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Hanni Meyer

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Auf einer Bronzetafel in der Ritterstraße  in Kreuzberg ist der Kopf einer jungen Frau zu sehen.

Foto: Gedenktafel in Berlin, (https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/)

Darunter steht:

„In der Lampenschirmfabrik Paulus, Ritterstr. 16, musste Hanni  Meyer (1921-1943) als Jüdin Zwangsarbeit leisten.

Sie verbreitete mit der jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe Baum antifaschistische Flugschriften.

Am 4. März 1943 wurde Hanni Meyer im Alter von 22 Jahren in Berlin-Plötzensee hingerichtet.“

Erinnert an die Opfer von Krieg und Faschismus!

Ehrt diejenigen, die gegen Krieg und Faschismus gekämpft haben!

Recht auf verbandsfreien Streik

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Foto: Ingo Müller. Benedikt Hopmann gemeinsam mit Elmar Wiegand, Aktion gegen Arbeitsunrecht

2. August 2021. Am Freitag, den 30. Juli, lud die Aktion ./. Arbeitsunrecht zu einer Veranstaltung  mit dem Thema “Mythos ‘wilder’ Streik und Illegalität” in den Nachbarschaftsladen Kommune65 in Berlin ein. RA Benedikt Hopmann hielt einen Vortrag zu diesem Thema. Etwas gekürzt ist  der Vortrag am 3. August auf der Themenseite der Zeitung “Junge Welt” unter dem Titel “Scharfe Waffe” nachzulesen. Hier zunächst der Vortrag als Video, dann der Vortrag als Text (mit Fußnoten).

Der Vortrag kann über eine Sendung des freien Radios LORA hier angehört werden.

Kompletter Vortrag mit Diskussion als Video:

Link: https://youtu.be/PW9xLwE_nss


Der Vortrag als Text:

Inhalt:

Teil 1: Das Recht auf Streik

Link zum Video:

https://youtu.be/y4689Vjcsf0

Der Text dieses Videos:

Einleitung

Nach der herrschenden Meinung sind nur Streiks zulässig, die ein tariflich regelbares Ziel haben und von der Gewerkschaft getragen werden, das heißt: Die Gewerkschaft muss dazu aufgerufen haben. Sie kann aber auch nachträglich einen Streik übernehmen.

Damit sind “wilde” Streiks und politische Streiks, insbesondere politische Demonstrationsstreiks, verboten und ich könnte meinen Vortrag schon beenden.

So einfach ist es aber nicht. Ich will beginnen mit einem persönlichen Erlebnis.   

Als ich vor rund zwanzig Jahren mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter  in England war und wir dort mit der englischen Bergarbeitergewerkschaft sprachen, haben wir gefragt: Was ist eine wichtige Lehre aus Eurem großen Streik gegen die Thatcher Regierung? Sie antworteten: Thatcher hatte vorher das Streikrecht geändert. Wir haben damals die Bedeutung unterschätzt.

Das war für mich beeindruckend. Denn die Bergarbeitergewerkschaft ist eine sehr kämpferische Gewerkschaft und lässt sich nichts vormachen. Aber auch sie hatte die volle Tragweite der Änderungen des Streikrechts nicht erkannt. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass die Wegnahme von Streikrechten nicht so unmittelbar spürbar ist, wie der Griff in das Portemonnaie? Es hilft, sich vor Augen zu halten: Rechtspositionen sind Machtpositionen. Und ohne Macht sind wir verloren.

Nicht nur diese kleine Geschichte, sondern die gesamte Geschichte lehrt uns:  Diese Machtpositionen müssen verteidigt werden und Verbesserungen werden uns gerade in einer solche fundamentalen Frage niemals geschenkt.

Kapitel 1. Koalitionsfreiheit im Grundgesetz

Als Folge der Novemberrevolution bekam das Streikrecht erstmals in die Weimarer Reichsverfassung Verfassungsrang. Mit kaum geändertem Wortlaut wurde nach dem 2. Weltkrieg die Koalitionsfreiheit in das Grundgesetz aufgenommen. Der erste Satz des Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz lautet:

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und alle Berufe gewährleistet“.

Im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung 1968 wurde auf Druck der Gewerkschaften in einem dritten Satz auch der Arbeitskampf ausdrücklich durch das Grundgesetz geschützt. 

Diese grundrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit ist ein sogenanntes Doppelgrundrecht: Es schützt sowohl den einzelnen Arbeitnehmer, sich zu organisieren, zusammenzuschließen und gegen die Machtpositionen der Unternehmen anzugehen, als auch den Bestand und die Betätigung der Koalitionen, zum Beispiel der Gewerkschaften, selbst.

Das Grundgesetz spricht nicht von Gewerkschaften, sondern allgemeiner von „Vereinigungen“. Das Bundesverfassungsgericht verwendet in seinen Entscheidungen auch nicht den Begriff Gewerkschaften, sondern den Begriff Koalitionen[1]vgl. auch Däubler/Däubler Arbeitskampfrecht 4. Auflage § 12 Rn. 20, § 9 Rn.8. Die Begriffe “Vereinigungen“ und “Koalitionen” lassen sehr wohl zu, darunter auch Zusammenschlüsse zu fassen, die nur zum Zweck eines Streiks gebildet werden, um bestimmten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Das ist das, was die Beschäftigten von Gorillas gemacht haben. Solche Zusammenschlüsse werden auch ad-hoc-Koalitionen genannt. Diese Streiks werden manchmal „wilde“ Streiks genannt. Wir wollen sie verbandsfreie Streiks nennen und damit andeuten, dass die Gewerkschaft nicht dazu aufruft und sie auch nicht nachträglich übernimmt.

Im Streik setzen die abhängig Beschäftigten der Fremdbestimmung durch das Kapital, der jeder Beschäftigte unterworfen ist, ihre Selbstbestimmung entgegen. Der Streik ist daher Ausdruck des Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“[2]vgl. Polzin SR 6/20 S. 216 ff.. Dieser Artikel 1 ist ein wichtiges Zeugnis der antifaschistischen Prägung des Grundgesetzes und der Streik herausragend als kollektive Ausdruck und kollektive Einforderung dieser Menschenwürde.

Das Bundesverfassungsgericht hat bisher noch nie darüber entschieden, ob ein Streik einer ad-hoc-Koalition, also ein verbandsfreier Streik rechtmäßig ist. 


Teil 2: Der verbandsfreie Streik

Link zum Video: https://youtu.be/B0Pk5xPo6Pc

Zum Text dieses Videos:

Kapitel 2. Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 1963 zum verbandsfreien Streik

Anders das Bundesarbeitsgericht, das 1963 einen verbandsfreien Streik für rechtswidrig erklärte. Hier ein Auszug aus der Begründung: „… es ist wichtig, beim Ausbruch eines Streiks zu Kontrollzwecken Stellen einzuschalten, die … die Gewähr dafür bieten, dass nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt wird … Als solche Stellen kommen auf der Arbeitnehmerseite bei ihrer gesellschaftlichen Stellung nur die Gewerkschaften infrage. … Das Mittel des Streiks ist eine scharfe Waffe. Das verbietet es, das Streikrecht Personen oder Gruppen anzuvertrauen, bei denen nicht die Gewähr dafür besteht, dass sie nur in vertretbarem Umfang davon Gebrauch machen. Eine solche Gewähr ist bei den einzelnen Arbeitnehmern, den Mitgliedern der Belegschaft als solchen und nichtgewerkschaftlichen Gruppen nicht gegeben“[3]BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 3. E., S. 32.

Die Gewerkschaften sind in diesem Urteil nicht Gegenmacht, sondern werden als Ordnungsfaktor instrumentalisiert.

Kapitel 3. Die unseelige Tradition des Herrn Hans Carl Nipperdey

Damit wendet sich die Rechtsprechung von der Rechtsprechung der Weimarer Republik, ja sogar der Rechtsprechung der Kaiserzeit ab. Die Rechtsprechung der Weimarer Republik und auch die der Kaiserzeit war alles andere als streikfreundlich, aber ein Streik war vorher nie deswegen rechtswidrig gewesen, weil keine Gewerkschaft dazu aufgerufen hatte.

Die Grundlage zu dieser obrigkeitsstaatlichen Wende im Arbeitsrecht legte Hans Carl Nipperdey. Nipperdey war während der Nazizeit einer der Kommentatoren des Gesetzes „zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG). Dieses Gesetz setze mit einem Federstrich das gesamte kollektive Arbeitsrecht der Weimarer Republik außer Kraft und ersetzt es durch das uneingeschränkte Prinzip „Führer“ – „Gefolgschaft“.

Als Vertreter der Befürworter der Rechtswidrigkeit verbandsfreier Streiks zitiert das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung einzig Nipperdey[4]BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 2., S. 28.


Teil 3: Der politische Streik

Link zum Video: https://youtu.be/qirPSgpJ2XU

Der Text dieses Videos:

Kapitel 4. Politischer Streik

Nipperdey hatte schon einige Jahre vorher den sogenannten Zeitungsstreik als Gutachter im Auftrag der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) für rechtswidrig erklärt. 

In diesem Gutachten ging es allerdings nicht um einen verbandsfreien Streik, sondern um einen politischen Streik im Jahr 1952. Es ging also nicht um den Streikträger, sondern um das Streikziel. Die Gewerkschaften hatten zu diesem Streik aufgerufen. Der Streik richtete sich gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz und war damit ein politischer Streik. Nipperdey hatte diesen politischen Streik für rechtswidrig befunden und sich damit als erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts empfohlen.

Das Gutachten von Nipperdey führte allerdings nicht zu einem Verbot des politischen Demonstrationsstreik durch das Bundesarbeitsgericht.

