Hier werden wichtige Informationen zu Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta (ESC) veröffentlicht.
Es wird der Wortlaut des Art. 6 ESC wiedergegeben, wobei die Garantien zum Streikrecht fett gedruckt sind (Art. 6 Nr. 4 ESC). Die Europäische Sozialcharta (ESC) wurde überarbeitet und nach 20 Jahren stimmte auch der Bundestag dieser revidierten Fassung RESC zu.
Außerdem werden im Folgenden die Berichte („conclusions“) des zuständigen Sachverständigenausschusses EASR aus den Jahren 2014 und 2019 in vollem Wortlaut dokumentiert. Dort finden sich unter anderem kritische Aussagen zur Einschränkung des Streikrechts in Deutschland,
- weil nur Gewerkschaften zum Streik aufrufen oder ihn später übernehmen dürfen,
- weil die Streikziele auf tariflich regelbare Ziele begrenzt werden und
- weil alle Beamte in Deutschland nicht streiken dürfen.
Der Sachverständigenausschuss ist das zuständige Gremium, das die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta kontrolliert (Teil IV Art. C RESC i.V.m. Art. 25 ff. ESC).
Wenn diese Berichte nicht von den Staaten beachtet werden, die die ESC unterzeichnet haben, entsteht eine deutsche, spanische, englische französische Sozialcharta. Die europäische Sozialcharta würde nicht mehr existieren.
Inhalt:
Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta
Art. 6 der Europäischen Sozialcharta lautet:
Artikel 6 – Das Recht auf Kollektivverhandlungen
Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien:
- gemeinsame Beratungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu fördern;
- Verfahren für freiwillige Verhandlungen zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberorganisationen einerseits und Arbeitnehmerorganisationen andererseits zu fördern, soweit dies notwendig und zweckmäßig ist, mit dem Ziele, die Beschäftigungsbedingungen durch Gesamtarbeitsverträge zu regeln;
- die Einrichtung und die Benutzung geeigneter Vermittlungs- und freiwilliger Schlichtungsverfahren zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten zu fördern;
und anerkennen:
- das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.
Hinweis: Wir haben den für das Streikrecht maßgebenden Text fett hervorgehoben.
Bericht des Sachverständigenausschusses des Jahres 2022 über die Einhaltung des Streikrechts nach Art. 6 Nr. 4 ESC durch Deutschland
Bericht des Sachverständigenausschusses des Jahres 2022 über die Einhaltung von Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta durch Deutschland:
„Der Ausschuss nimmt die in dem von Deutschland vorgelegten Bericht enthaltenen Informationen und die Hinweise des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zur Kenntnis. …
Der Ausschuss erinnert … daran, dass er in der Allgemeinen Einführung zu den Schlussfolgerungen XXI-3 (2018) eine allgemeine Frage nach Artikel 6 Absatz 4 gestellt und die Staaten gebeten hat, im nächsten Bericht Angaben zu machen, Informationen über das Streikrecht von Angehörigen der Polizei und etwaige Beschränkungen vorzulegen.
In seiner vorherigen Schlussfolgerung (Schlussfolgerungen XXI-3 (2018)) war der Ausschuss der Ansicht, dass die Situation in Deutschland nicht im Einklang mit Artikel 6 Nr. 4 der Charta von 1961 stand, weil
- das Verbot aller Streiks, die nicht auf die Erzielung eines Tarifvertrags abzielen eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellte;
- die Anforderungen, die eine Gruppe von Arbeitnehmern erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die eine Gewerkschaft zu gründen, die die Bedingungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellte;
- die Verweigerung des Streikrechtes für alle Beamten, unabhängig davon, ob sie eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellte.
Die Bewertung des Ausschusses wird sich daher auf die in dem Bericht enthaltenen Informationen beziehen als Antwort auf die Feststellung der Nichtübereinstimmung und auf die allgemeine Frage.
Recht auf kollektive Maßnahmen
Definition und zulässige Ziele
In Bezug auf den ersten Grund der Nichtübereinstimmung (Streiks sind nur dann zulässig, wenn sie auf die Aushandlung eines Tarifvertrags abzielen, stellt eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts dar), erklärt die Regierung, dass sie dem Ausschuss nicht zustimmt. Sie weist darauf hin, dass sich der gesetzliche Rahmen nicht geändert hat, und verweist auf ihre früheren Berichte.
