichkeit des Gesetzgebers zu einer Umgestaltung der Wirtschaftsordnung. Gemeint ist der Übergang von einer auf private Gewinnerzielung gerichteten in eine gemeinnützige Form des Wirtschaftens. Ziel ist die Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft. Art. 15 GG enthält allerdings nur eine Ermächtigung, nicht jedoch einen Verfassungsauftrag zur Sozialisierung, und verhindert deshalb auch nicht die Privatisierung von Staatsunternehmen [6]Urteil des BVerfG vom 17.5.1961, BVerfGE 12, 363 f., „VW-Privatisierung“.


Die Ermächtigung des Gesetzgebers ist begrenzt durch den Katalog der sozialisierungs­fähigen Güter und das Sozialisierungsziel. Ob eine Sozialisierung darüber hinaus auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen muss, ist umstritten. Sie muss aber jedenfalls die grundrechtliche Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) von Eigentum – Art. 14 GG – und Berufsfreiheit – Art. 12 GG – beachten und darf deshalb die Möglichkeit privater Wirtschaftstätigkeit nicht vollständig beseitigen [7]so Bryde, in: v.Münch/Kunig, 6. Aufl. 2012, Rn. 10 zu Art. 15. Die Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft beinhaltet mit dem Oberbegriff der Gemeinwirtschaft eine Abgrenzung zur privaten Gewinnorientierung und Ausrichtung an der gesellschaftlichen Bedarfsdeckung bzw. der Verfolgung sonstiger Gemeinwohlziele [8]Bryde, aaO, Rn. 11. Sozialisierung ist nicht deckungsgleich mit Verstaatlichung, auch andere öffentlich-rechtliche Träger wie Gemeinden oder Selbstverwaltungskörperschaften kommen für die Überführung in Gemeineigentum in Betracht [9]Bryde, aaO, Rn. 12. Die Erreichung des Sozialisierungsziels ist auf Dauer zu sichern [10]Bryde, aaO, Rn. 15. Gegenstände einer möglichen Sozialisierung sind zunächst „Grund und Boden“, d.h. Grundstücke nebst Zubehör und „Naturschätze“, d.h. Bodenschätze und Naturkräfte, z.B. Wasserkraft. Umstritten ist der Begriff „Produktionsmittel“. Die herrschende Lehre beschränkt diesen Begriff auf Mittel, die der Herstellung von Gütern dienen, was insbesondere Handel, Banken, Versicherungen und Verkehrsbetriebe ausschließt. Nach der Entstehungsgeschichte und dem Zweck von Art. 15 GG, eine gemeinwirtschaftliche Umgestaltung zu ermöglichen, ist es jedoch nicht plausibel, dass gerade diese wesentlichen Wirtschaftssektoren von der Sozialisierungsermächtigung nicht erfasst sein sollen. „Produktionsmittel“ meint daher alle Wirtschaftsunternehmen, mit Ausnahme von kleinbäuerlichen und Handwerksbetrieben [11]so Bryde, aaO, Rn. 18, 19 zu Art. 15 GG. Auch die Sozialisierung erfordert ein Parlamentsgesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, wobei Art. 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 für die Entschädigung entsprechend gilt.


Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral


Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Urteil vom 1.7.1954 zum Investitionshilfegesetz [12]BVerfGE 4,7 ausgeführt, dass das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral ist und sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Weiter heißt es in dieser Entscheidung: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein
mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“ Auf die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes bezieht sich Bundesverfassungsgericht auch im Urteil vom 1.3.1979 zum Mitbestimmungs-gesetz 1976 [13]BVerfGE 50, 290 und führt dort aus: „Der Gesetzgeber darf jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet. Ihm kommt eine weitgehende Gestaltungsfreiheit zu.“


Aus dem Stenographischen Bericht des Parlamentarischen Rates [14]S. 205, zitiert nach Wieland, aaO, Rn. 10 zu Art. 15 geht hervor, dass die Sozialdemokratie damals beabsichtigte, alsbald nach dem Zusammentritt des Ersten Bundestages durch entsprechende Gesetzentwürfe an das große Werk der Sozialisierung heranzugehen. Daraus ist offenbar nichts geworden. Die in den ersten Jahren der Bundesrepublik von der SPD erhobene Forderung nach Verstaatlichung aller Grundstoffindustrien wurde spätestens durch das Godesberger Programm 1959 mit seinem Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft aufgegeben. Versuche der Gewerkschaften, mit eigenen Unternehmen die Marktwirtschaft um eine gemeinwirtschaftliche Komponente zu ergänzen, scheiterten letztlich.


Von der vom Grundgesetz eröffneten Sozialisierungsoption wurde von den herrschenden politischen Kräften bisher kein Gebrauch gemacht. Der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der DDR hat zudem dafür gesorgt, dass derartige Forderungen auch in der jüngeren Vergangenheit nicht erhoben wurden. Art. 15 GG ist aber auch durch den Einigungsvertrag nicht berührt und gilt durch den Beitritt auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Als ein die staatliche Übernahme von Banken in größerem Umfang ermöglichendes Gesetz wäre allenfalls noch das Rettungsübernahmegesetz vom 4.7.2009 zu nennen, in dessen Folge es allerdings nicht zur Bankenenteignung kam, weil der Bund damals die Hypo Real Estate durch Anteilsübernahme auch ohne Enteignung vollständig übernehmen konnte.


Es kommt auf den politischen Willen an


Der Gesetzgeber ist aber nach Art. 15 GG weiterhin zu Vergesellschaftungen in der Lage, so er es denn politisch will. Politisch, aber auch juristisch spannend dürfte deshalb Ausgang und mögliche Umsetzung des angekündigten Volksbegehrens „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ sein, das ausdrücklich auf Art. 15 GG gestützt wird. Problematisch dürfte auch hier neben der strittigen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor allem die Höhe der Entschädigung sein. In einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 29.1.2019 – im Internet erhältlich – sind die juristischen Streitfragen im Hinblick auf die „Vergesellschaftung eines privat-wirtschaftlichen Wohnungsunternehmens“ näher ausgeführt.

Dieser Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung dem Buch entnommen: Dokumetation des Symposiums „Die unvollendete Revolution 1918/1919“ Juni 2019, S. 67 ff


Der Historiker Dietmar Lange zur Geschichte des Kampfes um Vergesellschaftung hier lesen:

References

References
1 Beschluss des BVerfG vom 22.5.2001, BVerfGE 104,1, „Baulandumlegung“
2 Urteil vom 18.12.1968 zum Hamburger Deichordnungsgesetz BVerfGE 24, 367
3 BVerfGE 24, 367, 404
4 so jedenfalls v. Mangoldt im Schriftlichen Bericht des Parlamentarischen Rates zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 12, zitiert nach Wieland, in Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 14, Rn. 13
5 Wieland, aaO, Rn. 116, 117
6 Urteil des BVerfG vom 17.5.1961, BVerfGE 12, 363 f., „VW-Privatisierung“
7 so Bryde, in: v.Münch/Kunig, 6. Aufl. 2012, Rn. 10 zu Art. 15
8 Bryde, aaO, Rn. 11
9 Bryde, aaO, Rn. 12
10 Bryde, aaO, Rn. 15
11 so Bryde, aaO, Rn. 18, 19 zu Art. 15 GG
12 BVerfGE 4,7
13 BVerfGE 50, 290
14 S. 205, zitiert nach Wieland, aaO, Rn. 10 zu Art. 15