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Streit in der Frankfurter Rundschau

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15. Oktober 2020 von benhop

Nazi-Kundgebungen verbieten?

Offensichtlich sah der Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem nach dem beispiellosen Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht von NRW um die Demostrationsfreiheit für Neonazis die Notwendigkeit, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verteidigen. Dazu reichte ihm die Veröffentlichung der Begründung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht. Er veröffentlichte am 11. Juli 2002 in der Frankfurter Rundschau über eine ganze Seite einen Artikel  mit der Überschrift „Die Luftröhre der Demokratie“. „Luftröhre der Demokratie“ – das war eine Formulierung des Politologen Narr, um Bedeutung und Funktion der Demonstrationsfreiheit zu veranschaulichen. Die Unterüberschrift des Artikels des Bundesverfassungsrichters Hoffmann-Riem lautete: „Der Rechtsstaat ist stark genug, um auch die Demonstrationsfreiheit für Neonazis auszuhalten“. Damit war auch schon die Kernaussage des Artikels zusammengefasst. Für die Demonstrationsfreiheit von Rechtsextremisten soll nicht gelten: ‘Wehret den Anfängen!’, sondern: ‘Das muss der Rechtsstaat aushalten!’

Hoffmann-Riem stellt zunächst fest: „Auch fünfzig Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges und der Nazidiktatur lässt uns der Rechtsextremismus nicht los – nicht in der Erinnerung an die Vergangenheit und nicht als Erfahrung in der Gegenwart. Besonders sichtbar tragen Rechtsextremisten ihre Anschauungen in die Öffentlichkeit in Form von Versammlungen. Viele Bürger verstehen nicht, dass sie auch den Schutz durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit genießen“. 

Hoffmann-Riem doziert: „Die Versammlungsfreiheit ist … auch ein Schutzauftrag an den Staat, konkret an Polizei und Gerichte … Verbietet die Versammlungsbehörde eine Versammlung oder verhängt sie belastende Auflagen für deren Durchführung, können die Initiatoren Rechtsschutz beantragen …“.  

Dann macht Hoffmann-Riem deutlich, in welchem Ausmaß  Rechtsextremisten Rechtsschutz beantragen und Rechtsschutz bekommen: „Anträge auf Eilrechtsschutz für Demonstrationen  haben in jüngster Zeit in großer Zahl Rechtsextremisten gestellt. …  Jedes zweite oder dritte Wochenende ist vom Bundesverfassungsgericht über einen Eilantrag von Rechtsextremisten gegen ein behördliches Versammlungsverbot zu entscheiden …  Etwa 30 Prozent solcher Anträge in Versammlungssachen hatten in jüngster Zeit Erfolg. Demgegenüber ist die Erfolgsquote in anderen Verfahren viel geringer, sie beträgt bei Verfassungsbeschwerden zwischen 2 und 3 Prozent“.

Hoffmann-Riem macht sich Gedanken darüber, warum das Bundesverfassungsgericht so häufig mit solchen Anträgen auf Eilrechtsschutz von Rechtsextremisten zu tun hat: „Die Rechtsanwender in Behörden und Gerichten sind vermutlich fest davon überzeugt, sich für eine gute Sache einzusetzen und möglicherweise handeln viele von ihnen unter dem Eindruck des Satzes: „Hätten doch auch die Juristen in der Nazizeit dem Rechtsextremismus widerstanden“. Vermutlich schütteln viele von ihnen den Kopf über das Bundesverfassungsgericht oder halten es zumindest für politisch naiv, wenn es Neonazis Eilrechtsschutz gewährt“.                 

Darauf antwortet Hoffmann-Riem mit der Autorität des Bundesverfassungsrichters apodiktisch und gibt dabei die Auslegung des Grundgesetzes wieder, wie sie vom Bundesverfassungsgericht vertreten wird: „Auf die Frage, ob wir den Schutz des Rechts mit dem Ziel verweigern dürfen, Rechtsextremisten die Äußerungen ihrer Auffassungen unmöglich zu machen, antwortet das Grundgesetz: „Nein“. … Die Garantien des Rechtsstaats dürfen zu keiner Zeit einem  politischen Trend oder einem politisch wünschenswerten Anliegen geopfert werden“.  Die Rechtsanwender in Behörden und Gerichten, die Demonstrationen von Rechtsextremisten verbieten, folgen also nur einem „politischen Trend“ oder einem „wünschenswerten Anliegen“, denen die Garantien des Rechtsstaats zu keiner Zeit „geopfert“ werden dürfen. 

Damit verabschiedet sich das Bundesverfassungsgericht aus der Bekämpfung rechtsextremistische Äußerungen. Die politische Auseinandersetzung mit den Rechtsextremisten ist dann nur noch Aufgabe der Zivilgesellschaft: „Deshalb ist es wichtig, dass die Gesellschaft und ihre Mitglieder aktiv werden, für die Werte der rechtsstaatlichen Demokratie werben und sich kritisch mit denen auseinander setzen, die ein Zurück in den Unrechtsstaat propagieren.“