Da sich die Situation nicht geändert hat, bekräftigt der Ausschuss seine Schlussfolgerung der Nichtübereinstimmung zu diesem Punkt.
Berechtigung zur Einreichung einer Sammelklage
In Bezug auf den zweiten Grund der Nichtübereinstimmung (die Anforderungen, die eine Gruppe von Arbeitnehmern erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Bedingungen für einen Streik erfüllt, stellen eine eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts dar), erklärt die Regierung, dass sie nicht die Auffassung des Ausschusses teile. Sie weist darauf hin, dass der gesetzliche Rahmen nicht geändert wurde, und verweist auf ihre früheren Berichte. Sie weist insbesondere erneut darauf hin, dass die Anforderung, dass eine Gruppe von Arbeitnehmern in der Lage ist, Tarifverhandlungen zu führen (ihre „Durchsetzungsfähigkeit“), notwendig ist, um sicherzustellen, dass die Gegenseite Verhandlungsangebote nicht ablehnen kann.
Da sich die Situation nicht geändert hat, bekräftigt der Ausschuss seine Schlussfolgerung der Nichtübereinstimmung in diesem Punkt.
Beschränkungen des Streikrechts, Verfahrensvorschriften
In Bezug auf den dritten Grund der Nichtübereinstimmung (Beamte sind nicht streikberechtigt) erklärt die Regierung, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 12. Juni 2018 (Az. 2 BvR 1738/12) Bundesverfassungsgericht festgestellt habe, dass das Streikverbot für Beamte unabhängig von der Art der ausgeübten Tätigkeit ein eigenständiger und hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Artikels 33 Absatz 5 des Grundgesetzes sei, der eine Einschränkung des Koalitionsrechts rechtfertige. Das Verbot stehe insbesondere in engem Zusammenhang mit dem beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip, der Treuepflicht und dem Grundsatz der lebenslangen Beschäftigung.
Das Bundesverfassungsgericht fügte hinzu, dass die Bestimmungen des Grundgesetzes im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen seien. In diesem Zusammenhang entschied es, dass das Streikverbot für Streikverbot für Beamte in Deutschland mit den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sei und ein Widerspruch zwischen dem deutschen Recht und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 11 der Konvention (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) nicht festgestellt worden sei.
Der Ausschuss weist darauf hin, dass Beamte das Recht auf Streik gemäß Artikel 6 Nr. 4 der Charta von 1961 haben. Das Verbot der Ausübung des Streikrechts für alle öffentlichen Bediensteten steht nicht im nicht im Einklang mit dieser Bestimmung. Daher bekräftigt der Ausschuss seine Schlussfolgerung, dass dieses Verbot nicht mit Art. 6 Absatz 4 der Charta vereinbar ist.
…
Schlussfolgerung (conclusion)
Der Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass die Situation in Deutschland nicht im Einklang mit Artikel 6 Nr. 4 der Charta von 1961 nicht im Einklang steht, und zwar aus folgenden Gründen:
das Verbot aller Streiks, die nicht auf die Erzielung eines Tarifvertrags abzielen eine übermäßige Einschränkung des Streikrechtes darstellt;
die Anforderungen, die eine Gruppe von Arbeitnehmern erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Bedingungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellt
Streikrecht;
allen Beamten, unabhängig davon, ob sie öffentliche Ämter ausüben, das Streikrecht verweigert wird.“
Bericht des Sachverständigenausschusses des Jahres 2019 über die Einhaltung des Streikrechts nach Art. 6 Nr. 4 ESC durch Deutschland
Bericht des Sachverständigenausschusses des Jahres 2019 über die Einhaltung von Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta durch Deutschland:
Der Ausschuss nimmt die in dem von Deutschland vorgelegten Bericht enthaltenen Informationen zur Kenntnis.