Vielmehr wird dieses Verbot bis heute immer nur indirekt daraus abgeleitet, dass das Bundesarbeitsgericht mehrfach hervorgehoben hat, dass Streikziele in einem Tarifvertrag regelbar sein müssen. Das ist nicht möglich, wenn sich der Streik zum Beispiel gegen ein geplantes Gesetz oder gegen die Bundesregierung richtet.  Denn dann geht es um eine Regelung des Gesetzgebers.  

Weder dem Bundesarbeitsgericht noch dem Bundesverfassungsgericht wurde bis heute ein politischer Streik zur Entscheidung vorgelegt, so dass diese Gerichte dazu auch bis heute nicht entschieden haben.

Kapitel 5. Politischer Demonstrationsstreik

Fridays-for-future rufen zum Klimastreik auf. Aber niemand streikt.

Von der Süddeutschen Zeitung bis zur Bild-Zeitung wird landauf landab verkündet: Das ist verboten. Parents-for-future bewundern ihre tapferen Kinder, aber sagen auch nichts anderes.

Schritte in eine andere Richtung gingen am 20. September 2019 über zwanzig Beschäftigte des Botanischen Gartens der Freien Universität Berlin. Sie nahmen an der Kundgebung der Fridays for future teil. Im September 2020 wiederholten mehr als zehn Beschäftigten diese Teilnahme an einer Kundgebung der Fridays-for-Future.

Es war zwar kein Streik und konnte damit auch kein politischer Streik sein. Denn der Arbeitgeber hatte die Lage der Arbeitszeit insgesamt, also auch die Kernarbeitszeit zur Disposition gestellt. Damit konnten die Beschäftigten am Tag des Klimastreiks jederzeit frei nehmen, ausstempeln, aufhören zu arbeiten und sich damit in die Freizeit begeben. Wenn man nicht arbeitet, kann man nicht die Arbeit niederlegen.

Der Arbeitgeber hätte allerdings wohl kaum die Kernarbeitszeit an diesem Tag aufgehoben, wenn es nicht Beschäftigte gegeben hätte, die am Klima”streik” teilnehmen wollten. Auch der Umstand, dass die Leitung erst zwei Tage vorher einer solchen Arbeitsniederlegung zustimmte und die Kernarbeitszeit aufhob, zeigt, dass die Aufhebung der Kernarbeitszeit an diesem Tag kein “Selbstläufer” war.

Eine solche Aktion wird auch in der Öffentlichkeit wie ein Streik gesehen, was einen besonderen Nutzen ausmacht. Der Arbeitsrechtler Däubler hat auf eine interessante historische Parallele hingewiesen: “Zu Beginn des Kapp-Putsches erklärte die Reichsregierung, die öffentlichen Bediensteten einschließlich der Beamten sollten (oder dürften) mit der Arbeit aufhören – auch das war der Sache nach “Dienstbefreiung”. Dennoch ist vom “Generalstreik” wegen des Kapp-Putsches die Rede.

Es war also ein sehr wichtiges Zeichen, das die Beschäftigten des Botanischen Gartens an der Freien Universität Berlin setzten.

Trotzdem bleibt die Frage: Was ist, wenn Beschäftigte an einem Klimastreik teilnehmen wollen und der Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht zur Disposition der Beschäftigten stellt?

Dieselbe Frage stellte sich, als 2020 zehntausende Beschäftigte zum Gedenken an die Ermordeten in Hanau die Arbeit niederlegten[5]siehe https://widerstaendig.de/hanau/4-maerz-2020-arbeitsniederlegung-gegen-rechts/

Was ist, wenn der Arbeitgeber Anhänger der AfD und gegen eine Arbeitsniederlegung ist? Wollen die Beschäftigten in solchen Fällen ihre Entscheidung von dem Willen des Arbeitgebers abhängig machen?

Das Bundesarbeitsgericht erklärte 2002, dass die Frage der zulässigen Streikziele einer Überprüfung bedarf[6]BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02 juris Rn. 38[7]Das Bundesverfassungsgericht nahm zum Streikrecht über viele Jahre in der folgenden Weise Stellung: „Das Grundrecht schützt als koalitionsmäßige Betätigung auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf … Continue reading.

Daher stellt sich die Frage: Wie lange wollen wir diese unseeligen Traditionen fortsetzen, die von Nipperdey in Gang gesetzt wurde? Wie lange wollen wir uns noch von einem Herrn Nipperdey sagen lassen, ob und wofür wir streiken dürfen?


Teil 4: Das Völkerrecht zum Streikrecht

Link: https://youtu.be/Qfsm139UK0c

Text dieses Videos:

Kapitel 6. Europäische Sozialcharta und ILO schützen verbandsfreie Streiks und nicht tariflich regelbare Ziele

Eine wichtige Unterstützung für unsere Forderungen nach einem besseren Streikrecht finden wir im Völkerrecht. Vor allem sind das die Bestimmungen der Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO) und der Europäischen Sozialcharta (ESC).

Das wohl wichtigste Übereinkommen der ILO[8]Die ILO arbeitet unter dem Motto: „Weltfrieden durch soziale Gerechtigkeit“. Sie will weltweit soziale Mindeststandards durchsetzen. Sie wurde 1919, also in den Jahren der großen Umwälzungen … Continue reading ist das Übereinkommen Nr. 87. In dem Vertragstext ist zwar nicht ausdrücklich das Streikrecht erwähnt, aber es ist zu einem „Herzstück dieses Übereinkommens“ geworden[9]Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht 4. Auflg. § 19 Rn. 46. Die Unternehmerverbände haben vor nicht allzu lange Zeit eine massive Kampagne vom Zaun gebrochen, die sich dagegen richtete, dass die ILO Aussagen zum Streikrecht trifft[10]Schuster, AuR 12/19 S. 504 ff.. Dieser Konflikt ist zunächst nur zugedeckt worden, aber noch längst nicht ausgestanden.   

Die zuständigen Ausschüsse der ILO haben „wilde“ („wild-cat“) Streiks ausdrücklich anerkannt[11]Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA), siehe: Freedom of Association „Compilation of decisions oft he Committee on Freedom of Association“, sixth edition, 2018, ILO Geneva, Nr. 784; siehe … Continue reading, sind der Auffassung, dass die Streikziele nicht auf tariflich regelbare Ziele beschränkt werden dürfen und haben von Deutschland gefordert, Proteststreiks zuzulassen[12]Stellungnahme des DGB vom 13.3.2020 a.a.O S.12.  

Die älteste ausdrückliche völkerrechtliche Streikgarantie enthält die Europäische Sozialcharta (ESC). Die ESC ist ein Vertrag des Europarats, in deren 47 Mitgliedsstaaten rund 820 Millionen Menschen leben[13]Zu den Mitgliedsstaaten gehören auch Russland und die Türkei, die wichtigsten Organe des Europarats sind die Parlamentarische Versammlung, das Ministerkomitee und der Europäische Gerichtshof für … Continue reading.

Teil II Artikel 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta lautet:

„Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragspartner … und anerkennen das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ 

Auf diesen Begriff „Arbeitnehmer“ kommt es an. Es geht also nicht nur um das Recht der Gewerkschaften, sondern viel allgemeiner um das Recht der Arbeitnehmer auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts.

Kapitel 7. Das Bundesverfassungsgericht zur Bedeutung völkerrechtlicher Verträge 

Deutschland hat der Europäische Sozialcharta von 1961 mit einigen Ausnahme durch förmliches Gesetz[14]gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt und sie 1965 mit diesen Einschränkungen ratifiziert[15]BGBl. II 1964, S. 1251; 1965 S. 1122. Zu den Bestimmungen, denen Deutschland ohne Einschränkungen zugestimmt hat, gehört die eben zitierte Bestimmung zum Streikrecht. Sie gilt also uneingeschränkt für Deutschland.

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Bedeutung von solchen völkerrechtlichen Übereinkommen so: „Damit hat der Gesetzgeber sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt“[16]Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 unter V.I.1.a.. Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gericht solche Völkerrechtsverträge „wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben“. Das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt, was unter „methodisch vertretbarer Auslegung“ zu verstehen ist: Solche Völkerrechtsverträge dürfen ausnahmsweise nicht beachtet werden, wenn „nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“[17]BVerfG a.a.O.. Da das Bundesverfassungsgericht einen entsprechenden Fall nie zu entscheiden hatte, ist auch nicht bekannt, ob es tragende „Grundsätze der Verfassung“ sieht, die eine Anwendung von Art. 6 Nr. 4 ESC ausschließen. Ich wüsste nicht, welche das sein sollen.


Teil 5: Fortdauernder Völkerrechtsbruch in Deutschland

Link zum Video: https://youtu.be/c2zRR_7hWQA

Text dieses Videos:

Kapitel 8. Durchsetzungsbemühungen und Bruch des Völkerrechts

Das Ministerkomitee des Europarats, in dem sich die Außenminister der Mitgliedsstaaten versammeln, überwacht unter anderem die Einhaltung der Europäischen Sozialchart (ESC) in den einzelnen Mitgliedsstaaten und wird dabei von einem Sachverständigenausschuss (EASR bzw. ECSR) unterstützt. Seit Jahren erklärt dieser Sachverständigenausschuss EASR, dass in Deutschland das „Verbot aller Streiks, die nicht auf Tarifverträge ausgerichtet sind und nicht von den Gewerkschaften ausgerufen oder übernommen werden“ ein Verstoß gegen die Sozialcharta ist[18]AuR 1998, S. 156. 1998 sprach das Ministerkomitee selbst eine sogenannte „Empfehlung“ gegenüber Deutschland aus. Damit wurde die Kritik an dem Streikrecht in Deutschland auf die höchste Stufe gehoben, die dem Ministerkomitee zur Verfügung steht. Eine schwerere „Sanktion“ kann das Ministerkomitee nicht aussprechen[19]AuR 1998, S. 156.

