Duygu Kaya war an einem verbandsfreien Streik beim Lieferdienst Gorillas beteiligt und wurde deswegen gekündigt. Am 9. November hielt sie eine Rede zu diesem Thema auf einer Veranstaltung, die in jedem Jahr zum Jahrestag der Novemberrevolution von der Koordination „9. November 1918 – die unvollendete Revolution“ durchgeführt wird. Die Rede kann man sich hier ansehen und anhören. Hier die Rede in vollem Wortlaut:
Mein Name ist Duygu Kaya aus Istanbul. Ich bin 35 Jahre alt. Ich bin Lehrerin, aber ich arbeite in prekären Arbeitsverhältnissen, da meine Diplome nicht anerkannt werden. Als Quereinsteigerin werde ich hoffentlich bald wieder als Lehrerin arbeiten.
Im Sommer 2021, während ich einen Deutschkurs besuchte, lief das ALG 1 aus, und ich musste einen Sommerjob finden, um weiter zur Sprachschule gehen zu können. Da habe ich bei Lieferdienstunternehmen Gorillas angefangen. Ich habe den „illegalen“ Oktoberstreik mitorganisiert und wurde dafür gekündigt.
Wir müssen verstehen, dass Unternehmen wie Gorillas nur auf Wachstum aus sind. Die Ausbeutung ist ein natürliches Ergebnis ihrer Nachlässigkeit gegenüber ihren ArbeiterInnen: Denn wir sind nie in ihrem Blickfeld. Denn dem Kleinkapital geht es nicht um nachhaltigen Profit oder Selbsterhaltung oder gar um Arbeitsrechte. Es konzentriert sich einfach darauf, sich fortzubewegen, zu expandieren, einen Bedarf in der Gesellschaft zu schaffen, und wenn dies erledigt ist, weiterzuziehen und ein neues Projekt zu schaffen. Bei dieser Geschwindigkeit werden Arbeitsrechte und alles, was mit Menschlichkeit und Würde zu tun hat, völlig außer Acht gelassen. Es ist ein durstiges Monster, das ohne Unterbrechung um sein Überleben kämpft. Die schönste Form des wilden Kapitalismus.
Daher mögen die folgenden Probleme an diesen Arbeitsplätzen für einige von Ihnen unrealistisch und sogar anachronistisch klingen, als ob sie aus einem anderen Jahrhundert stammen würden.
Die Gründe für die verbandsfreien Streiks bei Gorillas waren jedoch alle dieselben:
- Nicht pünktliche und vollständige Bezahlung
- Willkürliche und unrechtmäßige Kündigungen am letzten Tag der Probezeit
- Instabile Zeitplanung, die unser Bildungs- und Privatleben außer Acht lässt
- Ständiges Zerschlagen von politischer Organisierung, Unionbusting
- Rücksichtslose Verletzung unserer Würde
All dies sind keine Themen, die in Tarifverhandlungen diskutiert werden. Tarifverträge sind ein Luxus für diejenigen, deren Arbeit nicht über dem Existenzminimum liegt.
Die Dringlichkeit unserer Bedürfnisse ließ ein Medium entstehen, das auf die Dringlichkeit selbst reagieren würde. Dieses Mittel waren die so genannten „wilden Streiks“. Nach 5 Tagen illegalen Streiks wurden wir alle entlassen, entweder durch Anrufe oder durch Kündigungsschreiben. Denn was wir taten, war wegen einer Rechtsprechung illegal. Als MigrantInnen und ArbeiterInnen wurden wir weiter kriminalisiert. Dies bedeutete, dass unser Streikrecht durch das Gesetz selbst illegal gemacht wurde.
Während wir diese Methode des selbstorganisierten Widerstands praktizierten, waren wir auch mit einer langen Geschichte der Repression konfrontiert. In den 1970er Jahren gab es Hunderte von wilden Streiks. Einige von ihnen endeten sogar brutal: man denke an Ford im Jahr `73. Was war der Grund für die Polizei, den Betriebsrat und die IG Metall, das gewaltsame Vorgehen zu rechtfertigen? Dass diese Streiks illegal waren. Aber hatten sie Recht?
Wir müssen noch weiter zurückgehen, ins Jahr 53, 20 Jahre vor Ford.
Da war er. Der Ursprung der Illegalität.
Ein NAZI-Richter namens Hans Carl Nipperdey gab sein Urteil ab und erklärte politische und verbandsfreie Streiks für illegal. Der so genannte Zeitungsstreik gegen die Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, ein bedeutender politischer Streik nach dem Zweiten Weltkrieg, führte dazu, dass die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), also die Bosse des gesamten Kapitals, vor Gericht auf Entschädigung klagten. Der BDA veröffentlichte ein Gutachten von Nipperdey und von da an waren alle Streiks verboten, die nicht von den Gewerkschaften ausgerufen wurden und die nicht tarifvertragliche Ziele hatten. Dazu gehörten politische Streiks, Generalstreiks und Streiks, die von den ArbeiterInnen selbst ausgerufen und organisiert wurden.
Heute sind wir wegen der Novemberrevolution hier.
Wir nennen sie nicht umsonst unvollendet. Sie hat immer noch so viel Relevanz, mit ihren zeitlosen Forderungen nach
- Demokratie auch in den Betrieben
- dem Ende von Ausbeutung, Militarismus und Krieg
Was hat sich bis heute geändert?
Kann man von Demokratie in den Betrieben sprechen, wo selbst die uns zugestandenen Rechte, wie die Einrichtung eines Betriebsrats, den kreativen und ungesetzlichen neoliberalen Zerschlagungstaktiken unterworfen sind?