Kollektivmaßnahmen: Definition und zulässige Ziele
Das deutsche Gesetz über kollektive Maßnahmen, das sich auf Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes in der Auslegung durch die Gerichte stützt, verbietet nach wie vor Streiks, die nicht den Abschluss von Tarifverträgen zum Ziel haben. Seit seiner ersten Schlussfolgerung (Schlussfolgerung I (1969)) hat der Ausschuss festgestellt, dass dieses Verbot nicht im Einklang mit Artikel 6 Absatz 4 der Charta steht. Zuvor (Schlussfolgerungen XX-3 (2014)) behielt er sich seine Position für den Fall vor, dass bestimmte Situationen auf Interessenkonflikte hinweisen, die nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen abzielen und nicht von einem zuständigen Gericht gelöst werden können. Nun bekräftigt er jedoch die Feststellung der Nichtkonformität, da die Zulassung des Streikrechts nur dann, wenn es auf den Abschluss eines Tarifvertrags abzielt, das Streikrecht unangemessen einschränkt.
Recht auf Aufruf zu einer kollektiven Aktion
Der Ausschuss hatte zuvor festgestellt, dass die Situation nicht im Einklang mit Artikel 6 Absatz 4 steht, da die Anforderungen, die eine Gruppe von Arbeitnehmern erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Bedingungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellen. An dieser Situation hat sich nichts geändert. Daher bekräftigt der Ausschuss seine frühere Schlussfolgerung.
Spezifische Einschränkungen des Streikrechts und Verfahrensvorschriften
Der Ausschuss hat bereits früher festgestellt, dass die Situation in Deutschland nicht konform ist, weil das Streikverbot für Beamte eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellt. An dieser Situation hat sich nichts geändert. Daher bekräftigt der Ausschuss seine früheren Schlussfolgerungen.
Der Ausschuss erinnert daran, dass das Streikrecht eines der wesentlichen Mittel ist, die den Arbeitnehmern und ihren Organisationen zur Förderung und zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zur Verfügung stehen. Im Lichte von Artikel 31 der Charta „kann das Streikrecht für bestimmte Gruppen von Staatsbediensteten eingeschränkt werden, insbesondere für Angehörige der Polizei und der Streitkräfte, Richter und höhere Beamte.
Die Verweigerung des Streikrechts für die Gesamtheit der öffentlich Bediensteten kann jedoch nicht als mit der Charta vereinbar angesehen werden“ (vgl. Schlussfolgerungen I (1969)). Der Ausschuss stellt ferner fest, dass im Falle von Beamten, die keine öffentliche Gewalt ausüben, nur eine Einschränkung, nicht aber ein absolutes Verbot gerechtfertigt werden kann (Schlussfolgerungen XVII-1 (2005) Deutschland). Nach diesen Grundsätzen sollten alle öffentlichen Bediensteten, die keine hoheitlichen Befugnisse im Namen des Staates ausüben, zur Verteidigung ihrer Interessen auf Streiks zurückgreifen können.
Der Ausschuss verweist auf seine allgemeine Frage nach dem Streikrecht für Angehörige der Polizei.
Folgen eines Streiks
Der Ausschuss stellt fest, dass sich an der Situation in diesem Bereich, die er zuvor als mit der Charta konform befunden hatte, nichts geändert hat.
Schlussfolgerung
Der Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass die Situation in Deutschland nicht im Einklang mit Artikel 6 Absatz 4 der Charta von 1961 steht, und zwar aus folgenden Gründen:
das Verbot aller Streiks, die nicht auf die Erzielung eines Tarifvertrags abzielen, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellt und
die Anforderungen, die eine Gruppe von Beschäftigten erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Voraussetzungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellen und
die Verweigerung des Streikrechts für Beamte insgesamt, unabhängig davon, ob sie öffentliche Ämter ausüben, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellt.
Quelle: https://hudoc.esc.coe.int/eng?i=XXI-3/def/DEU/6/4/EN
„Der Ausschuss nimmt die in dem von Deutschland vorgelegten Bericht enthaltenen Informationen zur Kenntnis.
Kollektive Maßnahmen: Definition und zulässige Ziele
Das deutsche Recht der kollektiven Maßnahmen, das auf Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes in der Auslegung durch die Gerichte beruht, sieht nach wie vor vor, dass kollektive Maßnahmen zulässig sind. Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes in der Auslegung durch die Gerichte, verbietet nach wie vor Streiks, die nicht den Abschluss von Tarifverträgen zum Gegenstand haben. Seit seiner ersten Schlussfolgerung (Schlussfolgerung I (1969)) hat der Ausschuss festgestellt, dass dieses Verbot gegen Artikel 6 Absatz 4 der Charta verstößt. Ohne dieser Einschätzung zu widersprechen, wies der Ausschuss in den Schlussfolgerungen XIII-4 darauf hin, dass „Artikel 6 Abs. 4 nicht zur Rechtfertigung eines Streiks zu politischen Zwecken oder eines Streiks zur Anfechtung des Bestehens, der Gültigkeit oder der Auslegung eines Tarifvertrags herangezogen werden kann“.