Hoffmann-Riem feiert als einen Erfolg, dass es Schutzauftrag der Polizei ist, genehmigte Demonstration der Rechtsextremisten zu verteidigen und damit zwangsläufig in Konflikt mit Antifaschisten getrieben zu werden: „Eine aus rechtsstaatlicher Sicht erfreuliche Folge der verfassungsgerichtlichen Interventionen war, dass die Behörden und Gerichte ihre Praxis umgestellt haben und sich offenbar an den vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Grundsätzen orientieren. Hier wird deutlich, dass der Rechtsstaat der Bundesrepublik funktioniert.  Zu den Errungenschaften des Rechtsstaats gehört, dass er inhaltlich neutral ist … Im Umfeld der Studentenbewegung hatten insbesondere politische „Linke“ um den Schutz der Freiheit zu kämpfen – teilweise müssen sie es immer noch. In der jüngsten Zeit ist aber vorrangig die Versammlungsfreiheit politisch „Rechter“ gefährdet. Ein Grundrecht darf seine Fahne nicht nach dem politischen Wind richten. Dies gilt erst recht für ein Grundrecht, das besonders für Minderheiten wichtig ist, also für diejenigen, die nicht dem Mainstream folgen“.     

Statt „Polizisten – schützen Faschisten“ sollte es genauer heißen: „Das Bundesverfassungsgericht schützt Faschisten“. Das reimt sich zwar nicht so gut, benennt aber präziser die Verantwortlichen. 

Die Stellungnahme des Präsidenten des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG NRW), Dr. Bertrams, soll hier ebenfalls ausführlich wieder gegeben werden[1]https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilung/01_archiv/2002/25_020715/index.php; siehe auch https://nrw-archiv.vvn-bda.de/texte/0103_njw.htm:

Bertrams bezieht sich zunächst auf die bemerkenswerte Aussage des Bundesverfassungsrichters Hoffmann-Riem, dass infolge der “Intervention” des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Behörden und Gerichte ihre Praxis, Neonazi – Demonstrationen zu verbieten, umgestellt hätten und sich nunmehr an den vom BVerfG konkretisierten Grundsätzen orientierten, denen zufolge auch Neonazis grundsätzlich das Recht zustehe, öffentlich zu demonstrieren. Dazu erklärt Dr. Michael Bertrams, das größte bundesrepublikanische Oberverwaltungsgericht, das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht unter seinem Vorsitz, wolle dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht folgen. Die Begründung Dr. Bertrams:

„Mit Blick auf das öffentliche Auftreten von Neonazis ist bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Normen des Grundgesetzes zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz in weiten Teilen  … als eine Antwort auf die Beseitigung der Weimarer Demokratie durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu verstehen ist. Das Grundgesetz ist mit anderen Worten der Gegenentwurf zur Barbarei der Nazis. Von zentraler Bedeutung ist dabei neben der grundgesetzlich konstituierten Friedenspflicht  … der die gesamte Rechtsordnung prägende Aspekt der Menschenwürde …. Angesichts dieser Verfassungswerte gewinnt die Tatsache, dass vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte durch das öffentliche Auftreten von Neonazis und das Verbreiten entsprechenden Gedankenguts grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen – zumal der in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger – in erheblicher Weise verletzt werden, besonderes Gewicht.

Soweit es beim Problem der Demonstrationsfreiheit für Neonazis um das Grundrecht der Meinungsfreiheit …  geht, schützt dieses zwar auch und gerade die “politisch missliebige Meinung”. Bei dem Gedankengut von Neonazis geht es aber nicht um irgendeine “politisch missliebige Meinung”, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt hat. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit als Kernpunkte neonazistischer Ideologie sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar sind. Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der es rechtfertigt, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, inhaltlich zu begrenzen. Das historische Gedächtnis der Verfassung wird m.a.W. übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut als politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstuft.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nach der Rechtsprechung des OVG NRW eine rechtsextremistische Ideologie wie der Nationalsozialismus nicht – auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts – legitimieren; bei der Auslegung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 GG) ist deshalb dieser verfassungsimmanenten Beschränkung auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen Rechnung zu tragen, so dass Versammlungen, die durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, … verboten werden können. …

Als dem maßgeblichen Hüter der Verfassung obliegt dem Bundesverfassungsgericht insoweit eine besondere Verantwortung.

Hoffmann-Riem ignoriert letztlich die Renaissance des Rechtsextremismus im wiedervereinten Deutschland. Dieses Phänomen wird jedenfalls verharmlost und bagatellisiert, wenn er Neonazis unkommentiert dem Kreis beliebiger “Minderheiten” zuordnet und deren Programmatik undifferenziert in eine Reihe stellt mit anderen am Prozess der demokratischen Willensbildung teilnehmenden politisch unerwünschten, missliebigen Meinungen.

….. Für den demokratischen Willensbildungsprozess sind die vom Grundgesetz geächteten Anschauungen von Neonazis ohne Bedeutung. Speziell diesen Anschauungen hat das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Andersdenkenden ist ein hohes Gut. Diese Freiheit muss in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes aber dort ihre Grenze finden, wo der Versuch unternommen wird, das menschenverachtende Gedankengut des Dritten Reiches wiederzubeleben. Handelt es sich bei der Demonstrationsfreiheit um die “Luftröhre der Demokratie”, dann gehen – um im Bild zu bleiben – Neonazis der Demokratie an die Gurgel. Eine wehrhafte Demokratie muss dem entgegentreten und dafür sorgen, dass ihr nicht irgendwann von geschichtsblinden Barbaren die Luft zum Atmen genommen wird“ [2]https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilung/01_archiv/2002/25_020715/index.php; siehe auch https://nrw-archiv.vvn-bda.de/texte/0103_njw.htm.