Wie viele andere Dinge an diesen Arbeitsplätzen ist auch die Demokratie auf einem Niveau, auf dem es um ihr Überleben geht. Ende der traditionellen Sklaverei, es lebe die moderne Sklaverei, die unter dem Deckmantel von 6-monatigen working holiday visas, flexiblen Arbeitszeiten, Home-Office-Paradiesen, dunklen Läden, der Verlust des Arbeitsraumes und der völligen Isolierung der ohnehin schon atomisierten Arbeiterklasse daher kommt….
Können wir von einer Welt sprechen, in der die Gesellschaften entmilitarisiert sind und in der wir Brot und Rosen statt Kugeln teilen? Es ist noch nicht lange her, erst einen Monat: Der 7. Oktober markiert ein sehr wichtiges Datum in der modernen Geschichte, das zeigt, dass der Zivilmord kein absoluter Begriff ist, sondern relativiert und gerechtfertigt werden kann. Die westliche Linke hat es versäumt, eine gemeinsame internationalistische Haltung aufzubauen:
- gegen die Brutalität des Hamas-Angriffs
- und als Antwort auf den Versuch der israelischen Regierung, den jahrzehntelangen Terror gegen die palästinensische Zivilbevölkerung als Völkermord fortzusetzen.
Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen: Wenn die Menschen in Deutschland in einem Generalstreik gegen dieses Grauen auf die Straße gegangen wären, würden wir dann jetzt über einen Waffenstillstand und Friedensgespräche sprechen, statt über ein kollektives Scheitern?
Nun, selbst in meiner eigenen politischen Gruppe, der Kampagne Streikrecht, gibt es Leute, die meinen, das sei für uns irrelevant. Anscheinend kann man in der heutigen postmodernen Welt alles relativieren: Wir können gegen den Krieg in einem Land streiken, aber nicht gegen den Versuch eines Völkermords in einem anderen. Die Novemberrevolution zu erinnern ist nicht notwendig, um einen anonymen Feind zu besiegen, sondern um die Linke selbst zu erschüttern und wieder zur Vernunft zu bringen.
Ich lasse die angebliche Komplexität der Palästina-Frage beiseite: Die deutsche Linke flüchtet sich gerne in das Wort „komplex“, wenn sie einfach nicht den Mut hat, die israelische Regierung und den Zivilmord zu verurteilen. Von der Komplexität abgesehen, würden die Menschen in Deutschland immer noch auf die Straße gehen, wenn politische Streiks nicht verboten wären? Ich bezweifle es. Leider hat sich in dieser Gesellschaft eine Kultur des Gehorsams tief eingegraben.
Mein lieber Anwalt Benedikt Hopmann und ich haben oft an Veranstaltungen teilgenommen, bei denen wir das Publikum fragten: „Warum können wir nicht wie in Frankreich streiken?“ Und die meisten Antworten, die wir von unserem „linken“ Publikum erhielten, waren, dass es in Frankreich eine andere Kultur gibt.
An dieser Stelle wird das Bild düster.
Das Eingeständnis in dieser Antwort war vielschichtig:
Unsere linken Teilnehmende wussten nicht, dass es verboten war, weil sie nie versucht haben, einen politischen Streik zu führen. Mit „sie“ meine ich uns alle, die Masse.
Sie sagten, es sei eine andere Kultur, weil sie insgeheim glaubten, dass der Staat in dieser Gesellschaft zu einer DNA geworden sei und die Arbeit eine Pflicht und nicht ihre Macht sei.
Also, Freunde und Freundinnen,
die Novemberrevolution ist definitiv unvollendet.
Wir sind als Gesellschaft in einer schlechteren Situation als vor 100 Jahren, was das politische Bewusstsein angeht.
Es gibt keinen Berlinstreik von 1916 mehr.
Es gibt keinen Januarstreik von 1918 mehr.
Es gibt keinen Generalstreik von 1920 mehr.
Denn der Geist und das Gewissen dieser ArbeiterInnen sind längst vergangen.
Es gibt auch keinen Grund, die Gorillastreiks zu romantisieren.
Es war eine Gruppe von migrantischen ArbeiterInnen, zu denen auch ich gehörte, deren prekäre Lebenssituation das von den NAZIs geerbte Streikrecht entstaubte, weil es keine anderen Mittel gab, um die Forderungen durchzusetzen.
Es gibt auch keinen Grund, den DGB scharf zu kritisieren. In seiner jetzigen Struktur ist er nicht mehr als ein Vermittler. Deshalb wäre es naiv zu erwarten, dass er seine vorteilhafte Position aufgibt und an unserer Seite steht, während wir verbandsfrei streiken. Warum sollte DGB seine Macht als Monopol aufgeben?
Lange Rede, kurzer Sinn:
Wir brauchen eine innere Revolution, bevor wir große Worte über die Veränderung der Welt machen.
Ich habe erwähnt, dass Benedikt Hopmann mein Anwalt ist.
Wir sind vor Gericht gegen Gorillas. Unser Argument ist, dass kein Arbeiter oder Arbeiterin wegen eines Streiks entlassen werden kann. Kein Streik kann illegal sein. Wir haben bereits die ersten beiden Instanzen verloren und jetzt kämpfen gegen ein Verbot an Revision. Unser Weg ist lang und bisweilen schmerzhaft.
Der Gerichtsfall ist unglaublich wichtig, denn wir haben die Chance, verbandsfreie Streiks zu legalisieren. Und vielleicht sogar politische Streiks. Aber was wird sich ändern, selbst wenn wir es wieder legalisiert bekommen? Was bedeutet ein umfassendes Streikrecht für eine Gesellschaft, die bereits den Widerstandsgeist verloren hat, Arbeit als Druckmittel gegen Ausbeutung, Militarismus, Krieg und Staatsterror einzusetzen?
Ich überlasse es jedem von uns, diese Frage zu beantworten.
Danke fürs Zuhören.