In Beantwortung des Ersuchens des Ausschusses um Informationen darüber, wie die deutschen Behörden dieser negativen Schlussfolgerung Rechnung getragen haben, die in der Empfehlung Nr. R ChS (98) 2 des Ministerkomitees an Deutschland wiederholt wurde, erklärte die Regierung, dass es aus verfassungsrechtlichen und politischen Gründen nicht möglich sei, die Situation zu ändern (siehe den von Deutschland im Hinblick auf die Schlussfolgerungen XV-1 (2001) des Ausschusses vorgelegten Bericht).
Da sich die Situation in den aufeinanderfolgenden Berichtszeiträumen, die in den Schlussfolgerungen XV-1 (2001), XVI-1 (2003), XVII-1 (2005), XVIII-1 (2006) und XIX-3 (2010) geprüft wurden, nicht geändert hatte, bekräftigte der Ausschuss seine Schlussfolgerung, dass das Verbot aller Streiks, die nicht auf die Erzielung eines Tarifvertrags abzielen, im deutschen Recht gegen Artikel 6 Absatz 4 der Charta von 1961 verstößt.
Da dieser Punkt in dem Bericht nicht erwähnt wird, nimmt der Ausschuss die Informationen zur Kenntnis, die der deutsche Vertreter dem Regierungsausschuss der Europäischen Sozialcharta vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang erklärte der deutsche Vertreter: „Es gibt keine Aussichten auf eine Änderung der gegenwärtigen Rechtslage“ und dass es „angesichts der grundlegend gegensätzlichen Positionen der politischen Kräfte zu kollektiven Maßnahmen nicht möglich ist (…), sich auf eine Gesetzgebung zu einigen (…)“.
Der Ausschuss geht davon aus, dass das deutsche Rechtssystem die Interessen der Arbeitnehmer auf unterschiedliche Weise schützt, je nachdem, ob es sich um einen Interessenkonflikt oder einen Rechtskonflikt handelt. Rechtskonflikte werden durch Gesetze, Rechtsnormen oder die Bestimmungen bestehender Tarifverträge oder individueller Verträge geregelt und von Gerichten gelöst. Interessenkonflikte werden durch Tarifverhandlungen gelöst, und nur für solche Fälle sieht das deutsche Rechtssystem kollektive Maßnahmen als Mittel zur Lösung eines solchen Konflikts vor, wenn sich die Tarifparteien ansonsten nicht einigen können.
Artikel 6 Absatz 4 der Charta von 1961 verweist auf das Recht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf kollektive Maßnahmen bei Interessenkonflikten und erkennt damit an, dass es andere Arten von Konflikten geben kann, bei denen die Interessen der Arbeitnehmer durch andere Mittel als kollektive Maßnahmen geschützt werden können. Artikel 6 Absatz 4 der Charta von 1961 muss jedoch auch dahingehend ausgelegt werden, dass die Staaten sicherstellen müssen, dass Arbeiter und Angestellte ihr Recht auf Kollektivverhandlungen wirksam ausüben können, einschließlich des Streikrechts zur Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen, und dass die Umstände, unter denen Arbeiter und Angestellte kollektive Maßnahmen ergreifen können, nicht übermäßig eingeschränkt werden.
Der Ausschuss ist der Ansicht, dass der spezifische deutsche Ansatz, der die Entscheidung von Rechtskonflikten den Gerichten überlässt und gleichzeitig vorschreibt, dass kollektive Maßnahmen auf die Lösung von Interessenkonflikten ausgerichtet sein müssen, grundsätzlich mit den Bestimmungen von Artikel 6 Absatz 4 der Charta von 1961 im Einklang steht, solange das Recht der Arbeiter und Angestellten auf kollektive Maßnahmen im Zusammenhang mit Interessenkonflikten nicht übermäßig eingeschränkt wird.
