4. Frage des EGMR

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16. Februar 2021 von benhop

Hat der Beschwerdeführer, soweit es die Umstände zulassen, überprüft, ob die offenbarten Informationen korrekt und zuverlässig sind? 

Hier geht es darum, dass Dr. Gawlik nicht Einsicht in die Papier-Patienten-Akten nahm, sondern sich bei seiner Strafanzeige nur auf die elektronischen Patientenakten stützte.

Mit der Behauptung, dass für Dr. Gawlik nach Einsichtnahme in die Papierakten „von vornherein“ die Unhaltbarkeit seiner Vorwürfe erkennbar gewesen wäre, ist nicht vereinbar,

  • dass die Arbeitgeberin die Vorwürfe durch einen Gutachter prüfen ließ, bevor sie Dr. Gawlik kündigte;
  • dass sich der Untersuchungsrichter veranlasst sah, von einem gerichtlich bestellten Gutachter die Vorwürfe prüfen zu lassen;
  • dass die Sicherstellung durch die Staatsanwakltschaft beim Landesspital einen Anfangsverdacht voraussetzt .

Es war eher umgekehrt: Hätte Dr. Gawlik Einsicht in die Physische Patientenakte genommen, so hätte er erst recht eine Strafanzeige gestellt, weil alle konkreten Anhaltspunkte, die ihm Anlass für eine Strafanzeige waren, in den Papierakten nur bestätigt wurden.

Zudem war Dr. Gawlik Einsicht in die physischen Patientenakten nicht „jederzeit möglich und zumutbar“, wie die Beschwerdegegnerin meint. Denn Dr. Gawlik musste fürchten, dass der Arbeitgeberin  Recherchen in den Papierakten nicht verborgen geblieben wären und zu seiner fristlosen Kündigung, jedenfalls aber zu seiner Beurlaubung gleich nach der polizeilichen Unterrichtung der Arbeitgeberin am 18.09.2014 geführt hätten; denn die Einsichtnahme  über die Vorwürfe im Archiv wird protokolliert; wenn die Akte noch nicht abgerechnet ist, muss der Beschwerdeführer die Akte suchen bzw. suchen lassen. 

Für den Rechtsmediziner Prof. Dr. Püschel handelte Dr. Gawlik nachvollziehbar.

Hellhörig geworden war Dr. Gawlikdurch die Formulierung in dem (elektronischen) Austrittsbericht des verstorbenen Patienten ***…***: „Unter aufsteigenden Morphindosen ist der Patient schlussendlich am 22.08.2014 in den frühen Morgenstunden verstorben“. Eine Einsichtnahme in die Papierakten hätte ihn in seinem Verdacht eher bestärkt; denn in anderen der von Dr. Gawlik mitgeteilten Fällen finden sich in den Papierakten ähnliche Formulierungen („Limit nach oben offen“ oder „Bei Bedarf durch die Pflege zu erhöhen“.

Dr. Gawlik gab folgende Indizien für seinen Verdacht aktiver Sterbehilfe an (siehe 10.):

  1. die Formulierung „supportive Therapie“; diese Formulierung kann als Synonym gelesen werden für eine Hilfe zu sterben. „Aus der Tatsache der Morphinerhöhung ohne Schmerz und entsprechender Formulierung“ erkenne er bei ***…*** eine aktive Sterbehilfe
  2. Morphinerhöhung auch ohne Schmerzen
  3. Medikamentenkombinationen (Morphin mit Haldol oder Valium)
  4. Todeseintritt 1 – 2 Tage nach Einsatz eines Morphin Perfusors; er gab in einem Fall an, dass am 14.8. ein Morphin-Perfusor installiert wurde und die Patientin am 20.8. verstarb. Dazu im Einzelnen:

Diese Indizien hatte Dr. Gawlik ausschließlich den elektronischen Akten entnommen.  

Zu 1): Nach Meinung von Dr. Gawlik kann „supportive Therapie“ als Synonym gelesen werden für eine Hilfe zu sterben. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ein Blick in die Papierakte den Beschwerdeführer zu einer anderen Auslegung hätte veranlassen können.

Zu 2): Aus „der Tatsache der Morphinerhöhung ohne Schmerz und entsprechender Formulierung“ (gemeint ist die Formulierung „supportive Therapie“) erkannte Dr. Gawlik der Beschwerdeführer aktive Sterbehilfe. Andere halten die Gabe von Morphin gegen Unruhe und Atemnot auch ohne Schmerzen des Patienten für vertretbar hält.

Zu 3): Unterschiedlichen Auffassungen exisitieren auch in der Bewertung der Kombination von Morphin mit Haldol oder Valium. Während die Verabreichung solcher Kombinationen den Verdacht von Dr. Gawlik des Beschwerdeführers verstärkte, hielten andere solche Kombinationen für zulässig.

Zu 4): Dr. Gawlik war aufgefallen und das war für ihn ganz entscheidend, dass nach der Installierung eines Morphin-Perfusors die Patienten nur noch wenige Tage lebten, häufig nur noch ein bis zwei Tage.

In den Papierakten wird nur in einem der zehn von ihm angezeigten Fällen eine niedrigere maximale Morphindosis als die vom Beschwerdeführer genannten Dosen angegeben, in einigen Fällen ist die Dosis exorbitant höher (siehe 21. und Anlage 117 = Anlage II).    

Prof. Püschel nennt u.a. den konkreten Fall einer ärztlich zu verantwortenden Vergiftung durch eine Opiatintoxikation und kommt  abschließend zum Ergebnis: „Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Hinweise auf eine Opiat-Überdosierung bewusst vermieden wurden, indem die Dokumentation der Vitalparameter (bewusst!) frühzeitig abgebrochen wurde.“ (siehe 50. 2. Absatz).

Schon allein dieser Fall rechtfertigt eine Strafanzeige. 

In seiner gutachterlichen Stellungnahme erklärt Prof. Dr. Püschel u.a.:

In einem Fall ergibt sich für mich (betreffend ….), dass hier die klinische Diagnose einer iatrogenen Opiatintoxikation gestellt wurde“. ‚Opiatintoxikation‘ heißt: Vergiftung durch Opioid-Überdosis. ‚Iatrogen‘ heißt: durch ärztliche Einwirkung entstanden. Prof. Dr. Püschel: „Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Hinweise auf eine Opiat-Überdosierung bewusst vermieden wurden, indem die Dokumentation der Vitalparameter (bewusst!) frühzeitig abgebrochen wurde“.