Das Bundesarbeitsgericht stellte wenige Jahre nach der Rüge des Ministerkomitees fest: „Dabei mag die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich durchsetzbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC einer erneuten Überprüfung bedürfen. Denn immerhin ist nach Meinung des Sachverständigenausschusses das Verbot aller Streiks in Deutschland, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sind und nicht von einer Gewerkschaft ausgerufen oder übernommen worden sind, mit den Garantien von Art. 6 Nr. 4 ESC unvereinbar … Auch erteilte das Ministerkomitee des Europarats am 3. Februar 1998 die „Empfehlung“, in angemessener Weise die negative Schlussfolgerung des Ausschusses unabhängiger Experten zu berücksichtigen“[20]BAG v. 10.12.2002 – AZR 96/02 juris Rn. 43.

Die Bundesregierung hoffte wohl, dass mit diesem gerichtlichen Hinweis der fortgesetzte Völkerrechtsverstoß aus der Welt geschafft wäre. Doch reichte dem  Sachverständigenausschuß EARS die bloße Ankündigung nicht[21]Conclusions XVIII-1, S. 305 f., 2006 Deutschland. Die Rechtsprechung muss sich ändern. Der Sachverständigenausschuss hielt seine Kritik an dem deutschen Streikrecht aufrecht.

Die Bundesregierung versuchte daraufhin die Diskussion zu verschieben und behauptete, dass Gewerkschaften in Deutschland leicht als Zusammenschluss gegründet werden könnten und deshalb keine Verletzung der Europäischen Sozialcharta mehr vorliege[22]Lörcher in: Däubler Arbeitskampfrecht 3. Auflg. § 10 Rn. 33 – etwa nach dem Motto: Wenn Gewerkschaften als Zusammenschluss aus dem Stand gegründet werden können, hat sich das Recht, ohne Gewerkschaften zu streiken erledigt. Doch der Sachverständigenausschuss hat auch das nicht akzeptiert, weil die Gründung einer Gewerkschaft zu schwer ist, die zum Streik aufufen darf: “Der Ausschuss gelangt zu dem Schluss, dass die Situation in Deutschland mit Artikel 6 Absatz 4 der Charta aus den folgenden Gründen nicht in Einklang steht: … die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit von einer Gruppe von Arbeitnehmern eine Gewerkschaft gegründet werden kann, die zu einem Streikaufruf berechtigt ist, stellen eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts dar“.[23]“Bei der Auslegung des Artikels durch den … Sachverständigenausschuss (Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte, EASR) in Zusammenhang mit den von Deutschland nach Artikel 21 ESC … Continue reading

Wohlgemerkt: Mögen solche ad-hoc-Koalitionen für eine bestimmte Dauer und aus einem bestimmten Anlass auch „Gewerkschaften“ genannt werden, sie sind es nicht in dem Sinne, dass sie Tarifverträge abschließen könnten. „Ad-hoc-Koalitionen“ sollen streiken können, um ein Unternehmen zum Beispiel zur Ausgabe eines Dienst-Handy‘s für jeden rider zu zwingen – nicht im Sinne eines Tarifvertrages, aber im Sinne einer Absprache. Das wäre der Weg, um ein völkerrechskonformes Streikrecht in Deutschland durchzusetzen

Die Anforderungen an die Tariffähigkeit von Gewerkschaften (Mächtigkeit) würden damit nicht in Frage gestellt, eben weil es nicht darum geht, dass ad-hoc-Koalitionen  – wie Gewerkschaften – Tarifverträge abschließen können. Die Gewerkschaften haben gerade erst rechtskräftig durchgesetzt, dass der DHV die Mächtigkeit aberkannt wurde. Das war angesichts der extremen Kapitalhörigkeit dieser „Gewerkschaft“ ein Erfolg. Die Kehrseite dieser Anforderungen an die Mächtigkeit aber ist, dass Gewerkschaften in Deutschland eben nicht leicht gegründet werden können. Dies ergibt sich auch aus dem Konzept der Einheitsgewerkschaft, die aus der Einsicht in verheerenden Folgen der Spaltung der abhängig Beschäftigten in der Weimarer Republik nach dem 2. Weltkrieg geschaffen wurden. Ihnen liegt das Ziel zugrunde: „Ein Betrieb – eine Branche – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag“. Das ist im Interesse der abhängig Beschäftigten.

Doch an einer Rechtsprechung, die ad-hoc-Koalitionen das Streikrecht zuerkennt,  fehlt es bis heute. Deshalb rügt der Sachverständigenausschuss des Ministerkomitees, EASR, bis heute diesen Völkerrechtsverstoß Deutschlands, der nun schon fast 60 Jahr anhält[24]der Sachverständigenausschuss EASR im Jahr 2014 in seiner Schlussfolgerung, Conclusion: „Da sich die Lage während der aufeinander folgenden Berichtszeiträume, die Gegenstand der … Continue reading.

Nach zwanzig Jahren „sorgfältiger Prüfung“ stimmte Deutschland in diesem Jahr auch der revidierten Sozialcharta zu[25]BGBl. II 2020, S. 900. Doch wurde dieser Zustimmung eine „Auslegungserklärung“ hinzugefügt, die sich unter anderem auf das Streikrecht (Art. 6 Nr. 4 ESC) bezieht[26]„1. Die Bundesrepublik legt Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 in der Weise aus, dass die rechtmäßige Ausübung des Streikrechts der Arbeitnehmer von … Continue reading. Ein internationaler Vertrag wird genau dann vollständig entwertet, wenn ihn jeder Staat auf seine Weise auslegt. Genau diesem Ziel dient diese „Auslegungserklärung“. Damit soll die Rechtsprechung gegen die streikrechtlichen Bestimmungen in der Europäischen Sozialcharta immunisiert werden. Im Kern handelt es sich um eine „Missachtung des Überwachungssystems der Europäischen Sozialcharta“[27]Stellungnahme des DGB vom 13.3.2020 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Vertragsgesetz zur Revidierten Sozial-Charta S. 12; … Continue reading, dem sich Deutschland mit der Ratifizierung dieses Vertrages unterworfen hat.

Die Bundesregierung setzt damit eine nun mehr fast 60 Jahr anhaltende Tradition fort: Dem Streikrecht nach der Europäischen Sozial-Charta zustimmen, sie dann aber nicht einhalten, jede Rüge internationaler Gremien an sich abperlen lassen und den andauernden Völkerrechtsbruch mit einer eigenen Auslegung des Völkerrechts rechtfertigen. Man kann nur hoffen, dass die Gerichte diese völkerrechtsverachtende ‚Doppelstrategie‘ durchschauen und erkennen, dass solche „Auslegungserklärungen“ rechtlich unbeachtlich sind[28]Lörcher AuR 7-8, 2020, S. 303, 308 f.; Stellungnahme des DGB vom 13.3.2020 a.a.O S.5 f..


Teil 6: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Link zum Video: https://youtu.be/ku9XOlNosC0 

Text dieses Videos:

9. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Es kann sein, dass der entscheidende Anstoß für Verbesserung des Streikrechts vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg kommt. Dieses Gericht hat dadurch eine hohe Durchschlagkraft in Deutschland bekommen, dass vor einigen Jahren die Zivilprozessordnung geändert wurde [29]§ 580 Nr. 8 ZPO. Seitdem kann ein Verfahren, das vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und dort gewonnen wurde, in Deutschland wieder aufgerollt werden. Die innerdeutschen Gerichte müssen auf der Grundlage der gewonnen Beschwerde in Straßburg erneut entscheiden. Ich habe das selbst im Fall der Altenpflegerin Heinisch ./ Deutschland mit weitgehendem Erfolg druchexerziert. Es geht.  

Der Gerichtshof trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die an die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen angelehnt ist. Für das Streikrecht ist der folgende Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) vorrangig:

„(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“.

In dem zweiten Absatz werden dann die Einschränkungen genannt[30]„(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche … Continue reading.

Bedeutsam ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehr stark das internationale Recht berücksichtigt. Für das Streikrecht bedeutet das also, dass der EGMR die Bestimmung in der Europäischen Sozialcharta und ILO mit in seine Entscheidungen einfließen lassen würde.

Zur Zeit ist in Straßburg ein Verfahren anhängig, das die deutschen Gewerkschaften eingereicht haben und das sich gegen das Streikverbot für Beamte richtet. Diejenigen, die jetzt von der Gewerkschaft in Straßburg vertreten werden, haben zunächst an einem Streik teilgenommen, obwohl sie Beamte waren und sie damit gegen das Streikverbot für Beamte verstießen. Nur dadurch und die folgenden Sanktionen der Dienstbehörden konnten die Gerichte das Streikverbot für Beamte überprüfen. Ohne verbotene Streiks kein Ende des Streikverbots. Im vorliegenden Fall ist das Bundesverfassungsgericht jedoch stur bei seiner Rechtsmeinung geblieben, dass ein Beamtenstreik verboten ist und hat sogar noch behauptet, das sei mit internationalem Recht vereinbar. Allerdings hat der EGMR in anderen Fällen ein Streikrecht für Beamte grundsätzlich bejaht. Wir werden sehen. Noch hat der EGMR in der genannten Beschwerde nicht entschieden.    

Zur Frage von verbandsfreien Streiks hat der Europäische Gerichtshof inzwischen entschieden. In dieser Entscheidung Nr. 52051/17 ATEŞ AND OTHERS v. TÜRKİYE vom 18. Februar 2023 [31]EGfMR Nr. 52051/17 ATEŞ AND OTHERS v. TÜRKİYE v. 19. Februar 2023: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-224035%22]}; die Übersetzung durch DeepL hier lesen; entscheidend ist … Continue reading stellt der Gerichtshof fest, dass “Streiks grundsätzlich nur dann durch Artikel 11 geschützt sind, wenn sie von Gewerkschaftsorganisationen initiiert werden und als tatsächlicher – und nicht nur vermeintlicher – Teil der gewerkschaftlichen Tätigkeit gelten.” Allerdings weist der Gerichtshof auch darauf hin, dass der Umstand, dass das Streikrecht den Gewerkschaften vorbehalten ist, nur mit Artikel 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta vereinbar ist, “sofern die Gründung einer Gewerkschaft nicht von übermäßigen Formalitäten abhängig gemacht wird”. In Deutschland werden sehr hohe Voraussetzungen für die Bildung einer Gewerkschaft gestellt. Das hat der Sachverständigenausschuss immer wieder kritisiert. Hier scheint auch eine Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte möglich zu sein.