Der Schutz des Rechts auf kollektive Maßnahmen gemäß der Charta von 1961 verfolgt das Ziel, kollektive Konflikte zu lösen. Solange dieses Ziel in der Praxis tatsächlich gewährleistet ist, können gleichwertige Mittel zu diesem Zweck geschaffen werden. Der Ausschuss behält sich jedoch eine Stellungnahme für den Fall vor, dass bestimmte Situationen auf Interessenkonflikte hindeuten, die nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen abzielen und nicht durch ein zuständiges Gericht gelöst werden können.
Berechtigung zur Einreichung einer Sammelklage
In den Schlussfolgerungen XV-1 (2001), XVI-1 (2003), XVII-1 (2005), XVIII-1 (2006) und XIX-3 (2010) stellte der Ausschuss fest, dass die Situation in Deutschland nicht mit Artikel 6 Absatz 4 vereinbar ist, da die Anforderungen, die eine Gruppe von Arbeitnehmern erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Bedingungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellen. Diese Schlussfolgerungen berücksichtigen die in der deutschen Rechtsprechung festgelegten Kriterien, die eine Gewerkschaft erfüllen muss, um einen rechtmäßigen Streik ausrufen zu können, und stützen sich auf den vom Ausschuss aufgestellten Grundsatz, dass es mit der Charta vereinbar sein kann, das Streikrecht den Gewerkschaften vorzubehalten, wenn die Arbeitnehmer problemlos und ohne unangemessene Anforderungen oder Formalitäten eine Gewerkschaft zum Zwecke eines Streiks gründen können (vgl. Schlussfolgerungen XV-1 (2001), Schweden).
Der Bericht geht nicht auf diesen Punkt ein. Der Ausschuss nimmt die Informationen zur Kenntnis, die der deutsche Vertreter dem Regierungsausschuss zu diesem Thema vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang erklärte der deutsche Vertreter, dass die dem letzten Bericht beigefügten Streikstatistiken „in keiner Weise darauf hindeuten, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Streik schwer zu erfüllen sind“. Er führte weiter aus, dass „die deutsche Rechtsprechung zum Recht auf kollektive Maßnahmen bewusst die Rechtmäßigkeit von Streiks ausschließt, die von einer kleinen Gruppe von Arbeitnehmern außerhalb von Gewerkschaftsorganisationen mit Tarifverhandlungsbefugnis angezettelt werden; dies entspricht dem Grundsatz, dass wirksame Tarifverträge nur von Gewerkschaften mit der Fähigkeit zu Kollektivverhandlungen in einem kollektiven Rahmen – und wenn möglich ohne kollektive Maßnahmen – abgeschlossen werden können.“
In Anbetracht dieser Erklärungen erinnert der Ausschuss daran, dass es mit der Charta vereinbar sein kann, das Streikrecht den Gewerkschaften vorzubehalten, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer problemlos und ohne unangemessene Anforderungen oder Formalitäten eine Gewerkschaft zum Zwecke eines Streiks gründen können. In Bezug auf die Frage, auf die sich die Verletzung bezieht, möchte sie wissen, ob die in der deutschen Rechtsprechung aufgestellten Kriterien, die eine Gewerkschaft erfüllen muss, um in den Genuss des Schutzes aus Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes, auch in Bezug auf das Recht, kollektive Maßnahmen zu ergreifen, wie sie vom Ausschuss im Addendum zu den Schlussfolgerungen XVI-1 (2001) zusammengefasst wurden, weiterhin angewandt werden.
Da sich die Situation in diesem Punkt nicht geändert hat, ist der Ausschuss der Ansicht, dass die Anforderungen, die eine Gruppe von Beschäftigten erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Voraussetzungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellen.
Spezifische Einschränkungen des Streikrechts und Verfahrensvorschriften
In seiner früheren Schlussfolgerung (Schlussfolgerungen XIX-3 (2010)) hat der Ausschuss hervorgehoben, dass es Aufgabe des Vertragsstaates ist, dafür zu sorgen, dass die innerstaatlichen Gerichte vernünftig handeln und dass ihre Eingriffe insbesondere nicht den Kern des Streikrechts angreifen und es damit seiner Wirksamkeit berauben (Schlussfolgerungen XVII-1 (2005)). In der oben genannten Schlussfolgerung stellte der Ausschuss fest, dass im Falle von einstweiligen Verfügungen, die von einem Gericht auf Antrag eines Arbeitgebers gegen einen Streik erlassen werden, keine Möglichkeit besteht, auf Bundesebene, insbesondere beim Bundesarbeitsgericht, Rechtsmittel einzulegen. Er stellte fest, dass in Ermangelung einer gesetzlichen Garantie des Streikrechts die Gefahr der Rechtsunsicherheit bestehe, da verschiedene Gerichte in verschiedenen Bundesländern in ähnlichen Fällen zu abweichenden Entscheidungen kommen könnten. Der Ausschuss bat daher erneut um weitere Informationen über Mittel und Wege zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit, die das Streikrecht in dieser Hinsicht einschränken könnte, und behielt sich seinen Standpunkt zu diesem Punkt vor.
In ihrem Bericht stellt die Regierung fest, dass die Tatsache, dass die Arbeitsgerichte in ähnlichen Fällen unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben, nicht unbedingt bedeutet, dass die betreffenden Gerichte unterschiedliche Rechtsauffassungen über dieselbe Rechtsfrage haben; sie ist vielmehr der Ansicht, dass die abweichenden Entscheidungen auf Unterschiede in den zugrunde liegenden Fakten der einzelnen Fälle zurückzuführen sind. Die Regierung stellt ferner fest, dass es den Parteien freisteht, Rechtsfragen durch ein höheres Gericht klären zu lassen, und dass, wenn von den Parteien keine Berufung eingelegt wird, dies nicht bedeuten kann, dass es in Deutschland eine Einschränkung des Streikrechts gibt, die vom Gesetzgeber korrigiert werden muss. Dementsprechend erklärt die Regierung, dass sie nicht beabsichtigt, das gerichtliche Verfahren zur Gewährleistung des Streikrechts zu ändern, da sie der Auffassung ist, dass das derzeitige System es den betroffenen Parteien ermöglicht, die erforderliche rechtliche Klärung rasch herbeizuführen.
Der Bericht bestätigt, dass Beamte gemäß Artikel 33 Abs. 5 des Grundgesetzes Beamten kein Streikrecht zusteht. Der Ausschuss stellt fest, dass im Falle von Beamten, die keine öffentliche Gewalt ausüben, nur eine Einschränkung, aber kein absolutes Verbot gerechtfertigt werden kann (Schlussfolgerungen XVII-1, Deutschland). Aus dem Bericht geht hervor, dass das Streikverbot für Beamte während des Berichtszeitraums Gegenstand mehrerer Gerichtsverfahren war. Alle Verfahren betrafen die Teilnahme von verbeamteten Lehrern an Streiks. In seinem Urteil vom 15. Dezember 2010 (Az. 31 K 3904/10.0) entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf, dass Beamte in Deutschland nach wie vor nicht streikberechtigt sind. Das Gericht stellte aber auch fest, dass die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme wegen der Teilnahme an einem Streik unzulässig sei, wenn der Beamte nicht im Kernbereich der öffentlichen Verwaltung mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt beschäftigt sei. In solchen Fällen müsse das Disziplinarverfahren ausgesetzt werden, weil nur so Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Rechnung getragen werden könne, so das betreffende Gericht. In seiner Entscheidung vom 27. Juli 2011 (Az. 28 K 574/10.KS:D) stellte das Verwaltungsgericht Kassel fest, dass das Streikverbot im Hinblick auf Artikel 11 EMRK nur für Beamte gelte, die Aufgaben im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Gewalt wahrnehmen. Dagegen entschied das Verwaltungsgericht Osnabrück am 19. August 2011 (Az. 9 A 1/11 und 9 A 2/11), dass Beamte nach der Bundesverfassung kein Streikrecht haben. Auch das letztgenannte Gericht stellte fest, dass eine funktionsbezogene Differenzierung einen Verstoß gegen Art. 33 Abs.. 5 des Grundgesetzes in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dar.
Im Anschluss an diese Auslegungen der genannten Gerichte sind Entscheidungen von Oberverwaltungsgerichten ergangen, in denen das Streikverbot für Beamte bestätigt wurde. So hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in seiner Entscheidung vom 07. März 2012 (Az. 3d A 317/11.0) die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf aufgehoben. Es stellte fest, dass unabhängig von den Grundsätzen der EMRK die Koalitionsfreiheit für Beamte in Deutschland durch die in der Bundesverfassung verankerten Grundsätze des Berufsbeamtentums eingeschränkt ist. Ähnlich argumentierte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in zwei Entscheidungen vom 12. Juni 2012 (Az. 20 BD 7/11 und 20 BD 8/11): Selbst bei Berücksichtigung von Artikel 11 EMRK müsse davon ausgegangen werden, dass Beamte in Deutschland nicht streiken dürfen.