Die größten Chancen, das Streikrecht zu verbessern, sehe ich bei einer Erweiterung der Streikziele. Dass also der politische Demonstrationsstreik legalisiert wird, jedenfalls dann, wenn sich die Forderungen auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beziehen und es zulässig wird, gegen Unternehmensentscheidungen zu streiken, etwa gegen Ausgliederungen oder Privatisierungen, und zwar auch dann, wenn das keine unmittelbaren und schwerwiegenden Auswirkungen auf die Beschäftigten hat.     

Wichtig ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte[32]EGMR v. 27.11.2014 HLS ./. Kroatien Nr. Nr. 36701/09 Lörcher AuR 4/2015 S. 126 ff., in der er für die Rechtmäßigkeit eines Streiks einer kroatischen Ärztegewerkschaft ohne weitere Begründung hat ausreichen lassen, dass eine hilfsweise erhobene Tarifforderung auf ein tariflich regelbares Ziel gerichtet war, während die beiden Hauptforderungen offensichtlich rechtswidrig waren[33]EGMR v. 27.11.2014 HLS ./. Kroatien Nr. Nr. 36701/09 Lörcher AuR 4/2015 S. 126 ff.. Das Bundesarbeitsgericht entscheidet genau andersherum: Ist auch nur eine Forderung nicht zulässig, ist der ganze Streik unzulässig [34]sog. „Rühreitheorie“, vgl. Wankel in: Berg/Kocher/Schumann Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 7. Auflg. Teil 4 Rn. 18.


Teil 7 : Beispiele für verbandsfreie Streiks und Hinweise dazu

Linkzum Video: https://youtu.be/THgorOhrB8U

Text dieses Videos:

Kapitel 10. Verbot von verbandsfreien Streiks richtet sich gegen die Gewerkschaften selbst   

Das Verbot des verbandsfreien Streiks richtet sich am Ende gegen die Gewerkschaften selbst. Legendär sind die verbandsfreien Septemberstreiks 1969. Es wurde ein „Nachschlag“ bei den Löhnen gefordert. Die Löhne hatte die IG Metall in Tarifverträgen vereinbart. Während der Laufzeit dieser Tarifverträge sind die Gewerkschaften an die Friedenspflicht gebunden. Sie können also während dieser Zeit nicht für höhere Löhne streiken. 1973 kam es aufgrund von erheblichen Preissteigerungen noch einmal zu verbandsfreien Streiks. Daran beteiligten sich 275.000 Beschäftigte aus 335 Betrieben[35]Däubler Arbeitskampfrecht 4. Auflg. § 8 Rn. 54. Die Septemberstreiks und die Streiks von 1973 führten zu einer differenzierten Betrachtungsweise, die sich im Geschäftsbericht der IG Metall für die Jahre 1971 bis 1973 so liest: „Im Gewande eines angeblichen Streikmonopols der Gewerkschaften werden so die Gewerkschaften zwischen die Stühle gebracht und die Kollegen, die an spontanen Arbeitsniederlegungen teilgenommen haben, der Willkür der Unternehmer ausgeliefert (Kündigung, Schadenersatz usw.). Für die Gewerkschaften kann es nicht darauf ankommen, die eigene organisationspolitische Position durch das Rechtswidrigkeitsurteil des Bundesarbeitsgerichts prägen zu lassen. Hier muss die Bewertung von Fall zu Fall je nach den einzelnen Umständen getroffen werden. … Es gibt (spontane Arbeitsniederlegungen), und eine Vielzahl der Arbeitsniederlegungen des Jahres 1973 waren solche, die durch die Preistreiberei und die tarifpolitische Starrköpfigkeit der Arbeitgeber ausgelöst wurden. Und es gibt viele Aktionen, in denen die Kollegen sich legitimerweise gegen Willkür und Übergriffe im betrieblichen Bereich zur Wehr setzen“[36]zitiert nach Kittner “Arbeitskampf, Geschichte-Recht-Gegenwart” München 2005 S. 685 f.. Die IG Metall war nicht mehr bereit, das Verdikt verbandsfreier Streiks durch das Bundesarbeitsgericht ‚auf Gedeih und Verderb‘ mitzutragen. Damit „eroberte sich die IG Metall ein großes Stück Handlungsfreiheit“ so der damalige Justitiar der IG Metall Kittner[37]zitiert a.a.O. S. 686 f..

Kapitel 11. Verbandsfreie Streiks zur Verteidigung der Entgeldfortzahlung

Zu den bedeutsamen verbandsfreien Streiks gehören auch die Streiks gegen die Herabsetzung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 1996. An diese Verteidigung der Lohnfortzahlung durch verbandsfreie Streiks in der Metallindustrie wird kaum erinnert, während der Kampf der IG Metall um die Lohnfortzahlung 1956/57 Kultstatus besitzt. Aber beide Streiks waren ganz außerordentliche Streiks, die wir in unserem Gedächtnis bewahren sollten. Dazu gibt es ein schönes kleines Buch in der Reihe WIDERSTÄNDIG im VSA Verlag mit dem Titel „Streik und Menschenwürde“. Dort fasst Helmut Platow, der frühere Justitiar von ver.di, in einem verständlichen und empfehlenswerten Beitrag die Entwicklung des Streikrechts in Deutschland zusammen. 

Kapitel 12. Der Streik der Mercedes Arbeiter 2014 in Bremen

In diesem Buch wird auch die verbandsfreie Arbeitsniederlegung gegen Werkverträge und Leiharbeit im Mercedes Werk in Bremen im Jahr 2014 beschrieben. Rund tausend Beschäftigte streikten eine ganze Nachtschicht lang verbandsfrei. 761 bekamen deswegen eine Abmahnung. 34 klagten dagegen. Obwohl wir in der 1. Instanz verloren hatten, nahm der Arbeitgeber alle 761 Abmahnungen vorzeitig aus den Personalakten. Ich glaube, dass Mercedes auf keinen Fall eine Niederlage in der 2. Instanz riskieren wollten. Jedenfalls war das ein Teilerfolg für uns. Danach war es sehr schwer, den Rechtstreit fortzusetzen, weil die Gerichte der Auffassung waren, dass sich mit der Herausnahme der Abmahnungen aus den Personalakten der Rechtstreit erledigt habe.

Interessant war die Begründung des Arbeitsgerichts für sein Urteil:

„Selbst wenn man wie die Kläger von einer zwingenden und unmittelbaren Anwendung der Europäischen Sozialcharta ausgeht, so war die Arbeitsniederlegung … jedenfalls vom Schutzbereich des Art.6 Nr. 4 ESC nicht umfasst. … Artikel 6 ESC gewährleistet das Recht auf Kollektivverhandlungen und erkennt in diesem Rahmen auch das Streikrecht unter bestimmten Bedingungen an …. Es ist nicht ersichtlich, wer sich wann mit welchem Verhandlungsangebot an die Beklagte (d.h. Mercedes) gewandt haben soll“[38]Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven v. 16.2.2014 6 Ca 6166/15.  

Kapitel 13. Lehren für verbandsfreie Streiks

Selbstverständlich kann es kein ausgefeiltes Regelwerk für verbandsfreie Streiks geben. Man kann auch nicht die Regeln, die für einen von der Gewerkschaft getragenen Streik gelten, auf einen verbandsfreien Streik übertragen.

Aus dem bisher vorgetragenen ergeben sich aber meines Erachtens zwei Lehren für verbandsfreie Streiks, die ich hier nennen möchte:

  1. Die Streikenden müssen eine Person haben, die sich mit einem bestimmten Verhandlungsangebot an den Arbeitgeber wendet. Um diese Person nicht zu gefährden, sollte es jemand sein, der selbst nicht an dem verbandsfreien Streik teilnimmt. Diese Person sollte nicht als Sprecher, sondern als Vermittler auftreten. Eine solche Person kann ein Mitglied des Betriebsrates sein.
  2. Unter den Forderungen sollte mindestens eine Forderung sein, die ganz unstreitig zulässig ist, bei den Gorillas wäre das zum Beispiel die Zur-Verfügung-Stellung eines Dienst-Handy‘s     

Teil 8: Wie das Streikrecht verbessern

Link zum Video: https://youtu.be/THgorOhrB8U

Text dieses Videos

Kapitel 14. Was ist Recht? Wie das Streikrecht verbessern?

Was ist Recht? Keinesfalls immer die Rechtsprechung, auch nicht wenn sie als ständige Rechtsprechung bezeichnet wird. Das Recht ist nicht wie die Gesetzestafeln des Hammurabi in Stein gehauen. Was das Streikrecht angeht haben inzwischen fast alle Gewerkschaften Beschlüsse gefasst, in denen das politische Streikrecht gefordert wird[39]siehe Nachweise in Berg in: Berg/Kocher/Schumann „Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 7. Auflg.  Teil 4 n.  188 ff. Doch es wird kaum die Frage diskutiert, wie diese Forderung durchgesetzt werden kann. Es ist den wenigsten bewusst, dass sich diese Forderung nicht an den Gesetzgeber richtet, weil das im Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem schlechteren Recht führen würde. Da sind sich wohl alle gewerkschaftlich orientierten Juristen einig. Daher bleibt nur der Versuch, ein besseres Recht über die Rechtsprechung durchzusetzen. Das verlangt aber als ersten Schritt den gezielten und kalkulierten Rechtsbruch. Diesen Rechtsbruch kann man allerdings auch anders bezeichnen, indem das erstrebte Recht, für das gestritten wird, von vornherein als das bessere Recht bezeichnet wird (“Streikrecht als Menschenrecht!“, “Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung durch das Kapital”, “Wir verteidigen unsere Würde” usw.). Denn was soll man davon halten, wenn ein „Rechtsbruch“ nur darauf beruht, dass die Bundesregierung ihrerseits Völkerrecht bricht?

Auch das Argument der unkalkulierbaren Schadenersatzansprüche sticht nicht. Die Gewerkschaft hat in der Hand in welchem Ummfang zu sie zu Streiks aufruft oder sie übernimmt. Die finanziellen Risiken sind also kalkulierbar.

Damit kehre ich zum Anfang meines Vortrags zurück: Das gesamte Streikrecht ist erkämpft worden. Und es kann auch nur so verteidigt und verbessert werden.


Diskussion:

Link: https://youtu.be/VEI2YTT2gwQ


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References

References
1 vgl. auch Däubler/Däubler Arbeitskampfrecht 4. Auflage § 12 Rn. 20, § 9 Rn.8
2 vgl. Polzin SR 6/20 S. 216 ff.
3 BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 3. E., S. 32
4 BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 2., S. 28
5 siehe https://widerstaendig.de/hanau/4-maerz-2020-arbeitsniederlegung-gegen-rechts/
6 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02 juris Rn. 38
7 Das Bundesverfassungsgericht nahm zum Streikrecht über viele Jahre in der folgenden Weise Stellung: „Das Grundrecht schützt als koalitionsmäßige Betätigung auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Sie werden jedenfalls insoweit von der Koalitionsfreiheit erfasst, als sie erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicher zu stellen. Dazu gehört auch der Streik.“(BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85 AuR 92, 29 m. Anm. Däubler). Entscheidend ist das Wort „jedenfalls“. Es ist deshalb oben fettgedruckt. Mit diesen Worten lässt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen, ob auch Streiks geschützt werden, die nicht „auf Tarifverträge gerichtet sind“
8 Die ILO arbeitet unter dem Motto: „Weltfrieden durch soziale Gerechtigkeit“. Sie will weltweit soziale Mindeststandards durchsetzen. Sie wurde 1919, also in den Jahren der großen Umwälzungen gegründet, zunächst als Sonderorganisation des Völkerbundes, dann als älteste Sonderorganisation der UNO. Die Organe der ILO sind immer dreigliedrig besetzt durch staatliche Repräsentanten, Repräsentanten der Beschäftigten und Repräsentanten der Unternehmer
9 Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht 4. Auflg. § 19 Rn. 46
10 Schuster, AuR 12/19 S. 504 ff.
11 Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA), siehe: Freedom of Association „Compilation of decisions oft he Committee on Freedom of Association“, sixth edition, 2018, ILO Geneva, Nr. 784; siehe auch Däubler/Lörcher Arbeitskampfrecht 4. Auflg. § 10 Rn. 69
12 Stellungnahme des DGB vom 13.3.2020 a.a.O S.12
13 Zu den Mitgliedsstaaten gehören auch Russland und die Türkei, die wichtigsten Organe des Europarats sind die Parlamentarische Versammlung, das Ministerkomitee und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – nicht zu verwechseln mit dem EuGH, dem Gerichtshof der EU in Brüssel
14 gemäß Art. 59 Abs. 2 GG
15 BGBl. II 1964, S. 1251; 1965 S. 1122
16 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 unter V.I.1.a.
17 BVerfG a.a.O.
18, 19 AuR 1998, S. 156
20 BAG v. 10.12.2002 – AZR 96/02 juris Rn. 43
21 Conclusions XVIII-1, S. 305 f., 2006 Deutschland
22 Lörcher in: Däubler Arbeitskampfrecht 3. Auflg. § 10 Rn. 33
23 “Bei der Auslegung des Artikels durch den … Sachverständigenausschuss (Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte, EASR) in Zusammenhang mit den von Deutschland nach Artikel 21 ESC vorgelegten Berichten zur Anwendung der Bestimmungen der ESC hat der EASR zu Artikel 6 Absatz 4 Folgendes festgestellt: Der Ausschuss nimmt die im deutschen Bericht enthaltenen Angaben zur Kenntnis. Der Ausschuss er innert daran, dass das deutsche Recht in Bezug auf kollektive Maßnahmen, das sich auf Artikel 9 Absatz 3 der Verfassung in der Auslegung durch die Rechtsprechung stützt, nach wie vor Streiks verbietet, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrags abzielen. Da der Bericht keinerlei Entwicklung der Situation verzeichnet, ist der Ausschuss weiterhin der Auffassung, dass die Situation nicht in Einklang mit Artikel 6 Absatz 4 der Charta steht. Der Ausschuss hat in seinen früheren Schlussfolgerungen zur Kenntnis genommen, welche Voraussetzungen von der Rechtsprechung festgelegt worden sind, damit eine Gewerkschaft zu einem legalen Streik aufrufen kann (vgl. Addendum zu den Schlussfolgerungen XV-1, S. 29) und er hat festgestellt, dass es schwierig ist, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Er führt aus, dass sich die Situation in diesem Punkt nicht geändert hat und vertritt in Anbetracht der Tatsache, dass eine Gruppe von Arbeitnehmern nicht ohne Weiteres eine Gewerkschaft zum Zweck eines Streiks gründen kann, die Auffassung, dass die Situation nicht in Einklang mit der Charta steht. In Zusammenhang mit den Verfahrenserfordernissen und den Folgen kollektiver Maßnahmen verweist der Ausschuss auf seine Beurteilung der Situation in seinen Schlussfolgerungen XV-1 und XVI-1. Dem Bericht zufolge ist keinerlei Änderung in diesem Punkt eingetreten: Der Ausschuss gelangt zu dem Schluss, dass die Situation in Deutschland mit Artikel 6 Absatz 4 der Charta aus den folgenden Gründen nicht in Einklang steht:
1. Streiks, die nicht den Abschluss eines Tarifvertrags zum Ziel haben, sind verboten;
2. die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit von einer Gruppe von Arbeitnehmern eine Gewerkschaft gegründet werden kann, die zu einem Streikaufruf berechtigt ist, stellen eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts dar
“, siehe BT-Drs. 19/20976 v. 10.07.2020, S. 54 f.
24 der Sachverständigenausschuss EASR im Jahr 2014 in seiner Schlussfolgerung, Conclusion: „Da sich die Lage während der aufeinander folgenden Berichtszeiträume, die Gegenstand der Schlussfolgerungen des Ausschusses 2001, 2003, 2006, 2006, 2010 waren, nicht verändert hatte, wiederholte dieser seine Schlussfolgerung, wonach das im deutschen Recht verankerte Verbot sämtlicher nicht auf einen Tarifvertrag gerichteter Streiks mit Artikel 6 Nr. 4 ESC nicht vereinbar sei …“ Auch 2019 hält der Sachverständigenausschuss in seiner Schlussfolgerung daran fest, dass das Streikrecht in Deutschland gegen Art. 6 Nr. 4 ESC verstößt
25 BGBl. II 2020, S. 900
26 „1. Die Bundesrepublik legt Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 in der Weise aus, dass die rechtmäßige Ausübung des Streikrechts der Arbeitnehmer von dem Vorliegen von Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängig gemacht werden kann. 2. Die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass die von den Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Rechtsprechung entwickelten Zulässigkeitsvoraussetzungen für Streiks auf die Beurteilung der Frage angewandt werden, ob das in Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 und Artikel 6 Absatz 4 der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996 verankerte Streikrecht der Arbeitnehmer rechtmäßig aus geübt wird. Insbesondere umfasst dies Zulässigkeitsvoraussetzungen, nach denen ein Streik der Durchsetzung eines tariflichen regelbaren Zieles dienen muss und nur von einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung geführt werden kann, an die für die Tariffähigkeit die von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen gestellt werden.“; siehe BT-Drs. 19/20976 v. 10.07.2020, S. 55
27 Stellungnahme des DGB vom 13.3.2020 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Vertragsgesetz zur Revidierten Sozial-Charta S. 12; file:///C:/Users/Fujitsu/Downloads/DGB-SN-zum-Vertragsgesetz-zur-RESC-2.pdf
28 Lörcher AuR 7-8, 2020, S. 303, 308 f.; Stellungnahme des DGB vom 13.3.2020 a.a.O S.5 f.
29 § 580 Nr. 8 ZPO
30 „(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen“
31 EGfMR Nr. 52051/17 ATEŞ AND OTHERS v. TÜRKİYE v. 19. Februar 2023: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-224035%22]}; die Übersetzung durch DeepL hier lesen; entscheidend ist Nr. 14. aus der Urteilsbegründung, wo es heißt: “… Der Gerichtshof bekräftigt seine Feststellungen in der Entscheidung Barış u. a./Türkei (Nr. 66828/16 vom 14. Dezember 2021), wonach Streiks grundsätzlich nur dann durch Artikel 11 geschützt sind, wenn sie von Gewerkschaftsorganisationen initiiert werden und als tatsächlicher – und nicht nur vermeintlicher – Teil der gewerkschaftlichen Tätigkeit gelten. Der Gerichtshof hat nie akzeptiert, dass ein Streik, der nicht von einer Gewerkschaft, sondern von deren Mitgliedern oder sogar von Nichtmitgliedern ausgerufen wurde, ebenfalls den Schutz von Artikel 11 genießt (ebd., § 45). Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass nach der Praxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte die Tatsache, das Streikrecht den Gewerkschaften vorzubehalten, mit Artikel 6 § 4 der Europäischen Sozialcharta vereinbar ist, sofern die Gründung einer Gewerkschaft nicht von übermäßigen Formalitäten abhängig gemacht wird …”.
32, 33 EGMR v. 27.11.2014 HLS ./. Kroatien Nr. Nr. 36701/09 Lörcher AuR 4/2015 S. 126 ff.
34 sog. „Rühreitheorie“, vgl. Wankel in: Berg/Kocher/Schumann Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 7. Auflg. Teil 4 Rn. 18
35 Däubler Arbeitskampfrecht 4. Auflg. § 8 Rn. 54
36 zitiert nach Kittner “Arbeitskampf, Geschichte-Recht-Gegenwart” München 2005 S. 685 f.
37 zitiert a.a.O. S. 686 f.
38 Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven v. 16.2.2014 6 Ca 6166/15
39 siehe Nachweise in Berg in: Berg/Kocher/Schumann „Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 7. Auflg.  Teil 4 n.  188 ff

Klimastreiks, Bildergalerien

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Klima-Demo – 22.10.2021


Klimastreik – 24.09.2021

Weiterlesen hier:


Klimastreik – 20.09.2019

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Klimastreik – 29.03.2019

Fridays for Future: 29.03.2019 25 000 Teilnehmer fordern endlich von der Regierung und den sogenannten “Profis” Änderungen in der Klimapolitik. Höhepunkt war die Rede von Greta auf großen Kundgebung am Brandenburger Tor.

Foto: Ingo Müller

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II. Thesen zur Bedeutung dieser Revolution für eine antifaschistische Politik

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These: 1

Eine der zentralen Losungen der VVN-BdA ist: Nie wieder Krieg.  Schon aus diesem Grund muss die Revolution von 1918 für uns eine große Bedeutung haben. Denn diese Revolution von 1918 baute auf den Massenstreiks während des ersten Weltkrieges auf und war zuallererst eine Antikriegsbewegung. Massenstreiks gegen den Krieg in diesem Ausmaß hat es danach nie mehr gegeben.

These: 2

1918 bis 1933 umfassten keine lange Zeit: 15 Jahre. Die meisten, die das Ende der ersten deutschen Republik mit der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler erlebten, hatten schon die Geburtsstunde dieser Republik in der Revolution am 9. November 1918 erlebt. 

Wichtiger als der engen zeitliche Zusammenhang ist der  innere Zusammenhang zwischen der Nichtvollendung der Revolution 1918/19 und dem Sieg des Hitlerfaschismus 1933. Einer der wichtigsten Gründe für das Erstarken des Hitlerfaschismus war, dass der Militarismus und die Schwerindustrie in der Revolution 1918/19 nicht entmachtet wurden und kein starkes demokratische Fundament geschaffen wurde. So konnte sich in wenigen Jahren der Faschismus formieren. 

These: 3 

Der Faschismus beseitigte alle Errungenschaften, die 1918 erkämpft worden waren, und machte den 9. November zu einem Tag des Gedenkens an diejenigen, die im Hitler – Ludendorff Putsch 1923 gegen die Republik getötet worden waren. Der Faschismus verkehrte den 9. November als einem Tag der Erinnerung an die Geburtsstunde der Republik in einen Tag der Erinnerung an diejenigen, die diese Republik schon am 9. November 1923 zerstören wollten.

These: 4

Auch nach 1945 gelang es nicht, die Verantwortlichen für Krieg und Faschismus von den Ämtern in der Justiz, in den Verwaltungen und im Militär fernzuhalten, jedenfalls gilt das uneingeschränkt für Westdeutschland. Gut 10 Jahre später gab es wieder eine deutsche Armee – mit faschistischen Generalen an der Spitze. 

In diese Zeit der Restauration gehört auch, dass die Erinnerung an die Revolution 1918 fast vollständig ausgelöscht und auch damit das Werk des Faschismus weitergeführt wurde.

Wenn wir den 9. November als Tag der Novemberrevolution vergessen, haben die Nazis ihr Ziel erreicht, die Novemberrevolution aus dem Gedächtnis des Volkes zu löschen.

These: 5

Auch die Reichspogromnacht 1938 fiel auf den 9. November.

In einer Erklärung zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution, die von rund 170 Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unterstützt wurde, heißt es dazu: “Wir glauben nicht, dass die jährliche Erinnerung an die Reichspogromnacht von 1938 am 9. November die Erinnerung an die Revolution von 1918/19 am selben Tag ausschließt. Im Gegenteil: Wer angemessen an die Judenpogrome erinnern will, muss an die Zerstörung der Republik 1933 erinnern, die schon mit der blutigen Niederschlagung der Revolution 1918/19 begann. Die Machtübergabe an Hitler 1933 war die Vollendung der Gegenrevolution, völker- und massenmörderische Menschheitsverbrechen waren die Folge und der Antisemitismus von Beginn an Teil des konterrevolutionären Programms. 1933 waren die Gegenkräfte auch des Antisemitismus niedergeworfen, 1938 die Gewerkschaften und Arbeiterparteien längst verboten, alle demokratischen Rechte längst beseitigt“.

Wer angemessen an die Judenpogrome erinnern will, muss an die Zerstörung der Republik 1933 erinnern. Wer an die Zerstörung der Republik erinnert, muss an ihre Begründung 1918 erinnern und an das Unvermögen, sie danach zu verteidigen. Nur so können Lehren aus der Geschichte gezogen werden.

These: 6

Der Schwur von Buchenwald lautet: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“. Das waren auch die Ziele der Revolution von 1918: Gegen den Krieg, für die Republik und Demokratie. Die Antifaschisten nach 1945 und die Revolution von 1918/19 kämpften für dasselbe Ziel: Den Aufbau einer Welt des Friedens und der Freiheit.

Auf einem Denkstein auf dem alten Friedhof Buer in Gelsenkirchen steht: „Zerstampft des Unrechts Drachensaat / Zerstampft den Hass von Staat zu Staat / Versenkt die Waffen in Gewässern / Dann wird im Friedenssonnenschein / Die ganze Welt uns Heimat sein“ Auf der linken Seite sind die Namen derer genannt, die als Mitglieder der Roten Ruhrarmee gegen den Kapp-Putsch ermordet wurden. Das Denkmal wurde von den Nazis zerstört und auf Initiative des „Komitees ehemaliger politischer Gefangener und Konzentrationäre“, aus der später die VVN hervorging, nach dem Krieg neu errichtet. Nun wurden auf der rechten Seite die Namen von ermordeten Mitgliedern von Arbeiterorganisationen und von Angehörigen zweier jüdischer Familien hinzugefügt, die von den Nazis ermordet wurden. Auf dem Denkstein steht in der Mitte unten: “Sie starben für die Befreiung der Arbeiterklasse”. Dabei ging es immer auch um den Kampf um Demokratie.

Auch die Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin Friedrichsfelde erinnert an die Opfer der Revolution von 1918/19 und an diejenigen, die gegen den Faschismus im Widerstand waren und dabei ihr Leben verloren.

These: 7

Die VVN-BdA Kreuzberg Friedrichshain hatte in ihrer Rede am 8. Mai 2021 darauf hingewiesen, dass sich die Häftlinge in Buchenwald in den letzten Stunden vor der Befreiung durch die amerikanische Armee selbst befreiten. Dieser Akt der Selbstbefreiung ist gerade deshalb so bedeutsam, weil die Deutschen insgesamt sich nicht selbst vom Faschismus befreien konnten.

Die Forderung nach „Befreiung“ spielte auf der Demonstration am 8. Mai 2021 eine sehr große Bedeutung. „Befreiung“ stand auf dem Transparent, das an der Spitze des Zuges getragen wurde. Befreiung wurde als gegenwärtige Aufgabe verstanden. Und das kann nur Selbstbefreiung sein: Gemeinsam dieses Land von Rassismus, aber auch von Kriegsgefahr, Aufrüstung und Unterdrückung zu befreien.

Als Beispiel für Selbstbefreiung ist die Revolution von 1918/19 das große Beispiel in unserer Geschichte. Die Revolution von 1918 war ein Massenkampf von enormem Ausmaß und hatte auch mindesten zum Teil Erfolg. Denn sie besiegelte nicht nur das Kriegsende, sondern schuf auch – anders als der erste Versuch 1848 – die erste deutsche Republik, die für die Dauer von 15 Jahren Bestand hatte.

These: 8

In Frankreich ist der 14. Juli, der Tag des Sturms auf die Bastille, der wichtigste Nationalfeiertag. Denn dieser Tag legte 1789 den Grundstein für die erste französische Republik. Sicher wird dieser Tag von der herrschenden Klasse stark vereinnahmt, zum Beispiel zeigt die französische Armee an diesem Tag in jedem Jahr in einer Militärparade ihre neueste Waffentechnik auf dem Champs Elysee. Aber das ist nur die eine Seite. Dieser Tag des Aufstandes ist tief in der französischen Bevölkerung verankert. Er wird in jedem Dorf gefeiert. Die Gelbwesten riefen bei ihren Protesten: „Macron in die Bastille“.

Bei uns ist der entsprechende Tag der 9. November. Er kann wegen der Reichspogromnacht 1938 nicht gefeiert werden. Aber als nationaler Erinnerungstag an die Novemberrevolution 1918 und die Reichspogromnacht 1938 muss er ein arbeitsfreier Tag werden.

I. Eine kurze Geschichte der unvollendeten Revolution von 1918

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Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 war zugleich das Ende der ersten deutschen Republik.

Diese erste Republik war eine Folge der Revolution von 1918/19 und diese Revolution eine Folge des Ersten Weltkrieges. Die erste Forderung der Revolution war, den Krieg sofort zu beenden.

Bis zum Ende des Krieges war Deutschland vorrepublikanisch geprägt. Die Unternehmer verfügten zwar nach der großen Industrialisierungswelle der vorangegangenen Jahrzehnte über die ökonomische Macht, Berlin war ein aus ganz Europa herausragendes industrielles Zentrum. Aber – anders als die französischen Unternehmer 1789 – hatten es die deutschen Unternehmer 1848 nicht vermocht, auch die politische Macht zu erringen. Die Verfügungsgewalt über die Exekutive und das Militär blieb weitgehend in der Hand des Adels, mit dem Kaiser an der Spitze. Der Kaiser ernannte und entließ den Reichskanzler, er war der oberste Heeresführer und entschied über Krieg und Frieden. Der Reichstag besaß lediglich das Recht, den staatlichen Haushalt zu verabschieden. Die abhängig Beschäftigten hatten weder die politische noch die ökonomische Macht.

1914 erklärte Deutschland Russland den Krieg. Die SPD verkündete: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich“. Und die Gewerkschaften verkündeten den so genannten „Burgfrieden“, d.h. sie verzichteten für die Dauer des Krieges auf jeglichen Streik.

Es dauerte eine Zeit, bis sich Widerstand regte. Er wurde nicht über die Gewerkschaften organisiert, sondern über die revolutionären Obleute, die allerdings alle erfahrene Gewerkschafter waren. Die erste öffentliche Kundgebung organisierten jedoch Sozialistinnen am internationalen Frauentag 1915. Der  Widerstand zeigte sich in Arbeitsniederlegungen, die von immer mehr Beschäftigten befolgt wurden. Er richtete sich gegen die immer schlechtere Versorgung der Bevölkerung und gegen den Krieg. Der Streik im Januar 1918 war der größte Massenstreik gegen den Krieg, den es jemals in Deutschland gegeben hat. Die Streikenden forderten unmissverständlich das Ende des Krieges.

Im Herbst 1918 war es dann so weit. Von Kiel aus sprang der Funke auf andere Städte über, bis er am 9. November auch Berlin erreichte. Der Generalstreik am 9. November besiegelte das Ende des Krieges und des Kaiserreichs.

In den folgenden Monaten ging es darum, Entmilitarisierung und Demokratisierung voranzutreiben und zu festigen. Sebastian Haffner hat das in seinem Buch über die Novemberrevolution sehr prägnant beschrieben, auch die bremsende Rolle der SPD in diesem Prozess.

Militarismus zusammen mit Kaisertreue hatten im ersten Weltkrieg Millionen Tote gekostet. Wenn mit dieser Tradition gebrochen werden sollte, durften alle diejenigen, die bisher dafür gestanden hatten, nicht mehr in Amt und Würden bleiben. Aber sie blieben in der Justiz, in der Verwaltung und im Militär und durften weiter über Menschen entscheiden und die Gesellschaft im Inneren prägen. Hinter der Fassade der Demokratie existierte der undemokratische Geist der Kaiserzeit und des Militarismus weiter. „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“. Nicht nur die Generäle blieben. Obwohl es große Streiks für die Vergesellschaftung des Kohlebergbaus und der eisenschaffenden Industrie gab, weil sie in besonderen Maße den Krieg vorangetrieben und daran verdient hatten, wurde das große Kapital nicht angetastet. Das war die unvollendete Revolution.

Stattdessen wurden die Revolutionäre bekämpft, also diejenigen, die sich für das Ende von Krieg und für die Republik eingesetzt hatten. Im Frühjahr 1919 und 1920 nach dem Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Ludendorff Putsch wurden von Freikorps Tausende umgebracht. Dieser Putsch im Jahr 1920 war zwei Jahre nach der Revolution der erste Versuch, die ganze Republik zu beseitigen. 1920 konnte der Generalstreik dem noch ein Ende setzen. 13 Jahre später, gelang die Verteidigung der Republik nicht mehr. Alle organisierten Widerstandskräfte wurden zerschlagen. Hitler begann die Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges. Es sollte kein Massenwiderstand im Wege stehen wie im ersten Weltkrieg. Denn  diesen Widerstand betrachteten alle Reaktionäre als Grund für ihre  Niederlage im ersten Weltkrieg (Dolchstoßlegende). Hitler nannte immer wieder diejenigen, die die erste Republik und das Kriegsende durchgesetzt hatten, „Novemberverbrecher“.

Das war die Ausgangslage am 9. November 1938, als die  Reichspogromnacht den Boden für die systematische Vernichtung von Millionen Juden bereitete. Alle Kräfte, die sich dem hätten entgegenstellen könne, waren zerstört: Die Arbeiterparteien, die Gewerkschaften und alle anderen demokratische Organisationen und Parteien. 

Nachhaltigkeitsräte bilden!

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5. Februar 2021 von Benedikt Hopmann

Es ist an der Zeit, in den Regionen Nachhaltigkeitsräte zu bilden. Dieser sollte aus Gewerkschaftern, Mitgliedern von Umweltverbänden und Wissenschaftlern bestehen.

Begründung:

Es fällt auf, dass gegenwärtig von ganz unterschiedlichen Seiten Räte eingesetzt und gefordert werden. Das gilt insbesondere für die Bundesebene.

So gibt es etwa zur Transformation Beratungsgremien, die mit Experten und wichtigen Interessenorganisationen wie Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Umweltschutzverbänden besetzt werden. Es gibt zum Beispiel auch einen Nachhaltigkeitsrat, dem 15 Personen angehören und der die Regierung berät. Die Braunkohlekommission war ähnlich besetzt und bereitet Beschlüsse vor, die allerdings nicht ausgereicht haben und auch nur sehr eingeschränkt von der Regierung übernommen wurden. Es ist offensichtlich so, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist, allein auf sich gestellt bestimmte große gesellschaftliche Probleme wie Maßnahmen gegen den Klimawandel zu lösen.

Auch wurde über die Einrichtung eines Bürgerrates berichtet. Dabei geht es um folgendes Thema: Deutschlands Rolle in der Welt. Ich möchte die Zielsetzung dieses Bürgerrates so beschreiben: Wie kann unter dem Deckmantel humanitärer Ziele und der Verteidigung der Menschenrechte Deutschlands Rolle als imperialistische Macht in der Welt gestärkt werden? Es geht darum, für dieses Ziel eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewinnen.

Auf der anderen Seite werden erkennbar die Stimmen lauter, die solche Räte unter einer ganz anderen Zielsetzung fordern.

So forderte schon im Juli 2019 die IG Metall zusammen mit den Umweltschutzverbänden BUND und NABU regionale Gremien, in denen die Gewerkschaften zusammen mit den Umweltschutzverbänden vertreten sind und die Vorschläge für eine ökologische und soziale Transformation machen:

„Die anstehende Transformationsaufgabe ist so umfassend und anspruchsvoll, dass ein Akteur allein diese nicht stemmen kann. Wir haben uns daher entschieden, das Bündnis zwischen der wichtigsten Industriegewerkschaft und den größten deutschen Umweltverbänden zu suchen, um den Wandel hierzulande und in Europa zu gestalten. Wer die Transformation erfolgreich gestalten will, muss mehr tun als die Menschen nur mitzunehmen – sie müssen selbst Handelnde in eigener Sache sein. Mit unseren Organisationen, unseren viele regionalen Gruppen und unseren vielen Millionen Mitgliedern erheben wir unsere Stimme für eine ökologische, soziale und demokratische Transformation … Wir treiben den Wandel deshalb aktiv voran – indem wir einen breiten und gesellschaftlichen Dialog forcieren, in regionalen und bundesweiten Transformationsbeiräten und -bündnissen, auf Tagungen und Kongressen, mit lokalen Initiativen, aber auch in den Betrieben“.

Prof. Klaus Dörre schlägt Nachhaltigkeitsräte in den Regionen vor, die eigene Ziele für die ökologische und soziale Nachhaltigkeit festsetzen und einfordern und jährlich überprüfen, ob und in welchem Umfang diese Ziele, aber auch die schon staatlich definierten Ziele eingehalten werden.

Sicher ist die große Schwäche solcher Gremien, dass sie keine unmittelbare Durchsetzungsmacht haben. Daher kommt es darauf an, dass diese Räte nicht nur als Beratungsgremien gesehen, sondern auch als Gremien verstanden werden, über die außerparlamentarische Gegenmacht organisiert wird.

Der Begriff der Nachhaltigkeit wurde mit dem Bericht der Brundlandt Kommission und dem Weltgipfel in Rio de Janeiro (1992, UNO Konferenz über Umwelt und Entwicklung) eingeführt. Nachhaltigkeit erfordert danach, dass die Bedürfnisse der heutigen Generationen befriedigt werden sollen, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen einzuschränken, ihre Bedürfnisse zu befriedigen zu können. In Rio de Janeiro wurde die Agenda 21 beschlossen. Das sind Leitlinien für das 21. Jahrhundert zur nachhaltigen Entwicklung im ökonomischem, sozialen und ökologischen Bereich. Die Nachfolgeagenda (Agenda 2030) trat 2016 in Kraft. In Deutschland bestanden im Jahr 2006 in über 2000 Gemeinden Beschlüsse zur Erarbeitung einer lokalen Agenda 21. Schon oben wurde der Rat für Nachhaltigkeit auf Bundesebene genannt, der 15 Personen hat.

Kann mir gekündigt werden, wenn ich mich weigere, Beschäftigter des neuen Betreibers zu werden, und meinen Arbeitsvertrag mit der S-Bahn GmbH nicht aufgeben will?

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Nein, Widerspruch ist möglich – ohne die Gefahr gekündigt zu werden.

Im Einzelnen

Gegen die Übernahme durch einen neuen Betreiber können die Lokführer Widerspruch einlegen. Auch andere, deren Tätigkeit für den S-Bahn-Verkehrsdienst „unmittelbar erforderlich“ ist, können Widerspruch einlegen. Nach dem Widerspruch werden sie nicht von dem neuen Betreiber übernommen und  bleiben Beschäftigte der S-Bahn GmbH. Eine Kündigung müssen sie deswegen nicht befürchten; davor schützt sowohl ein Tarifvertrag der GdL als auch ein Tarifvertrag der EVG. Dieser Kündigungsschutz gilt auch für die Beschäftigte in Werkstätten der S-Bahn GmbH, auch wenn sie das Angebot des Landes Berlin nicht annehmen, Beschäftigte  in einer landeseigenen Beschäftigungsgesellschaft (LBG) zu werden.   

Es sollte aber auf keinen Fall alles auf diese eine Karte gesetzt werden. Es ist zu bedenken, dass Widerspruch erst eingelegt werden kann, wenn der Senat einem neuen Betreiber den Zuschlag gegeben und schon entsprechende Verträge mit dem neuen Betreiber unterzeichnet hat. Es ist völlig offen, ob massenhafte Widersprüche dazu führen werden, dass diese Verträge deswegen gekündigt werden. Der Widerstand muss früher beginnen. Sonst besteht die Gefahr, dass Mutlosigkeit um sich greift und die Kolleginnen und Kollegen auch nicht mehr die Kraft haben, zu widersprechen, wenn sie widersprechen können. 

Welche Möglichkeiten habe ich als Beschäftigte, meinen Unmut gegenüber den Plänen der Regierung kundzutun?

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Der Betriebsrat kann Betriebsversammlungen einberufen.

Im Einzelnen:

Der Betriebsrat kann Betriebsversammlungen einberufen, auf denen die Beschäftigten ihren Unmut gegenüber den Plänen der Regierung kundtun können. Den Beschäftigten kann auch noch einmal deutlich vor Augen geführt werden, was auf sie zu kommt und welche Alternativen es gibt. 

Der Betriebsrat kann eine, die In jedem Kalendervierteljahr hat eine Betriebs-versammlung stattzufinden, die der Betriebsrat einberufen muss[1]§ 43 Abs.1 Satz 1 BetrVG. Der Betriebsrat kann diese Betriebsversammlung auch in Form von mehreren Abteilungsversammlungen einberufen[2]„Arbeitnehmer organisatorich oder räumlich abgegrenzter Betriebsteile sind vom Betriebsrat als Abteilungsversammlungen zusammenzufassen, wenn dies für die Erörterung der besonderen belange der … Continue reading und er kann zusätzlich zu den zwingend vorgeschriebenen vierteljährlichen Betriebsversammlungen in jedem Halbjahr eine weitere Betriebsversammlung[3]§ 43 Abs.1 Satz  4 BetrVG.. einberufen. Auf diesen Versammlungen können die Ausschreibung und die drohenden Folgen ausführlich thematisiert werden.

 

References

References
1 § 43 Abs.1 Satz 1 BetrVG
2 „Arbeitnehmer organisatorich oder räumlich abgegrenzter Betriebsteile sind vom Betriebsrat als Abteilungsversammlungen zusammenzufassen, wenn dies für die Erörterung der besonderen belange der Arbeitnehmer erforderlich ist“ (§ 42 Abs. 2 Satz 1 BetrVG).
3 § 43 Abs.1 Satz  4 BetrVG..

Ist eine Vergabe des S-Bahn-Verkehrsbetriebes und der Instandhaltung der S-Bahn-Fahrzeuge ohne Ausschreibung möglich (so genannte Direktvergabe)?

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Ja, eine Direktvergabe ohne Ausschreibung ist möglich. Dazu muss die deutsche Bahn AG die Kontrolle über die S-Bahn GmbH an die Länder Berlin und Brandenburg zusammen oder an das Land Berlin alleine abgeben. Wer das nicht will, kommt auf Dauer an einer Ausschreibung mit all den drohenden schädlichen Folgen nicht vorbei.

Im Einzelnen:

Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) schließt für den Schienenpersonen-nahverkehr, also auch für den S-Bahn Betrieb, unter bestimmten Voraussetzungen eine  Direktvergabe nicht aus[1] S§ 131 Abs. 2 i.V.m. der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, auf die ausdrücklich verwiesen wird.: Das Land Berlin kann den Verkehrsdienst selbst erbringen (Eigenerbringung, z.B über einen Eigenbetrieb) oder an einen internen Betreiber direkt vergeben (sog. Inhouse-Vergabe, d.h. ohne Ausschreibung). Dieser interne Betreiber kann eine GmbH wie die S-Bahn GmbH sein. Das Land Berlin muss aber über diesen Betreiber eine ähnliche Kontrolle ausüben wie über seine eigenen Dienststellen (Kontrollkriterium)[2]Bei der Erfüllung des Kontrollkriteriums kommt es  auf den tatsächlichen Einfluss auf strategische Entscheidungen und einzelne Managemententscheidungen an, aber auch  auf den Umfang der … Continue reading. Bis hat das Land aber keine Anteile an der S-Bahn GmbH und an einer Kontrolle über die S-Bahn GmbH durch das Land Berlin fehlt es erst recht.   

Ganz sicher wäre die beste Lösung eine Kontrolle der S-Bahn GmbH durch das Land Berlin. Dafür sprechen all die Gründe, die ganz allgemein gegen einen Betreiberwechsel sprechen: Es müssten nicht neue Werkstätten errichtet werden, obwohl die S-Bahn GmbH über solche Werkstätten verfügt. Es stünde ohne weiteres das erfahrene Personal zur Verfügung, das bisher für den Betrieb und die Instandhaltung der S-Bahn sorgt. Es könnte so weit wie möglich die Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn fortgeführt werden. Die bisherige Tarifbindung würde weiter gelten. Auf der anderen Seite steht zu viel auf dem Spiel,  wenn die Deutsche Bahn AG sich weigert, dem Land Berlin die Kontrolle über und Anteile an der S-Bahn GmbH einzuräumen. Dann bleibt als Alternative auf Dauer nur die Ausschreibung und das heißt:  Drohende Privatisierung, drohende Zerschlagung der S-Bahn und drohender Verlust der bisherigen Tarifbindung.   

Um Anteile an der S-Bahn GmbH und die Kontrolle über die S-Bahn GmbH zu erlangen, ist das Land Berlin auf die Zustimmung der Deutschen Bahn AG und der Bundespolitiker angewiesen, die im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzen. Das Land Berlin muss sich für den Fall vorbereiten, dass die Deutsche Bahn AG diese Zustimmung verweigert und es damit auf eine Ausschreibung ankommen lässt und auch eine Privatisierung in Kauf nimmt. Dann hat das Land Berlin keine andere Wahl, als einen Eigenbetrieb oder ein landeseignes Unternehmen, etwa in der Rechtsform der AöR, aufzubauen, an das das Land Berlin den Betrieb der S-Bahn  und die Instandhaltung der landeseigenen Fahrzeuge direkt vergibt. Das Land Berlin muss sich frühzeitig darauf vorbereiten. Allerdings nur unter Bindung an alle Tarifverträge, an die die S-Bahn GmbH gebunden ist. Das muss immer wieder hervorgehoben werden; denn das Land Berlin hat in anderen Fällen gerade auch in dieser Frage vollkommen versagt (siehe die Ausgründungen in den Krankenhäusern und bei der BVG).

Auch gegenüber dem Land Brandenburg hat das Land Berlin in einer verhältnismäßig starken Position. Das Land Berlin hat rein rechtlich die Möglichkeit, den S-Bahn Betrieb auch dann selbst durchzuführen bzw. an einen internen Betreiber zu vergeben, wenn das Land Brandenburg das ablehnt. Es kann ohne Beteiligung des Landes Brandenburg den Verkehr der S-Bahn betreiben. Dass einige S-Bahn-Linien bis in das Brandenburger Land hineinreichen, lässt das Gesetz ausdrücklich zu[3]§ 131 Abs.2 i.Vm. Art. 5 Abs. 2 lit a. VO (EG) Nr. 1370/2007 Art. 5 Abs. 2 lit b. Siehe auch: Säcker- Bremer/Helmstäter Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht. München … Continue reading.

Über eine Verlängerung der Übergangsverträge , die das Land Berlin schon jetzt mit der S-Bahn GmbH abgeschlossen hat ( https://www.berlin.de/senuvk/verkehr/politik_planung/oepnv/s_bahn/ )

, kann es Zeit gewinnen, alle Vorbereitungen für einen landeseigenen Betrieb zu treffen.


References

References
1 S§ 131 Abs. 2 i.V.m. der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, auf die ausdrücklich verwiesen wird.
2 Bei der Erfüllung des Kontrollkriteriums kommt es  auf den tatsächlichen Einfluss auf strategische Entscheidungen und einzelne Managemententscheidungen an, aber auch  auf den Umfang der Vertretung in den Aufsichtsgremien, die entsprechenden Bestimmungen in der Satzung und das Vorhandensein von Eigentumsrechten, so dass es am Ende auf eine Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände hinausläuft  (Säcker- Bremer/Helmstäter Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht. München 2018   2. Auflage GWB § 131 Rn. 14)) und  mehr als 80 Prozent der Tätigkeiten müssen vom Land Berlin in Auftrag gegeben werden (sog. Tätigkeitskriterium). Eine Beteiligung privater Unternehmen an diesem Betreiber (sog. Beteiligungskriterium) schließt das Gesetz nicht aus; es enthält nicht einmal eine Begrenzung für die Beteiligung Privater (( Säcker- Bremer/Helmstäter Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht. München 2018   2. Auflage GWB § 131 Rn. 14; dort wird auf den Gegensatz von § 131 Abs.2 i.Vm. Art. 5 Abs. 2 lit a. VO (EG) Nr. 1370/2007 (sog. PersonenverkehrsVO)  zu § 108 Abs 1 GWB hingewiesen, wo in Ziff. 3 eine Begrenzung privater Beteiligungen geregelt ist.
3 § 131 Abs.2 i.Vm. Art. 5 Abs. 2 lit a. VO (EG) Nr. 1370/2007 Art. 5 Abs. 2 lit b. Siehe auch: Säcker- Bremer/Helmstäter Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht. München 2018   2. Auflage GWB § 131 Rn. 15; dort wird auf den Gegensatz von § 131 Abs.2 i.Vm. Art. 5 Abs. 2 lit a. VO (EG) Nr. 1370/2007 (sog. PersonenverkehrsVO)  zu § 108 Abs 1 GWB hingewiesen, wo in Ziff. 3 eine Begrenzung privater Beteiligungen geregelt ist.