Der Ausschuss stellt fest, dass das Bundesverwaltungsgericht die Revision gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts NRW wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen hat. Im Revisionsverfahren (Az. 2 C 1/13, anhängig) wird zu klären sein, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Streikrecht, insbesondere das Urteil Enerji Yapı-Yol Sen/Türkei vom 21. April 2009, für die Gültigkeit des verfassungsrechtlichen Streikverbots für Beamtinnen und Beamte bzw. für die Sanktionen, die bei einem Verstoß gegen dieses Verbot verhängt werden können, von Bedeutung ist. Nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sind gegen die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht eingelegt worden.
Der Ausschuss bittet darum, im nächsten Bericht aktuelle Informationen über die Entwicklung etwaiger Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und/oder des Bundesverfassungsgerichts zur Einschränkung des Streikrechts für Beamte zu geben.
Der Ausschuss weist darauf hin, dass das Streikrecht eines der wesentlichen Mittel ist, die den Arbeitnehmern und ihren Organisationen zur Förderung und zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zur Verfügung stehen. Im Lichte von Artikel 31 der Charta „kann das Streikrecht für bestimmte Gruppen von Staatsbediensteten eingeschränkt werden, insbesondere für Angehörige der Polizei und der Streitkräfte, Richter und höhere Beamte. Die Verweigerung des Streikrechts für die Gesamtheit der öffentlich Bediensteten kann jedoch nicht als mit der Charta vereinbar angesehen werden“ (vgl. Schlussfolgerungen I (1969)). Der Ausschuss stellt ferner fest, dass im Falle von Beamten, die keine öffentliche Gewalt ausüben, nur eine Einschränkung, nicht aber ein absolutes Verbot gerechtfertigt werden kann (Schlussfolgerungen XVII-1 (2005) Deutschland). Nach diesen Grundsätzen können alle öffentlichen Bediensteten, die keine hoheitlichen Befugnisse im Namen des Staates ausüben, zur Verteidigung ihrer Interessen auf Streikmaßnahmen zurückgreifen. Der Ausschuss stellt fest, dass der IAO-Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen in seiner Beobachtung von 2011, die anlässlich seiner 101. Tagung (2012) veröffentlicht wurde, in Bezug auf das Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts Schlussfolgerungen angenommen hat, in denen die vorgenannten Grundsätze bestätigt werden.
In seiner letzten Schlussfolgerung (Schlussfolgerungen XIX-3 (2010)) nahm der Ausschuss die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 2000 zur Kenntnis, wonach ein Beamter, der für die Aufnahme einer Tätigkeit im Rahmen eines privatrechtlichen Vertrages mit den privatisierten Unternehmen der Deutschen Post und der Deutschen Bahn beurlaubt wird, „grundsätzlich nicht dem Streikverbot unterliegt“. Er fragt, ob dies auch für alle verbeamteten Post- und Bahnangestellten gilt, die keine öffentliche Gewalt ausüben. Der Ausschuss bittet erneut darum, dass der nächste Bericht Informationen zu diesem Thema enthält.
Solange die gewünschten Informationen nicht vorliegen, behält sich der Ausschuss seinen Standpunkt zu diesem Punkt vor.
Folgen eines Streiks
Hinsichtlich der Verfahrensvorschriften für kollektive Maßnahmen und deren Folgen verweist der Ausschuss auf seine Bewertung der Situation in den Schlussfolgerungen XV-1 (2001) und XVI-1 (2003). In dem Bericht wird keine Änderung der Situation in dieser Hinsicht erwähnt.
Schlussfolgerung
Der Ausschuss kommt zu dem Schluss, dass die Situation in Deutschland nicht im Einklang mit Artikel 6 Absatz 4 der Charta von 1961 steht, da die Anforderungen, die eine Gruppe von Arbeitnehmern erfüllen muss, um eine Gewerkschaft zu gründen, die die Voraussetzungen für einen Streik erfüllt, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellen“