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Wie binden Urteile des EGMR deutsche Gerichte?

8. Februar 2021 von benhop

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und die Europäische Menschenrechtskonvention

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) – nicht zu verwechseln mit dem Gerichtshof der Europäischen Union in Brüssel (EuGH) – überwacht die Einhaltung der Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegt sind, und ist die ‚allerletzte Instanz’ für 800 Millionen Menschen. Dazu gehören alle Länder, die sich durch Vertrag an die EMRK gebunden haben. Das sind nicht nur alle Länder der EU, sondern auch Länder wie die Türkei und Russland und eben auch das Fürstentum Liechtenstein. Die EMRK wurde 1950 beschlossen und ist stark der Allgemeinen Erklärung der nachgebildet, die von der UNO beschlossen wurde. Die UNO, das sei hier auch erwähnt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Konsequenz aus den Verheerungen des Faschismus gegründet. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO und auch die EMRK stehen in dieser Tradition.

Nach Erfolg in Straßburg Wiederaufnahme in Deutschland möglich

Anders als die Menschenrechte der UNO haben die Menschenrechte der EMRK allerdings eine viel stärkere Bindungswirkung: Sie können individuell gerichtlich geltend gemacht werden, eben beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Wird dort eine Beschwerde gewonnen, so erlaubt sowohl die Strafprozessordnung (StPO) als auch die deutsche Zivilprozessordnung (ZPO), das ganze Verfahren in Deutschland wieder aufzurollen.

Dazu grundlegend dazu BVerfG v. 14.10.2004 2 BvR 1481/04:

„Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit ist festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber im Jahr 1998 mit § 359 Nr. 6 StPO einen neuen Wiederaufnahmegrund für strafrechtliche Verfahren in das Strafprozessrecht eingefügt hat … Danach ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht. Die Gesetzesänderung beruht auf dem Gedanken, dass eine im konkreten Einzelfall in ihrer Wirkung andauernden Konventionsverletzung jedenfalls in dem besonders grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts ungeachtet bereits eingetretener Rechtskraft beendet werden soll, wenn das Urteil des Gerichtshofs für das nationale Verfahren entscheidungserheblich ist …“

Diese Ausführungen des BVerfG stammen aus dem Jahr 2004. Inzwischen ist auch in der Zivilprozessordnung eine entsprechende Regelung aufgenommen worden. Eine so genannte Restitutionsklage (§ 580 Nr. 8 ZPO) ist möglich, „wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention für Menschenrechte zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 

Der Fall Heinisch ./. Vivantes

Auf dieser rechtlichen Grundlage hatte schon die Altenpflegerin Brigitte Heinisch nach erfolgreicher Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR vom 21.07.2011 Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland) ihren Rechtstreit um ihre Kündigung durch das Krankenhaus-Unternehmen Vivantes erfolgreich vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wieder aufrollen können.

„Eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als Völkervertragsrecht haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. … Die Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren Beteiligten Parteien verbindlich sind …“ (BVerfG v. 14.10.2004 2 BvR 1481/04 Rn. 38).

Der Fall Gawlik ./. Liechtenstein

Nun könnte man einwenden, dass Deutschland an dem Verfahren Gawlik ./. Liechtenstein (EGMR v. 16.02.2021 Nr. 23922/19) nicht als Partei beteiligt war und deshalb das Urteil für Deutschland nicht verbindlich ist. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Wenn sich ein solcher Fall in Deutschland ereignen würde und wenn dann in Deutschland so entschieden würde wie dieser Fall in Liechtenstein entschieden wurde, dann könnte die unterlegene Partei unter Berufung auf das Urteil Gawlik ./. Liechtenstein (EGMR v. 16.02.2021 Nr. 23922/19) zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen und wird Recht bekommen. Der EGMR wird gegenüber Deutschland nicht anders entscheiden wie gegenüber Liechtenstein. Genauso haben wir es im vorliegenden Fall gemacht, nur mit umgekehrten Rollen. Wir haben uns auf die Entscheidung der Altenpflegerin Heinisch ./. Deutschland (EGMR vom 21.07.2011 Nr. 28274/08) berufen, obwohl der vorliegende Whistleblower-Fall sich gegen Liechtenstein richtete. Liechtenstein hat verloren, weil der Fall Heinisch ./. Deutschland einen Rechtssatz, das heißt eine allgemeine Rechtsaussage, enthielt, die zu dem vorliegenden Fall passte und nach unserer Auffassung in der Entscheidung in Lichtenstein nicht beachtet wurde.

Wie prüfte der EGMR Whistleblower-Fälle?

8. Februar 2021 von benhop

Welchen Maßstab hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt, um Whistleblower-Fälle zu entscheiden?

1. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Der Gerichtshof urteilte zwar nur in einem Einzelfall, der Kündigung der Brigitte Heinisch wegen ihrer Strafanzeige gegen die eigene Arbeitgeberin. Aber die Maßstäbe, die der Gerichtshof dabei entwickelt, gehen weit über den Einzelfall hinaus. Diese Maßstäbe sind übertragbar auf die rechtliche Bewertung anderer Anzeigen von internen Missständen.

Nicht nur ein Flugblatt über Missstände im Betrieb, sondern auch eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber ist eine Meinungsäußerung, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt wird1.

Die Europäische Menschenrechtskonvention regelt allerdings auch, dass unter bestimmten Umständen in das Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen werden darf2. Die Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung müssen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Da ohne Frage die Kündigung der Brigitte Heinisch wegen ihrer Strafanzeige ein Eingriff in ihr Recht der freien Meinungsäußerung war3, hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob dieser Eingriff nach den Maßstäben der Menschenrechtskonvention „notwendig“ und damit gerechtfertigt war und ihre Arbeitgeberin Vivantes ihr kündigen durfte.

Das entscheidet der Gerichtshof über eine Interessenabwägung4.

2. Die Interessenabwägung

Diese Interessenabwägung kann man sich an einer Waage mit zwei Waagschalen veranschaulichen. Der Gerichtshof stellt die widerstreitenden Interessen von Beschäftigtem und Unternehmen gegenüber, wirft in die eine Waagschale die Interessen des Beschäftigten und in die andere Waagschale die Interessen des Unternehmens. Dann gewichtet er diese Interessen. Die Partei hat gewonnen, deren Waagschale sich am Ende herab senkt, weil in ihrer Waagschale die Interessen mit dem größeren Gewicht versammelt sind.

Indem der Gerichtshof die widerstreitenden Interessen benennt und gegenüberstellt, wird zunächst einmal deutlich, dass ein Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit existiert. Schlagartig wird es der ganze Dunst weggeblasen, mit dem Unternehmen tagtäglich und andauernd den realen Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital vernebeln wollen. Der Gerichtshof wirft in die Waagschale des Beschäftigten dessen Interesse, seine Meinung frei zu äußern und betriebsinterne Missstände und Gefahren extern bekannt zu machen, und in die Waagschale des Unternehmens wirft er dessen geschäftliches Interesse, das den abhängig Beschäftigten zur Loyalität und deswegen zu mehr oder weniger umfassendem Schweigen verpflichtet5.

2.1. Gesichtspunkte bei der Interessenabwägung

Der Gerichtshof berücksichtigte in seiner Interessenabwägung zusätzliche Gesichtspunkte, anhand derer er die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägt

2.1.1 Gesichtspunkt: Das öffentliche Interesse

Besonderes Gewicht bekommt das Interesse des Beschäftigten, seine Meinung frei zu äußern, wenn ein öffentliches Interesse an den aufgedeckten Informationen besteht6.

Der Gerichtshof stellt im Fall Heinisch ./. Deutschland fest: Die von Brigitte Heinisch aufgedeckten Informationen waren unbestreitbar von öffentlichem Interesse. In Gesellschaften, in denen ein ständig wachsender Teil ihrer älteren Bevölkerung auf Pflegeeinrichtungen angewiesen ist, und unter Berücksichtigung der besonderen Verwundbarkeit der Heimbewohner, die oft nicht in der Lage sein dürften, aus eigener Initiative die Aufmerksamkeit auf Pflegemängel zu lenken, ist die Verbreitung der Informationen über Qualität oder Mängel solcher Pflege zur Missbrauchsverhinderung von grundlegender Bedeutung7.

2.1.2 Gesichtspunkt: Pflicht zur Loyalität – Interne Meldung, externe Meldung oder Öffentlichmachung?

„Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden. Nur wenn dies eindeutig unpraktikabel ist, darf als ultima ratio die Öffentlichkeit informiert werden. Für die Beurteilung, ob die Einschränkungen der Meinungsfreiheit verhältnismäßig war, muss der Gerichtshof daher berücksichtigen, ob dem Beschwerdeführer andere wirksame Mittel zur Verfügung standen, um etwas gegen den angeprangerten Missstand zu tun (siehe Guja, a.a.O., Rn. 73)“8.

Aus diesen Sätzen wollten manche Juristen9 neben dem ausdrücklich als letzten Schritt („ultima ratio“) hervorgehobenen Gang in die Öffentlichkeit, also der Information von Presse, Funk und Fernsehen, auch eine Festlegung in der Reihenfolge sehen, nach der zuerst Hinweise an Vorgesetzte – die betriebs- bzw. unternehmensinterne Meldung – gegeben werden müssen, bevor andere zuständige Stellen oder Einrichtungen unterrichtet werden, also Missstände extern an eine zuständige Behörde weiter gegeben werden, zum Beispiel an das Gewerbeaufsichtsamt, die Lebensmittelkontrolle, das Amt für Arbeitsschutz oder die Staatsanwaltschaft. Eine solche Reihenfolge – zuerst interne, dann externe Meldung an die zuständige Behörde – ist aus dieser und anderen Urteilen des EGMR nicht zu entnehmen10.

Zu dieser Frage gab es einen massiven Streit in den Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament, Kommission und Rat über die Whistleblower-Richtlinie der EU11. Am Ende einigte man sich so, dass ein Whistleblower frei wählen kann, ob er zunächst einen Missstand intern meldet oder sofort diesen Missstand an eine zuständige externe Behörde weiter gibt12. Doch jetzt wird versucht, auf dem Wege der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht die Uhren wieder zurückzudrehen: „Es kursiert die Idee, die Richtlinie müsse im Wege der Auslegung dahingehend ergänzt werden, dass der Whistleblower, um geschützt zu sein, doch erst intern Meldung erstatten müsse, wenn ihm dies zumutbar sei“13.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland wurde Brigitte Heinisch vorgeworfen, sie habe die Missstände nicht zuerst intern gemeldet, bevor sie extern Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin erstattete. Dieser Vorwurf ging nicht nur deswegen ins Leere, weil Brigitte Heinisch nach der Rechtsprechung des EGMR nicht dazu verpflichtet war, die Missstände erst intern zu melden, sondern auch deswegen weil, wie der Gerichtshof feststellte, Brigitte Heinisch nicht nur mehrmals zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 ihren Vorgesetzten gegenüber äußerte, dass sie überlastet sei, sondern mit dem Schreiben ihres Rechtsanwalts vom 9.11.2004 an die Geschäftsführung der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbHauch die Geschäftsleitung vor einer möglichen Strafanzeige warnte14.

Sollten Whistleblower auch dann Schutz genießen, wenn sie die Meldung gegenüber einer Behörde erstatten, die unzuständig ist?

In der ausgezeichneten Stellungnahme von Ninon Colneric und Simon Gardemann zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie (EU) in deutsches Recht wird dazu folgende Empfehlung gegeben: „Im Rahmen der nationalen Umsetzung sollten auch andere interne und externe Adressaten als schutzauslösend anerkannt werden, sofern der Whistleblower in gutem Glauben annehmen durfte, dass diese hinsichtlich der konkreten Verstöße abhilfefähig, also zur Einleitung von Folge – oder Schutzmaßnahmen zuständig und befugt sind“15.

2.1.3. Gesichtspunkt Authentizität: Wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht?

Ein weiterer Gesichtspunkt bei der Interessenabwägung ist die so genannte Authentizität: „Jede Person, die Missstände meldet, muss, „soweit die Umstände dies erlauben, sorgfältig prüfen, ob die Informationen zutreffend und zuverlässig sind – insbesondere, wenn die Person … ihrem Arbeitgeber gegenüber zur Diskretion und Loyalität verpflichtet ist“16. Von dieser Verpflichtung wird in einem Arbeitsverhältnis ausgegangen. Im Fall einer Strafanzeige kommt es dabei drauf an, ob der oder die Anzeigende wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat17.

Das war auch der Gesichtspunkt, unter dem der Gerichtshof die Berechtigung der Kündigung der Brigitte Heinisch durch Vivantes abwog. Dabei zog er eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts heran: Jeder Bürger hat das Recht, eine Strafanzeige zu erstatten. Das gilt auch, wenn sich diese Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber richtet und der Arbeitgeber durch diese Strafanzeige einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt wird. Das Bundesverfassungsgericht macht jedoch eine wesentliche Einschränkung: Der abhängig Beschäftigte darf nicht bewusst oder leichtfertig falsche Angaben machen18.

Dass die Erstattung einer Strafanzeige auch gegen den eigenen Arbeitgeber ein staatsbürgerliches Recht ist, das nicht durch den angezeigten Arbeitgeber sanktioniert werden darf – diesen Grundsatz hatte also das Bundesverfassungsgericht selbst aufgestellt19. Deswegen wäre auch die Verteidigung dieses Grundsatzes Sache des Bundesverfassungsgerichts selbst gewesen. Weil das Bundesverfassungsgericht jedoch die Beschwerde der Brigitte Heinisch nicht annahm, überließ es dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Aufgabe, der Anwendung dieses Grundsatzes den Weg frei zu machen.

Der Gerichtshof stellte im Fall Heinisch fest: Es gibt keinen Grund für die Feststellung, dass Brigitte Heinisch wissentlich und leichtfertig falsche Angaben gemacht hat20. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hatte bei seinen Kontrollen in den Jahren 2002 und 2003 schwere Pflegemängel festgestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte in seinen Berichten auch darauf hingewiesen, dass es der Personalmangel war, der zu Pflegemängeln geführt hatte21.

Darüber hinaus ist es hauptsächlich Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe aus einer Strafanzeige zu prüfen. Eine Person, die in gutem Glauben eine solche Anzeige erstattet hat, kann außerdem nicht vorher sehen, ob die Ermittlungen zu einer Anklage oder einer Verfahrenseinstellung führen werden22. Das kann auch nicht erwartet werden23.

Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist es den deutschen Gerichten verwehrt, die Anforderungen an eine Strafanzeige in der Weise zu überziehen, wie es das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg getan hatte, und dem Anzeigenden die Ermittlungen aufzubürden, die die Staatsanwaltschaft zu leisten hat.

Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auch auf entsprechende Leitsätze der Parlamentarischen Versammlung, wonach bei jedem Wistleblower davon ausgegangen werden sollte, dass er in gutem Glauben gehandelt hat, soweit er vernünftige Gründe für die Annahme hatte, dass die offen gelegten Informationen wahr waren, selbst wenn sich später herausstellt, dass dies nicht der Fall war, und vorausgesetzt, dass er keine rechtswidrigen und unethischen Ziele verfolgt hat24.

2.1.4. Gesichtspunkt: Guter Glaube des Whistleblower

Unter diesem Gesichtspunkt handelt der EGMR die Beweggründe des Whistelblowers ab. Dabei kommt es etwa darauf an, ob der Whistleblower bewusst und vorsätzlich eine Falschmeldung anzeigt, nur um anderen zu schaden.

Entgegen der Meinung des Landesarbeitsgerichts Berlin, Brigitte Heinisch habe beabsichtigt, durch Provokation einer öffentlichen Debatte unangemessenen Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben, steht für den Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch in gutem Glauben und in der Überzeugung handelte, dass es im Interesse der Allgemeinheit ist, die mutmaßlichen Rechtsverletzungen ihrer Arbeitgeberin bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen25. In der Erfahrung der Brigitte Heinisch hatten die früheren Bemänglungen von Missständen im Pflegeheim durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu keinerlei Veränderungen geführt. Nach ihren zahlreichen innerbetrieblichen Beschwerden gegenüber Vivantes, die alle erfolglos waren, war sie der Ansicht, dass eine Strafanzeige das letzte Mittel zur Behebung der Pflegemängel sei26.

2.1.5. Gesichtspunkt: Schaden des Arbeitgebers

In die Waagschale der Arbeitgeberin wirft der Gerichtshof den Schaden, den sie erlitten hat.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland hatten die Betrugsvorwürfe in der Strafanzeige dem geschäftlichen Ruf und den wirtschaftlichen Interessen von Vivantes mit Sicherheit geschadet27.

2.2. Erste Interessenabwägung im konkreten Fall

Unter Beachtung der genannten Gesichtspunkte, die der Gerichtshof gewichten muss, wägt er danach die Interessen der beiden Parteien gegeneinander ab.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland fasste der Gerichtshof das Ergebnis seiner Interessenabwägung so zusammen: „Angesichts dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Interesse der Allgemeinheit, über Defizite bei der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen informiert zu werden, in einer demokratischen Gesellschaft so wichtig ist, dass es das Interesse am Schutz des geschäftlichen Rufs und der Interessen dieses Unternehmens überwiegt“28. Die Waage der Justiz hatte sich zugunsten von Brigitte Heinisch geneigt.

2.3 Zweite Interessenabwägung: Verhältnismäßigkeit zur Schwere der Sanktion

Dann wägt der Gerichtshof ein weiteres Mal ab. Er stellt das Ergebnis der ersten Interessenabwägung den Sanktionen gegenüber, die dem Whistleblower auferlegt wurden. Dabei wird insbesondere die Schwere der Sanktion berücksichtigt, zum Beispiel ob dem Whistleblower fristlos gekündigt oder er nur abgemahnt wurde.

Im Fall Heinisch ./. Deutschland stellte der Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch mit der fristlosen Kündigung „die härteste arbeitsrechtlich mögliche Sanktion auferlegt wurde. Dies wirkte sich nicht nur negativ auf den beruflichen Werdegang der Beschwerdeführerin aus29.

Und dann wird eine weitere schwerwiegende Folge festgestellt. Diese Feststellung ist sehr bemerkenswert, weil sie sich nicht auf die Beschwerdeführerin Brigitte Heinisch, sondern auf andere an dem Verfahren nicht unmittelbar Beteiligte bezieht: „Darüber hinaus könnte die Sanktion angesichts der Medienberichte über den Fall der Beschwerdeführerin auch eine abschreckende Wirkung für andere Arbeitnehmer im Pflegesektor haben“, nicht nur für Angestellte des Unternehmens, das der Beschwerdeführerin gekündigt hatte. Diese abschreckende Wirkung schadet der Gesellschaft als Ganzes und muss daher bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit und somit der Rechtsfertigung der Sanktionen, die der Beschwerdeführerin, die … zur Offenlegung … berechtigt war, auferlegt wurden, berücksichtigt werden … Dies gilt insbesondere für den Bereich der Altenpflege, bei dem Patienten oft nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbst zu verteidigen, und die Pflegekräfte die ersten sind, denen die unbefriedigenden Pflegebedingungen auffallen, und die deshalb am besten in der Lage sind, im Interesse der Allgemeinheit zu handeln und den Arbeitgeber oder die Öffentlichkeit auf Missstände hinzuweisen. Dementsprechend kommt der Gerichtshof zu der Einschätzung, dass die fristlose Kündigung der Beschwerdeführerin in der vorliegenden Rechtssache eine unverhältnismäßige schwere Sanktion darstellte“30.

3. Schlussfolgerung

Am Ende entscheidet der Gerichtshof, ob der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung „notwendig“ war (art. 10 Abs. 2 EMRK).

Im Fall Heinisch ./. Deutschland ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass der Eingriff in das recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung, insbesondere ihr recht, Informationen weiterzugeben, „in einer demokratischen Gesellschaft“ nicht „notwendig“ war31.

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………

1 EGMR v. 21. Juli 2011 Nr. 28274/08 (https://www.bmjv.de/SharedDocs/EGMR/DE/20110721_28274_08.html); dies war zwischen allen Beteiligten unumstritten

2 Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention wird in EGMR a.a.O. Rn. 41 zitiert. Der zweite Absatz lautet: „Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“.

3 EGMR a.a.O. Rn. 43-45

4 EGMR a.a.O. Rn. 51-94

5 Art und Umfang sind im Einzelnen zu bestimmen, EGMR a.a.O. Rn. 65

6 EGMR a.a.O. Rn. 66; der EGMR fügt hinzu: „Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach Art. 10 Abs.2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der öffentlichen Meinungsbildung gibt“.

7 EGMR a.a.O. Rn. 71

8 EGMR a.a.O. Rn. 65

9 Garden/Hiréamente, BB 2017, 365, 368 f

10 Dazu ausführlich: Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 91 ff.

11 Dazu sehr anschaulich und konkret: Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 84 ff.

12 Art. 10 der Wistelblower-Richtlinie der EU

13 siehe der Hinweis in Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 89 Fn. 255, wonach ein Vorrang der internen vor der externen Anzeige „auf einer Tagung der EIAS am 14./15.2.2020 in Hamburg erörtert wurde. Siehe auch – bezogen auf den Vorschlag der Kommission für die Wistleblower-Richtlinie der EU – Thüsig/Rombey, NZG 2018, 1001, 1003“.

14 EGMR a.a.O. Rn. 72. Der Gerichtshof verweist überdies in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 3. Juli 2003 2 AZR 235/02; der EGMR verweist in Rn. 35 und Rn. 73 auf diese Entscheidung). Danach ist es einem Arbeitnehmer nicht zumutbar, zunächst eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anzustreben, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Eine vorherige innerbetriebliche Klärung ist auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist

15 Empfehlung nach: Ninon Colneric/ Simon Gardemann „Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht“ HSI-Schriftenreihe, Band 34, Frankfurt a.M. 2020 S. 178 unter Ziff. 21.; Begründung dieser Empfehlung auf S. 80, 81

16 EGMR a.a.O. Rn. 77

17 Dazu der EGMR a.a.O. allgemein unter Rn. 67 und bezogen auf den vorliegenden Fall in den Rn. 77 ff.

18 Unter dieser Voraussetzung darf der Beschäftigte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Regel gegen den eigenen Arbeitgeber Strafanzeige stellen, BVerfG 2.7.2001 – BvR 2049/00, AuR 2002, 187; dazu Deiseroth, AuR 2002, 161: Das Bundesverfassungsgericht stützt sich dabei nicht auf das Recht der Meinungsfreiheit nach Art 5 GG, sondern auf Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip

19 BVerfG 2.7.2001 – BvR 2049/00, AuR 2002, 187; dazu Deiseroth, AuR 2002, 161; vgl. auch der Hinweis des EGMR auf diese Entscheidung in Rn. 34

20 Den Gerichtshof überzeugte auch nicht, dass das Landesarbeitsgericht deswegen die Strafanzeige als leichtfertig wertete, weil Brigitte Heinisch im Rahmen der Strafermittlungen gegen Vivantes die behauptete Anweisung zum Fälschen der Pflegedokumentation gegenüber der Staatsanwaltschaft bzw. der Polizei nicht konkretisierte und dort auch keine zusätzlichen Zeugen benannte. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieses Verhalten mit ihrer Angst, sich selbst zu belasten, sowie der Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen durch Vivantes erklärt werden kann. (EGMR a.a.O. Rn.79)

21 EGMR a.a.O. Rn. 81

22 EGMR a.a.O. Rn.80;

23 Der Gerichtshof verweist auf eine entsprechende Entscheidung des BAG vom 3. Juli 2003, wonach ein Arbeitnehmer, der in gutem Glauben von seinem verfassungsrechtlich garantierten Recht auf Erstattung von Strafanzeigen Gebrauch macht, keinen Nachteil dadurch erleiden darf, dass sich seine Behauptung im anschließenden Verfahren als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist, EGMR a.a.O. Rn.80.

24 EGMR a.a.O. Rn.80;

25 EGMR a.a.O. Rn. 82 ff

26 EGMR a.a.O. Rn. 84

27 EGMR a.a.O. allgemein dazu unter Rn. 68 und bezogen auf den vorliegenden Fall: Rn. 88

28 EGMR a.a.O Rn. 90.

29 EGMR a.a.O. Rn. 91

30 EGMR a.a.O. Rn. 91, 92

31 EGMR a.a.O. Rn. 93

Heinisch ./. Deutschland – Eine Altenpflegerin schlägt Alarm

1. Februar 2021 von benhop

Eine Altenpflegerin gewinnt vor dem EGMR gegen Deutschland

Benedikt Hopmann 1. Februar 2021 Brigitte Heinsch konnte die Missstände in dem Pflegeheim, in dem sie arbeitete nicht mehr ertragen. Es ging um schwere Pflegemängel wegen Personalmangel. Sie zeigte ihren Arbeitgeber deswegen bei der Staatsanwaltschaft an. Ihr wurde gekündigt. Sie klagte dagegen und gewann erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg1.

Ich habe damals Brigitte Heinisch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Anwalt vertreten und will den gesamten Rechtsstreit hier kurz schildern.


I. Sachverhalt:

1. Überlastungsanzeigen

Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch arbeitete in einem Altenpflegeheim der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH. Sie erlebte immer wieder die Überlastung der Pflegekräfte. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen beschwerten sich immer wieder, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. In einer Überlastungsanzeige vom 24. Januar 2003 teilten Brigitte Heinisch und sieben weitere Kolleginnen und Kollegen eines Wohnbereichs des Altenpflegeheims der Pflegedienstleitung Personalmangel und schwere Pflegemängel schriftlich mit2. Diese Überlastungsanzeige war whistleblowing.

Brigitte Heinisch beschreibt sehr anschaulich, welche Wirkung die gemeinsame Überlastungsanzeige auf sie hatte:

„Alle Kollegen hofften, endlich Gehör zu finden, damit sich die Arbeits- und Pflegebedingungen grundlegend verbessern würden“3.

Tatsächlich erfüllte sich diese Hoffnung nicht4. Der Personalmangel blieb und damit blieben auch die Pflegemängel.

Brigitte Heinisch und ihre Kolleginnen und Kollegen ließen weiter Überlastungsanzeigen folgen. Alle mit nur geringem oder keinem Erfolg.

2. Der Medizinische Dienst

Schon 2002 hatte der Medizinische Dienst der Krankenkassen in dem Pflegeheim eine gravierende Unterversorgung bei der täglichen Pflege festgestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kontrolliert die Pflegeheime und wird dazu von den Pflegekassen beauftragt wird. Im Juli 2003 untersuchte der Medizinische Dienst der Krankenkassen das Pflegeheim noch einmal. Er legte dazu seinen Bericht im November 2003 vor und fasste darin die festgestellten Pflegemängel zusammen: Unzureichende Personalbesetzung, mangelhafte Grundpflege, unzulängliche Versorgung. Der medizinische Dienst bemängelte auch die Dokumentation der Pflege. Der Medizinische Dienst drohte wegen der Mängel, den Versorgungsvertrag5 mit Vivantes zu beenden.

Es blieb bei der Drohung.

3. Die Strafanzeige

Im Mai 2003 erklärte Brigitte Heinisch gegenüber Vivantes, wegen der Unterbesetzung nicht mehr die Verantwortung für die Versorgungsmängel übernehmen zu können. Danach erkrankte Brigitte Heinisch wiederholt. Laut ärztlicher Bescheinigung war dies Folge der Arbeitsüberlastung6.

Im November 2004 wies der Anwalt von Brigitte Heinisch Vivantes schriftlich darauf hin7, dass wegen des Personalmangels eine ausreichende hygienische Grundversorgung nicht mehr garantiert werden könne. Er forderte die Geschäftsleitung auf, schriftlich zu erklären, wie sie vermeiden wolle, dass sich das Personal strafbar macht, und wie sie eine ausreichende Versorgung der Heimbewohner sicherstellen wolle. Er unterstrich gegenüber der Geschäftsleitung, dass sie nur dann, wenn dies gelänge, eine Strafanzeige oder eine öffentliche Debatte mit allen ihren negativen Implikationen vermeiden könne.

Die Geschäftsleitung wies diese Vorwürfe zurück8.

Anfang Dezember 20049 beauftragte Brigitte Heinisch ihren Rechtsanwalt Strafanzeige gegen Vivantes zu erstatten und bat die Staatsanwaltschaft, die Umstände des Falles unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu überprüfen10.

Im Mai11 wurde Brigitte Heinisch als Zeugin durch die Staatsanwaltschaft in dem Ermittlungsverfahren gegen Vivantes angehört. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt12.

4. Kündigungen u. Veröffentlichungen

Gut einen Monat nach dieser Strafanzeige13 kündigte Vivantes am 19. Januar 2005 Brigitte Heinisch wegen zu hoher krankheitsbedingter Fehlzeiten.

Brigitte Heinisch nahm gleich nach ihrer Kündigung Kontakt mit Freunden und der Gewerkschaft ver.di auf. Wenige Tage später veröffentlichten diese ein Flugblatt, in dem die Kündigung als Einschüchterungsversuch beschrieben, zur Gründung eines Solidaritätskreises aufgerufen und auf die Überlastungsanzeigen hingewiesen wurde14.

Brigitte Heinisch faxte dieses Flugblatt an das Pflegeheim, wo es verteilt wurde. Über dieses Flugblatt erfuhr Vivantes auch von der Strafanzeige von Brigitte Heinisch. Wegen „des dringenden Verdachts der Initiierung eines Flugblattes“ kündigte Vivantes Brigitte Heinisch am 9. Februar 2009 ein zweites Mal, dieses Mal fristlos15.

Über diese Kündigung wurde in einem Fernsehbericht16 und zwei Zeitungen berichtet17. Am 25. April 2005 kündigt Vivantes Brigitte Heinisch ein drittes Mal – wieder fristlos18. In dieser dritten Kündigung warf Vivantes Brigitte Heinisch vor, der Zeitung „Neues Deutschland“ Informationen für einen Artikel über Pflegemängel geliefert zu haben – Pflegemängel aus dem Heim, in dem sie arbeitete.

5. Vivantes bringt Kolleginnen gegen Brigitte Heinisch in Stellung

Die Pflegedienstleitung verlangte von den Kolleginnen und Kollegen, die folgende Erklärung zu unterschreiben:

„Wir die Kollegen der ehemaligen Mitarbeiterin Brigitte, möchten uns von den Vorwürfen der schlechten und unterlassenen Pflege in unserem Haus distanzieren. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, dass wir seit dem Ausscheiden der Kollegin Brigitte eine ausgeglichene und gute Arbeitsatmosphäre in unserem Team haben. Jeder Kollege unseres Teams ist bereit, den Versorgungsauftrag sicherzustellen, wie unsere Bewohner es benötigen und wünschen.“

Fast alle Kollegen und Kolleginnen unterschrieben die von der Pflegedienstleitung initiierte Erklärung. Aber Brigitte Heinisch hatte nie die Bereitschaft ihrer Kolleginnen bezweifelt, den Versorgungsauftrag sicherzustellen. Es ging ihr immer nur um den Personalmangel, der auch bei bestem Willen nicht zuließ, den Versorgungsauftrag zu erfüllen. Kolleginnen, die sich jetzt von Brigitte Heinisch distanzierten, hatten vorher mit ihr Überlastungsanzeigen verfasst.

Personalmangel führt zu Pflegemängeln. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen überprüfte nach der Kündigung im Jahre 2006 noch einmal das Pflegeheim. Er begutachtete bei acht Bewohnern deren Pflegezustand. Allein für fünf dieser acht Bewohner wurde wegen der Unterversorgung eine Beratung „über die Möglichkeit der Vermittlung in ein anderes Pflegeheim zur nahtlosen Übernahme der pflegerischen Verantwortung“ empfohlen19.


II. Der innerstaatliche Rechtstreit

In der ersten Instanz begründete die Arbeitgeberin die Kündigung nur mit dem Flugblatt, das in der Öffentlichkeit verteilt worden war. Es ging ausschließlich darum, ob der Text auf diesem Flugblatt vom Recht auf freie Meinungsäußerung nicht geschützt war und deswegen die Arbeitgeberin der Brigitte Heinisch kündigen durfte. Brigitte Heinisch gewann in erster Instanz20. Der Inhalt des Flugblattes sei Brigitte Heinisch zwar zuzurechnen. Aber Brigitte Heinisch habe damit nicht ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Die Äußerungen dieses Flugblattes seien vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Der Wortlaut des Flugblattes sei zwar polemisch, beruhe aber auf objektiven Gründen und beeinträchtige das Arbeitsklima21 nicht. Das Arbeitsgericht entschied: Die Arbeitgeberin durfte Brigitte Heinisch nicht kündigen.

Die Arbeitgeberin musste einsehen, dass sie auf diesem Wege den Prozess nicht gewinnen konnte. Deshalb berief sie sich in der zweiten Instanz auf einen anderen Grund für ihre fristlose Kündigung: Die Strafanzeige der Brigitte Heinisch. Damit ging es allerdings wieder um das Recht auf freie Meinungsäußerung, jetzt jedoch nicht mehr als Text auf einem Flyer, das heißt in der Öffentlichkeit, sondern in Form einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.

Brigitte Heinisch verlor in dieser Instanz22. Das Landesarbeitsgericht rechtfertigte die Kündigung mit der Strafanzeige23. Brigitte Heinisch habe diese Strafanzeige auf Tatsachen gestützt, die sie im Laufe des Prozesses nicht habe beweisen können. Deswegen sei die Strafanzeige der Brigitte Heinisch ein „grober Verstoß gegen ihre arbeitsvertraglichen Rücksichtnahme-pflichten“24. Insbesondere reiche der behauptete Personalmangel nicht aus, um einen Abrechnungsbetrug anzuzeigen25. Das Landesarbeitsgericht hielt Brigitte Heinisch vor, sie habe ihre Behauptung, Mitarbeiter seien zur Fälschung von Berichten angewiesen worden, nicht konkretisiert. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Staatsanwaltschaft keinerlei Ermittlungen eingeleitet habe26.

Brigitte Heinisch reichte Beschwerde beim Bundesarbeitsgericht ein27. Das Bundesarbeitsgericht wies diese Beschwerde zurück28.

Brigitte Heinisch reichte beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Annahme der Beschwerde ohne Begründung ab29.

Dann reichte Brigitte Heinisch Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein.


III. EGfMR: Heinisch ./. Deutschland

Der gesamte Kampf von der Kündigung im Jahr 2005 bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2011 drehte sich allein um die Begründung des Landesarbeitsgerichts. Es ging allein darum, ob die Strafanzeige der Brigitte Heinisch vom Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geschützt war oder nicht.

2. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Nicht nur ein Flugblatt über Missstände im Betrieb, sondern auch eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber ist eine Meinungsäußerung, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt wird30.

Das entscheidet der Gerichtshof über eine Interessenabwägung31.

3. Die Interessenabwägung

Diese Interessenabwägung kann man sich an einer Waage mit zwei Waagschalen veranschaulichen. Der Gerichtshof stellt die widerstreitenden Interessen von Beschäftigtem und Unternehmen gegenüber, wirft in die eine Waagschale die Interessen des Beschäftigten und in die andere Waagschale die Interessen des Unternehmens. Dann gewichtet er diese Interessen. Die Partei hat gewonnen, deren Waagschale sich am Ende herabsenkt, weil in ihrer Waagschale die Interessen mit dem größeren Gewicht versammelt sind.

Besonderes Gewicht bekommt das Interesse des Beschäftigten, seine Meinung frei zu äußern, wenn ein öffentliches Interesse an den aufgedeckten Informationen besteht32. Der Gerichtshof stellte im vorliegenden Fall fest: Die von Brigitte Heinisch aufgedeckten Informationen waren unbestreitbar von öffentlichem Interesse. In Gesellschaften, in denen ein ständig wachsender Teil ihrer älteren Bevölkerung auf Pflegeeinrichtungen angewiesen ist, und unter Berücksichtigung der besonderen Verwundbarkeit der Heimbewohner, die oft nicht in der Lage sein dürften, aus eigener Initiative die Aufmerksamkeit auf Pflegemängel zu lenken, ist die Verbreitung der Informationen über Qualität oder Mängel solcher Pflege zur Missbrauchsverhinderung von grundlegender Bedeutung.33.

Der Gerichtshof berücksichtigte in seiner Interessenabwägung zusätzliche Gesichtspunkte34, anhand derer er die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägt

Der Gerichtshof fasste das Ergebnis seiner Interessenabwägung so zusammen: „Angesichts dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Interesse der Allgemeinheit, über Defizite bei der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen informiert zu werden, in einer demokratischen Gesellschaft so wichtig ist, dass es das Interesse am Schutz des geschäftlichen Rufs und der Interessen dieses Unternehmens überwiegt“35. Die Waage der Justiz hatte sich zugunsten von Brigitte Heinisch geneigt.


1 Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg in diesem Rechtsstreit (Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland) können Sie im Internet nachlesen unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-108773

2 Aus der Überlastungsanzeige: „Durch extrem hohen Krankenstand, Resturlaube aus dem Jahre 2002 und Streichung bzw. extremes Einschränken der Fremdkräfte (Leasing) in unserer Einrichtung …:

– Eingeschränkte Grundpflege, teilweise nur Teilwaschungen möglich, Nagelpflege und Rasieren kaum möglich.

– Kein Baden und regelmäßiges Duschen der Bewohner.

– Keine psychosoziale Betreuung.

– Keine aktivierende Pflege und Mobilisation.

– Keine ausreichende Zeit für die Bewohner, eine für sie angepasste Flüssigkeit und Nahrungsaufnahme zu gewähren; …“

3 „Diese Überlastungsanzeige beschlossen wir nach tagelanger Diskussion. Nachdem ich unterschrieben hatte, fühlte ich mich richtig frei! In den Monaten davor war ich mit meinen Zweifeln und Gewissenskonflikten allein gewesen, doch jetzt hielt das Team zusammen und setzte sich gemeinsam zur Wehr. Die Tatsache, dass ich dem hohen Verantwortungsdruck nicht mehr alleine ausgesetzt war, erleichterte mich sehr – zuvor hatte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich alle im Wohnbereich mit ihrer Kritik so weit nach vorne wagen würden. Jetzt lag es für mich einmal mehr auf der Hand: Nicht das Personal trug die Verantwortung für die Zustände im Heim, sondern diejenigen, die zu wenig Kräfte einplanten. Alle Kollegen hofften, endlich Gehör zu finden, damit sich die Arbeits- und Pflegebedingungen grundlegend verbessern würden“ (Brigitte Heinisch „Satt und sauber?“, 2008 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Seite 107 ff)

4 „Für die Leitung hätte diese Überlastungsanzeige ein Grund sein können, die Bedenken des Personals ernst zu nehmen und uns entgegenzukommen. Die Strategie von Vivantes war jedoch eine ganz andere. … Unser Arbeitsbereich wurde vergrößert und unser Team durchmischt, die Wohnbereiche im Haus wurden von vier auf drei zusammengelegt. Jetzt mussten die Pflegekräfte zum Teil über drei Etagen hetzen“ (Brigitte Heinisch „Satt und sauber?“, 2008 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Seite 107 ff). Im Urteil des Arbeitsgerichts Berlin 39 Ca 4775/05 heißt es: „Ab dem 24. April 2003 kam es zu dauerhaften Umstrukturierungen wegen Personalmangels. Die Pflegedienstleitung teilte mit Schreiben vom selben Tage … mit, dass der Nachtdienst im Wohnbereich 1 zur Zeit nicht durch das Stammpersonal besetzt werden könne und mithin durch die anderen Mitarbeiter der anderen Wohnbereiche mitversorgt werden müsse“.

5 Dienstleistungsvertrag zwischen den Kassen und Vivantes über die Versorgung der Heimbewohner

6 EGMR a.a.O. Rn. 8; Arbeitsunfähigkeit ab 19.5.2003

7 am 9. November 2004, EGMR a.a.O.Rn.11

8 am 22. November 2004, EGMR a.a.O. Rn. 13

9 am 7. Dezember 2004, EGMR a.a.O. Rn.14

10 Aus der Strafanzeige: „Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet … die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind … Gleichzeitig dient die Strafanzeige der Entlastung meiner Mandantin, da sie die Vivantes GmbH vielfach auf die bestehenden Missstände aufmerksam gemacht hat, indes keine Änderung herbeigeführt wurde und schlimmstenfalls auch meine Mandantin ein aufgrund der Missstände potentiell gegen sie einzuleitendes Ermittlungsverfahren zu gewärtigen hätte. … Den für die Unterbringung in der genannten Einrichtung aufgebrachten Kosten steht keine auch nur annähernd adäquate Gegenleistung gegenüber. … Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner ist aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet. … die Pflegekräfte (wurden) durch die Heimleitung angehalten, den bestehenden Mangel gegenüber den Bewohnern und ihren Angehörigen zu verschweigen. … (Es) liegt nicht nur, wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen festgestellt hat, eine mangelhafte Dokumentation des Pflegeprozesses vor, sondern die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, die so gar nicht erbracht worden sind …“.

11 am 26.5.2005, EGMR a.a.O. Rn. 26

12 gem. § 170 Abs.2 StPO; EGMR a.a.O. Rn. 26

13 Kündigungsschreiben vom 19.01.2005

14 Aus diesem Flugblatt vom 27.01.2005 (EGMR a.a.O. Rn. 18):

„Vivantes will Kolleginnen einschüchtern!!

Nicht mit uns!

Sofortige Rücknahme der politisch motivierten Kündigung unserer Kollegin Brigitte bei Vivantes Forum für Senioren.

Einladung zur Gründung eines überparteilichen Solidaritätskreises.“

Und weiter:

„Brigitte … schrieb regelmäßig Überlastungsanzeigen, um auf die unhaltbaren Zustände im Pflegebereich hinzuweisen. Da dies nicht zu einer Veränderung im Pflegebereich führte, stellte Brigitte im Dezember 2004 Strafanzeige gegen die Vivantes Geschäftsführung. Die Berliner Staatsanwaltschaft verweigerte die Aufnahme der Ermittlungen. Zeitgleich bekam sie die krankheitsbedingte Kündigung. … Wir lassen uns nicht einschüchtern und gehen weiter an die Öffentlichkeit. Wer einen von uns angreift, greift uns alle an! … Vivantes nutzt das soziale Engagement seines Personals schamlos aus. … hier geht es um weit mehr als um eine Kündigung! Dies ist eine politische Disziplinierung, um den berechtigten Widerstand vieler Beschäftigten im Gesundheitswesen für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung mundtot zu machen“.

Brigitte Heinisch wird in dem Flugblatt mit folgenden Worten zitiert:

„Ich wünsche mir, jeden pflegebedürftigen Menschen ohne Hast und Eile bei der Ernährung zu unterstützen, bei der Körperpflege zu unterstützen, wie er es benötigt, die Möglichkeit eines Gesprächs zu bieten, die Möglichkeit einer optimales Begleitung in seiner letzten Lebensphase zu bieten.“

15 allerdings hilfsweise auch fristgemäß; hilfsweise heißt: Für den Fall, dass das Gericht die fristlose Kündigung für ungerechtfertigt hält, wird vorsorglich eine fristgerecht Kündigung ausgesprochen, so dass anschließend das Gericht über fristgerechte Kündigung entscheiden muss

16 Abendschau des Fernsehsenders RBB vom 7. März 2005

17 EGMR a.a.O.Rn. 22

18 allerdings auch hier wieder hilfsweise fristgemäß

19 Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 10.05.2006

20 Arbeitsgericht Berlin 39 Ca 4775/05; es stellte auch die Unwirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen fristgerechten Kündigung fest

21 Aufschlussreich ist, dass der EGMR den Begriff „Betriebsfrieden“ (so in der Begründung des Urteils des Arbeitsgerichts) mit „working climate“ übersetzt, EGMR a.a.O. Rn. 27. Anders als die Übersetzung in AuR, die „working climate“ mit ‚Arbeitsklima’ zurückübersetzt, lautet die Rückübersetzung der Bundesregierung für „working climate“ dann auch wieder ‚Betriebsfrieden’

22 LAG Berlin 28.03.2006 7 Sa 1884/05, AuR 2006, 51; dazu kontrovers Deiseroth, AuR 2007, 34; Binkert, AuR 2007, 195; Duplik von Deiseroth, AuR 2007, 198

23 Strafanzeige der Brigitte Heinisch vom 7.12.2004 S.2

24 LAG Berlin 7 Sa 1884/05 unter 2.1.2

25 Zusammenfassung d. Begründung d. Urteils des LAG Berlin siehe EGMR a.a.O. Rn. 28

26 EGMR a.a.O. Rn. 28

27 Das Landesarbeitsgericht Berlin ließ keine Revision beim Bundesarbeitsgericht zu. Dagegen richtete sich die Beschwerde von Brigitte Heinisch, eine so genannte Nichtzulassungsbeschwerde.

28 BAG v. 6. 06.2007 4 AZN 48706

29 Die Verfassungsbeschwerde wurde mit folgendem Wortlaut ohne Begründung abgelehnt: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen“ BVerfG v. 06.12.2007 Az.: 1 BvR 1905/07. Der Grund dafür kann sein, dass es Meinungsverschiedenheiten unter den Richtern gab; in solchen Fällen wird manchmal ohne Begründung entschieden.

30 EGMR a.a.O. Rn. 43; dies war zwischen allen Beteiligten unumstritten

31 EGMR a.a.O. Rn. 51-94

32 EGMR a.a.O. Rn. 66; der EGMR fügt hinzu: „Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach Art. 10 Abs.2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der öffentlichen Meinungsbildung gibt“.

33 EGMR a.a.O. Rn. 71

34 Der Gerichtshof stellt fest (EGMR a.a.O. dazu im vorliegenden Fall unter den Rn. 72 ff), dass Brigitte Heinisch nicht nur mehrmals zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 ihren Vorgesetzten gegenüber äußerte, dass sie überlastet sei, sondern mit dem Schreiben ihres Rechtsanwalts vom 9.11.2004 an die Geschäftsführung der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbHauch die Geschäftsleitung vor einer möglichen Strafanzeige warnte. Der Gerichtshof verweist überdies in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 3. Juli 2003 2 AZR 235/02; der EGMR verweist in Rn. 35 und Rn. 73 auf diese Entscheidung). Danach ist es einem Arbeitnehmer nicht zumutbar, zunächst eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anzustreben, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Eine vorherige innerbetriebliche Klärung ist auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist.

Entgegen der Meinung des Landesarbeitsgerichts Berlin, Brigitte Heinisch habe beabsichtigt, durch Provokation einer öffentlichen Debatte unangemessenen Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben, steht für den Gerichtshof fest, dass Brigitte Heinisch in gutem Glauben und in der Überzeugung handelte, dass es im Interesse der Allgemeinheit ist, die mutmaßlichen Rechtsverletzungen ihrer Arbeitgeberin bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen (dazu der EGMR allgemein unter Rn. 69 und bezogen auf den vorliegenden Fall unter den Rn. 82 ff). In der Erfahrung der Brigitte Heinisch hatten die früheren Bemängelungen von Missständen im Pflegeheim durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu keinerlei Veränderungen geführt. Nach ihren zahlreichen innerbetrieblichen Beschwerden gegenüber Vivantes, die alle erfolglos waren, war sie der Ansicht, dass eine Strafanzeige das letzte Mittel zur Behebung der Pflegmängel sei (EGMR a.a.O. Rn. 84).

35 EGMR a.a.O Rn. 90.

Whistleblower oder Denunziant?

1. Februar 2021 von benhop

Whistelblower oder Denunziant?


Beispiel 1: Whistelblower oder Denunziant?
Wenn die Pflegedienstleitung, die die Angestellten mit dem offenen Brief gegen Brigitte Heinisch in Stellung brachte, aufgefordert worden wäre, Brigitte Heinisch Whistelblowerin oder Denunziantin zu nennen, für welche Bezeichnung hätte sich die Pflegedienstleitung entschieden?


Beispiel 2: Whistelblower oder Denunziant?
Angenommen Edward Snowden hätte eine weitere Person in seine Pläne eingeweiht und diese Person hätte Edward Snowden’s Offenlegungs-pläne vorzeitig an einen Vorgesetzen der NSA weiter gegeben, wen würden Sie als Denunziant bezeichnen, Edward Snowden oder die Person, die Edward Snowdens Pläne an Vorgesetzte der NSA weiter gibt? Wen würde die NSA als Denunzianten bezeichen?


1. Schlussfolgerung aus diesen beiden Beispielen:


Ohne die Beachtung der unterschiedlichen Interessen von Arbeitgeber und Whistleblower kann der Whistleblower nicht präzise vom Denunzianten abgegrenzt werden. Welche Bezeichnung man wählt, hängt davon ab, auf wessen Seite man sich stellt, oder, anders gesagt, wessen Interessen man vertreten will. Früher hätte man gesagt: Es kommt auf den Klassenstandpunkt an. Es ist zu wünschen dass diese Begriffe wieder mehr Verwendung finden, weil sie zum besseren Verständnis beitragen können.

2. Die Ächtung von Whistelblowern als Denunzianten:


Peter Bleser (CDU/CSU) bezeichnete im Bundestag ganz allgemein Whistelblowerschutz als Denunziantenschutz:
Sie haben verlangt – das ist der Kern Ihrer Botschaft -, dass wir den Denunziantenschutz in Deutschland einführen
(Waltraud Wolff (Wolmirstedt), SPD: Da ist es wieder!)
Das bedeutet, dass Mitarbeiter ihren eignen (! – Zusatz durch Verf.) Betrieb bei Behörden denunzieren, indem sie entsprechende Ereignisse melden.
(Waltraud Wolff (Wolmirstedt), SPD: Schützen ist für Sie
Denunziantentum
! – Kerstin Tack, SPD: Sie sollten sich was schämen!“
(Protokoll der 83. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 9288).


Dabei folgte die CDU der Auffassung der Unternehmerverbände. Für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände erklärte ein Herr Roland Wolf auf der Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 4.06.2008 zu ‚Regelungen des Informantenschutzes für Arbeitnehmer‘:
Das ist ein schwerer Schlag gegen die Loyalität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Betrieb und wird ohne weiteres … die Gefahr fördern, dass es zu einem stärkeren Verstoß gegen Loyalitätpflichten, ja man muss sogar von Denunziantentum sprechen, kommt.“ (Wortprotokoll der 81. Sitzung, S. 11).


Den Vogel in dieser schmutzigen Kampagne schoss Volker Kauder ab, der wistleblower als „Blockwarte“ bezeichnete (so der Vorwurf des Abgeordneten Kelber an Kauder, Protokoll der 83. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 9288).

3. In der Regel besteht keine Verpflichtung, Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber anzuzeigen1.

………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………………..

1 Kittner/Däubler- Klebe BetrVG 16. Auflg. § 87 Rn. 62 mit Verweis auf Klebe/Wroblewski GS Zachert S. 314 (S. 318 ff. m.w.N.); LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 8.7.16 juris (Tz. 95 m.w.N.), Leitsatz: I.d.R. keine Verpflichtung, Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber anzuzeigen

Rechte des Betriebsrates

1. Februar 2021 von benhop

Rechte des Betriebsrates

1. Einigungsstelle nach § 85 BetrVG:

Bestehen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung der Beschwerde, so kann der Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen. Dies gilt jedoch nicht, soweit die Beschwerde ein Rechtsanspruch ist und damit der Beschäftigte, der sich beschwert, diesen Anspruch vor den Gerichten durchsetzen kann. Da die Entscheidung, ob eine Einigungsstelle eingesetzt wird oder nicht, nie weiter geht als bis zu den Landesarbeitsgerichten, wird je nach Bundesland unterschiedlich beurteilt, welche Beschwerden keine Rechtsansprüche sind und damit in einer Einigungsstelle über ihre Berechtigung entschieden werden kann. Typische Fälle sind in den Kommentaren zum § 85 BetrVG zu finden1. Nach einer Entscheidung des LAG Frankfurt kann eine Einigungsstelle über aus ableitbare Nebenansprüchen entscheiden, die nicht klar gegeben, nicht allgemein anerkannt und nicht oder nur schwer konkretisierbar sind2. Bejaht die Einigungsstelle die Berechtigung der Beschwerde, muss der Arbeitgeber ihr abhelfen3. Diese Möglichkeit der Beschwerde leidet unter nicht nur der Einschränkung, dass eine individuelle Beeinträchtigung verlangt wird (siehe oben), sondern darunter, dass die Einigungsstelle nur über die Beschwerde entscheiden kann, wenn kein Rechtsanspruch besteht.

Eine entsprechende Vorschrift fehlt im PersVG.

2. Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG

Sogenannte „Compliance-Regeln“ (Regeln zur Regeltreue) oder „Ethik-Richtlinien“ können mitbestimmungsfreie und mitbestimmungspflichtige Regeln enthalten. Mitbestimmungsfrei sind Regelungen, die lediglich die „UN-Philosophie“, allgemeine Programmsätze uns Selbstverpflichtungen des UN wiedergeben, oder Regeln, die ausschließlich das Arbeitsverhältnis betreffen. Mitbestimmungspflichtig sind dagegen Vorschriften zum allgemeinen Ordnungsverhalten, so z.B. Vorschriften zur Mitteilung von Verstößen gegen eine solche „Ethik-Richtlinie“, hotlines für Whistleblower, Telefonleitungen, auf denen Beschäftigte Verstöße von Kollegen gegen Gesetze oder interne Richtlinien persönlich oder anonym melden können/sollen/müssen. Allerdings sind solche Regelungen nur sehr begrenzt zulässig4.

3. Mitbestimmungsrechte abhängig vom Missstand

Der Betriebsrat hat, anhängig vom angezeigtem Missstand, Mitbestimmungsrechte, mit denen er ggfs. gegen die angezeigten Missstände vorgehen kann; z.B. im Fall der von Brigitte Heinisch angezeigten Missstände eine Gefährungsanalyse und die sich daraus ergebenden notwendigen Maßnahmen erzwingt (§ 5 ArbSchG).

4. Der Betriebsrat macht selbst Missstände öffentlich, nachdem interne und / oder externe Meldungen keinen Erfolg gebracht haben.

Hinweis: Eine Offenlegung (Öffentlichmachung) sollte unter allen Umständen nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.

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1 Z.B. Kittner/Däubler- Buschmann BetrVG 16. Auflg. § 85 Rn. 16

2 LAG Frankfurt15.9.92 – 4 TaBV 52/92; ebenso 12.3.02 – 4 TaBV 75/01 ; 3.3.09 – 4 TaBV14/09; Kittner/Däubler- Buschmann BetrVG 16. Auflg. § 85 Rn. 18

3 LAG München 27.11.90 – 2 Sa 542/90; Kittner/Däubler- Buschmann BetrVG 16. Auflg. § 85 Rn. 25

4 Kittner/Däubler- Klebe BetrVG 16. Auflg. § 87 Rn. 62 mit Verweis auf Klebe/Wroblewski GS Zachert S. 314 (S. 318 ff. m.w.N.); LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 8.7.16 juris (Tz. 95 m.w.N.), Leitsatz: I.d.R. keine Verpflichtung, Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber anzuzeigen

Für ein besseres Recht

Inhaltsverzeichnis:

  1. Forderung: Freie Wahl zwischen interner und externer Meldung beibehalten 
  2. Forderung: Allgemein interessierende Rechtsverstöße müssen veröffentlicht werden können
  3. Forderung: Anonymisierung
  4. Forderung: Allgemeiner Schutz des Whistleblowing, auch bei wesentlichen Sicherheitsinteressen und Verschlusssachen
  5. Forderung: Bei Strafanzeigen nur dann kein Schutz, wenn wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden 
  6. Forderung: Nicht nur Bekanntmachung von Rechtsverstössen, auch Bekanntmachung von Missständen schützen

2. Februar 2021 von benhop

Sechs Forderungen für einen besseren Whistleblower-Schutz

Im Folgenden seien sechs Punkte genannt, die bei der Umsetzung der EU-Verordnung in deutsches Recht beachtet werden sollten:  

1. Forderung: Freie Wahl zwischen interner und externer Meldung beibehalten 

Nach der EU-Richtlinie kann ein Whistleblower frei wählen zwischen der unternehmensinternen Meldung und der externen Meldung an eine zuständige Behörde[1]Art. 10 der EU-Richtlinie. Diese Regelung war nicht selbstverständlich[2] Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und … Continue reading.

Besonders massiv wurde diese freie Wahl von den Unternehmerverbänden bekämpft. Sie distanzieren sich einerseits von den „schwarzen Schafen“, deren bekannt gewordene Missstände sie nicht klein reden können, andererseits tun sie alles, nicht nur die Veröffentlichung, sondern schon die externe Meldung an Behörden oder andere zuständige Stellen zu verhindern und machen sich damit zum Fürsprecher eben dieser „schwarzen Schafe“, mit denen sie nichts zu tun haben wollen. Damit nehmen sie hin, dass sich diese „schwarzen Schafe“ durch rechtswidrige Praktiken Marktvorteile auf Kosten von Unternehmen verschaffen, die sich gesetzestreu verhalten.

Dagegen machte eine wirksame Zusammenarbeit von Journalistenverbänden und Gewerkschaften und dem Wistleblower-Netzwerk[3]https:// www.whistleblower-net.de erfolgreich mobil. Jetzt geht es darum, dass die in der EU-Verordnung enthaltene freie Wahl des Whistelblowers zwischen unternehmensinterner und externer Mitteilung (an eine zuständige Behörde)  in ein deutsches Gesetz übernommen wird. Diese freie Wahl muss auch in anderen Bereichen gelten wie etwa im Arbeitsschutz[4]Nach § 17 Abs. 2 ArbSchG ist die externe Meldung nur erlaubt, wenn der Arbeitgeber der internen Beschwerde von Beschäftigten nicht abhilft. Siehe dazu auch unter Nr. 8 in dem folgenden … Continue reading.

2. Forderung: Allgemein interessierenden Rechtsverstöße müssen veröffentlicht werden können

Eine Weitergabe von unternehmensinternen Rechtsverstößen an Journalisten und die Veröffentlichung in Presse, Funk und Fernsehen darf nicht  regelmäßig nur unter Vorbehalt erlaubt sein. Zur Voraussetzung darf also nicht gemacht werden, dass eine unternehmensinterne Meldung oder eine externe Meldung bei einer  zuständigen Behörde keinen Erfolg hatte[5]Abs. 1 a)  Art. 15 EU-Richtlinie.

Das Recht des Whistelblowing muss so gefasst sein, dass “bei allen Äußerungen von Beschäftigten, die nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen erfolgen sowie eine das öffentliche Interesse wesentlich berührende Frage betreffen, eine gesetzliche Vermutung für den Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit vor anderen rechtlich geschützten Interessen spricht“ [6]D. Deiseroth, Neue Vorgaben für die deutschen Gerichte aus Straßburg? Der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit von Beschäftigten nach Art.10 EMRK, in: ZRFC 2/12 S.66-71, S.71; siehe auch … Continue reading

Die effektivste Möglichkeit der Bekämpfung von Missständen und Rechtsverstößen in Unternehmen ist ihre Veröffentlichung.

3. Forderung: Anonymisierung

Viele Überwachungsbehörden (Medizinische Dienst der Krankenkassen, Lebensmittekontrollen, Landesämter für Arbeitsschutz  usw.) bemühen sich, die Namen der Beschäftigten, die Missstände angezeigt haben, nicht preiszugeben. Diese Verschwiegenheitspflicht muss durch Gesetz gestützt und, soweit das geht, zur Pflicht gemacht werden.    

4. Forderung: Allgemeiner Schutz des Whistleblowing, auch bei wesentlichen Sicherheitsinteressen und Verschlusssachen

Die EU-Richtlinie erfasst nur Informationen über Verstöße gegen EU-Recht, lässt aber eine Erweiterung des Anwendungsbereichs zu[7]Abs. 2 des Art. 2 der EU-Richtlinie und Abs. 5 der Erwägungsgründe der EU-Richtlinie.

Das deutsche Gesetz zum Whistleblowerschutz sollte allgemein gelten, also nicht nur für Verstöße gegen EU-Recht, und nicht nur für bestimmte Bereiche – Umweltschutz, Ernährung Gesundheit, usw. – wie sie in der EU-Richtlinie aufgezählt werden[8]Abs. 1 a) des Art. 2 der EU-Richtlinie. Im deutschen  Recht sollte auf eine Aufzählung bestimmter Anwendungsbereiche  verzichtet werden.  Auf die Freiheit der Meinungsäußerung darf auch dann nicht verzichtet werden, wenn es um die Gewährleistung der „nationalen Sicherheit“[9]Abs. 2 Art 3 der EU-Richtlinie oder um „wesentliche Sicherheitsinteressen“[10]Abs. 2 Art 3 der EU-Richtlinie oder den „Schutz von Verschlusssachen“[11]Abs. 3 a) des Art 3 der EU-Richtlinie geht. Wollen wir auf den Schutz von Whistleblowern wie Daniell Ellsberg, Edward Snowden oder Chelsea Manning verzichten? Es wäre fatal, wenn gerade in diesen Sicherheitsbereichen Rechtsverstöße nicht erkannt werden, weil sie wegen fehlendem Whistleblower-Schutz nicht offengelegt wurden. Ein deutsches Gesetz muss auch Whistleblower wie Chelsea Manning vor staatlicher Verfolgung schützen, auch Menschen wie Edward Snowden. Wäre Snowden nicht an die Öffentlichkeit gegangen, hätte das Bundesverfassungsgericht niemals eine Entscheidung treffen können, die  dem Bundesnachrichtedienst zumindest Grenzen bei der Überwachung internationaler Datenströme aufzeigt[12]Andre Meister am 19.05.2020 um 10:30 Uhr in https:// netzpolitik.org/2020/das-neue-bnd-gesetz-ist-verfassungswidrig/.

5. Forderung: Bei Strafanzeigen nur dann kein Schutz, wenn wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden 

Das Bundesverfassungsgericht  hat festgestellt, dass aus rechtsstaatlichen Gründen eine Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber  im Regelfall keine fristlose Kündigung rechtfertigen kann. Wer eine Strafanzeige erstattet, übt ein staatsbürgerliches Recht aus. Ein Whistleblower ist nur dann nicht mehr geschützt, wenn er in seiner Strafanzeige wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben macht[13]BVerfG v.  2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00; diese Entscheidung des BVerfG wird auch zitiert in EGfMR Nr. 28274/08 Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland Rn. 34. Nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts kommt es also nicht darauf an, ob der Verdacht begründet ist[14]so aber die EU-Richtlinie in Ziff. 2 Art. 6. Das zu prüfen ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft[15]EGfMR v.21.7.2011 Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland Rn. 80. Diese  Prüfung kann von der anzeigenden Person nicht verlangt werden. Es  kommt nicht einmal darauf an, ob die Angaben in der Strafanzeige wahr sind. Entscheidend ist das Kriterium des Bundesverfassungsgerichts: Der Anzeigende darf seinen Verdacht nicht mit wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben begründen.  

6. Forderung: Nicht nur bei der Bekanntmachung von Rechtsverstößen, auch Bekanntmachung von Missständen schützen!

Ein gesetzlicher Schutz von Whistleblowern sollte nicht nur die Weitergabe von Rechtsverstößen schützen, wie es die die EU-Richtlinie vorsieht. Wie in § 5 Nr. 2 Geschäftsgeheimnisgesetz sollte Whistleblowing auch dann geschützt werden, wenn es sich nicht um Rechtsverstöße, sondern um Missstände handelt.

References

References
1 Art. 10 der EU-Richtlinie
2  Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und externer-meldung-prof-dr-ninon-colneric
3 https:// www.whistleblower-net.de
4 Nach § 17 Abs. 2 ArbSchG ist die externe Meldung nur erlaubt, wenn der Arbeitgeber der internen Beschwerde von Beschäftigten nicht abhilft. Siehe dazu auch unter Nr. 8 in dem folgenden link: https://widerstaendig.de/2021/02/01/individuelle-rechte-ausfuehrlich/
5 Abs. 1 a)  Art. 15 EU-Richtlinie
6 D. Deiseroth, Neue Vorgaben für die deutschen Gerichte aus Straßburg? Der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit von Beschäftigten nach Art.10 EMRK, in: ZRFC 2/12 S.66-71, S.71; siehe auch Annegret Falter “Wistleblowerschutz in Deutschland vor der gesetzlichen Regelung” Festschrift Zöpel
7 Abs. 2 des Art. 2 der EU-Richtlinie und Abs. 5 der Erwägungsgründe der EU-Richtlinie
8 Abs. 1 a) des Art. 2 der EU-Richtlinie
9, 10 Abs. 2 Art 3 der EU-Richtlinie
11 Abs. 3 a) des Art 3 der EU-Richtlinie
12 Andre Meister am 19.05.2020 um 10:30 Uhr in https:// netzpolitik.org/2020/das-neue-bnd-gesetz-ist-verfassungswidrig/
13 BVerfG v.  2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00; diese Entscheidung des BVerfG wird auch zitiert in EGfMR Nr. 28274/08 Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland Rn. 34
14 so aber die EU-Richtlinie in Ziff. 2 Art. 6
15 EGfMR v.21.7.2011 Beschwerde Nr. 28274/08 Heinisch ./. Deutschland Rn. 80

Welche Rechte haben Wistleblower?

Inhaltsverzeichnis:

1. Februar 2021 von benhop

Whistelblower Rechte im Detail

I. Interne Meldung von Missständen im Betrieb oder Büro

Bei Whistleblowing denkt man zunächst immer an die Veröffentlichung betriebliche Missstände, also zum Beispiel an die Weitergabe betrieblicher Missständen an die Presse. Aber es ist ganz unstreitig, dass auch die interne Mitteilung eines Missstandes im Betrieb oder Unternehmen Whistleblowing ist.

1. Whistleblowing als Meldung von gesetzlichen Verstößen?

Häufig wird von Whistleblowing nur dann gesprochen, wenn es um Verstöße gegen geltendes Recht geht oder wenn zumindest darum geht, dass gegen Ziel oder Zweck einer Rechtsvorschrift verstoßen wurde. So zum Beispiel eine erst vor kurzem beschlossene EU-Richtlinie 2019/1937. Aber das ist zu eng gefasst. Es sollten auch Kolleginnen und Kollegen geschützt werden, die Missstände mitteilen, die sich nicht auf ein Gesetz beziehen. Im vorliegenden Fall wäre es zum Beispiel nicht angebracht, darüber zu streiten, ob gegen ein Gesetz oder gegen Ziel oder Zweck eines Gesetzes verstoßen wurde. Die Pflege litt auf jeden Fall unter schweren Mängeln. Und diese Pflegemängel beruhten auf Personalmangel. Es sollte nicht darauf ankommen, ob dabei gegen ein Gesetz verstoßen wird oder nicht.

2. Zum Beschwerderecht nach § 17 ArbSchG:

Dieses Whistelblowing in Form einer Überlastungsanzeige stützt sich auf § 17 ArbSchG. In § 17 ArbSchG geht es um ein Vorschlags- und ein Beschwerderecht der Beschäftigten gegenüber dem Arbeitgeber bei „allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit“. Dabei geht es um die Sicherheit und die Gesundheit aller Beteiligten, also auch der zur Pflege anvertrauten Personen. Weitere Informationen dazu, was bei einer Überlastungsanzeige konkret zu beachten, findet man unter Überlastungsanzeige:

3. Zum Beschwerderecht nach § 13 AGG:

Auch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ermöglicht „den Beschäftigten“ in § 13 die Beschwerde bei den zuständigen Stellen des Betriebes, des Unternehmens oder der Dienststelle. Sie können sich beschweren, wenn sie sich vom Arbeitgeber, vom Vorgesetzten, anderen Beschäftigten oder Dritten wegen ihrer Rasse, ethnischen Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, sexueller Identität oder ihres Alters benachteiligt fühlen. Die Beschwerde ist zu prüfen und das Ergebnis der bzw. dem beschwerdeführenden Beschäftigten mitzuteilen. Die Rechte der Arbeitnehmervertretungen bleiben unberührt (§ 13 Absatz 2 AGG), insbesondere das Recht des Betriebsrates nach § 85 Absatz 2 BetrVG eine Einigungsstelle zu bilden.

4. Beschwerde nach den §§ 84, 85 BetrVG:

Ein Beschäftigter kann sich nach § 84 BetrVG betriebsintern bei der „zuständigen Stelle“ über jede individuelle Benachteiligung oder Beeinträchtigung beschweren. Deswegen kann sich ein Beschäftigter nach § 85 BetrVG auch beim Betriebsrat beschweren. Dabei können sich auch mehrere Beschäftigte zur gleichen Zeit über ihre individuelle Beeinträchtigung beschweren, was wie eine Arbeitsniederlegung wirken kann. Entsprechende Vorschriften existieren nicht im PersVG. Diese Möglichkeit der Beschwerde leidet u.a. unter der Einschränkung, dass eine individuelle Beeinträchtigung verlangt wird. Sie erfasst damit eine Vielzahl von Missständen nicht, die ein Whistleblower melden oder offenlegen will.

5. Zur internen Meldung nach der EU-Richtlinie:

Wir haben oben schon die EU-Richtlinie 2019/1937 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das EU Recht melden, erwähnt[1] Sie kann im Internet eingesehen werden unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=serv:OJ.L_. 2019.305.01.0017.01.DEU&toc=OJ:L:2019:305:TOC. Sie muss bis zum 17. … Continue reading. Die Artikel 8 und 9 dieser Richtlinie verpflichten bei mehr als 50 Beschäftigten zur Einrichtung einer internen Stelle zur Meldung von Verstößen gegen EU-Recht und regeln das Verfahren für diese interne Meldungen und die Folgemaßnahmen.

6. Kollektives Whistleblowing:

In der Regel denkt man beim Whistleblowing an einzelne mutige Menschen, die einen betrieblichen Missstand bekannt machen. Aber in dem konkreten Fall der Überlastungsanzeige der Brigitte Heinisch und der sieben weiteren Kolleginnen und Kollegen waren es nicht ein, sondern mehrere Menschen, die die Überlastungsanzeige stellten. Es gibt Fälle, in denen es eher ausgeschlossen ist, dass der Hinweisgeber mit mehreren Menschen zusammen Missstände bekannt macht. Man denke nur an Edward Snowden. Jede weitere Person wäre für ihn ein unkalkulierbares Risiko geworden. Die Gefahr wäre zu groß gewesen, dass weitere Personen, die er in sein Tun „einweiht“, ihn verraten hätten, bevor er die Dokumente und sich selbst in Sicherheit hätte bringen können.Doch das gilt nicht in allen Fällen. Sowohl das Arbeitsschutzgesetz (§ 17) als auch das Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (§ 13) sieht ausdrücklich vor, dass „die Beschäftigten“ eine Beschwerde einreichen können. Gemeinsames Handeln kann auch weniger Mutige mutig machen und dem Anliegen mehr Nachdruck verleihen. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Gesetz sollte darauf geachtet werden, dass Whistleblowing nicht nur als ein Individualrecht ausgestaltet wird, sondern auch als kollektives Recht wahrgenommen werden kann.

II. Die externe Meldung von Missständen im Betrieb oder Büro

Eine externe Meldung im Sinne der Terminologie der EU Richtlinie 2018/0106 zum Schutz von Whistleblowern ist nicht die Öffentlichmachung von betrieblichen Missständen, sondern eine Meldung an die zuständigen Behörden.

7. Zuständige Behörden:

Als zuständige Behörden kommen bei einem Altenpflegeheim der Medizinische Dienst der Krankenkassen und die Heimaufsicht in Betracht. In der Lebensmittelbranche führen die Lebensmittelkontrollen die Aufsicht. Allen diesen Ämtern können die Beschäftigten betriebliche Missstände mitteilen.

8. Erst interne, dann externe Meldung?

Ein Beispiel: § 17 Absatz 2 ArbSchG sieht vor, dass sich die Beschäftigten an die „zuständige Behörde“ erst wenden sollen, wenn „der Arbeitgeber ihrer Beschwerde nicht abhilft“. Die zugrunde liegende Rahmen-Richtlinie 89/9392/EWG enthält diese Einschränkung jedoch nicht. Es gibt auch keine Sanktionen, wenn ein Beschäftigter den Missstand nicht erst betriebsintern meldet, sondern sich sofort an die Gewerbeaufsicht wendet. Ein zweistufiges Verfahren, wie es das Arbeitsschutzgesetz vorsieht, passt nicht zu der EU-Richtlinie 2019/1937 zum Whistlerblowerschutz, die keine Rangfolge zwischen interner und externer Meldung vorschreibt: Ein Whistleblower kann einen Missstand direkt extern der zuständigen Behörde melden. Allerdings ist das Arbeitsschutzrecht aus dieser Whistleblower EU-Richtlinie 2019/1937 herausgenommen[2]§ 27 Absatz 3 Satz 2 a.E. und Erwähnungsgrund. Es kommt darauf an, dass das Arbeitsschutzrecht so geändert wird, dass Beschäftigte extern ohne vorherige interne Beschwerde der zuständigen Behörde Missstände im Arbeitsschutzrecht melden können.

Bei der Ausformulierung der EU-Richtlinie 2019/1937 zum Whistlerblowerschutz war zunächst sehr streitig, ob ein Missstand betriebsintern mitgeteilt werden muss, bevor er extern der zuständigen Behörde mitgeteilt werden darf. Die Arbeitgeberverbände haben sich immer für dieses zweistufige Verfahren eingesetzt. Die Gewerkschaften haben immer zusammen mit dem Whistleblower Netzwerk den gegenteiligen Standpunkt vertreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nie einen Vorrang der betriebsinternen Meldung gefordert[3]Der EGMR Heinisch ./. Deutschland in Rn. 65 allgemein zur Frage der Nutzung anderer Kanäle (bevor ein Whistleblower die Öffentlichkeit informiert): „Wegen der Pflicht zur Loyalität und … Continue reading. Die jetzt beschlossene Richtlinie schreibt kein zweistufiges Verfahren vor, sondern lässt dem Whistleblower die Wahl: Ein Whistleblower kann also einen Missstand direkt extern der zuständigen Behörde melden – unter Umgehung der betriebsinterne Meldestelle.

In jedem Fall verlangt die Richtlinie, dass Vertraulichkeit gewährleistet wird. Es wird darauf ankommen, dass beide Regelungen – freie Wahl interner oder externer Meldung und Vertraulichkeit – bei der Umsetzung in deutsches Recht nicht aufgegeben oder verwässert werden.

9. Externe Meldung durch Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft.

Eine wichtige Behörde, die für einen Whistleblower für eine „Externe Meldung“ genutzt werden kann, haben wir bisher noch nicht genannt: Die Staatsanwaltschaft, bei der Anzeige erstattet werden kann, wenn der Verdacht auf eine Straftat besteht. Hinweis: Eine Strafanzeige sollte nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.

10. Keine wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben.

Dabei muss der Anzeigende nicht beweisen, dass die Straftat tatsächlich begangen wurde. Für denjenigen, der eine Straftat anzeigt, dürfen nicht andere höhere Anforderungen gemacht werden als für denjenigen, der außerhalb eines Betriebs eine Straftat anzeigt. Daher kommt es nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[4]BVerfG 2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00 Rn.20 allein darauf an, dass derjenige, der den Verdacht auf eine Straftat seines Arbeitgebers bei der Staatsanwaltschaft anzeigt, nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben macht.

Hinweis: Das gilt für alle internen oder externen Meldungen eines Whistleblowers: Der Anzeigende darf nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben machen. Dagegen sind die Anforderungen, die die  EU-Richtlinie 2019/1937 an interne oder auch externe Meldungen stellt, zu hoch. Sie verlangen, dass Whistleblower “hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die gemeldeten Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen”[5]Artikel 6 Absagz 1 a) der EU-Richtlinie 2019/1937.

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III. Die Offenlegung (Öffentlichmachung)

Offenlegung wird die Weitergabe an Presse , Funk und Fernsehen genannt.

11. Regel: Erst interne oder externe Meldung, dann Offenlegung

Nach der Rechtsprechung des EGfMR ist eine Offenlegung nur das letzte Mittel zur Beseitigung von Missständen:„Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden. Nur wenn dies eindeutig unpraktikabel ist, darf als ultima ratio die Öffentlichkeit informiert werden. Für die Beurteilung, ob die Einschränkung der Meinungsfreiheit verhältnismäßig war, muss der Gerichtshof daher berücksichtigen, ob dem Beschwerdeführer andere wirksame Mittel zur Verfügung standen, um etwas gegen den angeprangerten Missstand zu tun” [6]EGMR Heinisch Rn. 65; siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 73.

In der EU-Richtlinie 2019/1937 ist die Regel: Vor der Offenlegung (Öffentlichmachung) ist der betriebliche Missstand in aller Regel zunächst interne und extern oder extern zu melden[7]Artikel 15 EU-Richtlinie 2019/1937 .

12. Ausnahmsweise Offenlegung ohne vorherige externe Meldung

Eine Offenlegung ohne vorherige interne und externe oder externe Meldung ist nach der Whistleblower-Richtlinie der EU 2019/1937 nur zulässig, wenn 1. der Whistleblower hinreichenden Grund zu der Annahme hat, dass der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann, so z. B. in einer Notsituation oder bei Gefahr eines irreversiblen Schaden, oder 2. im Fall einer externen Meldung Repressalien zu befürchten sind oder 3. aufgrund der besonderen Umstände des Falls geringe Aussichten bestehen, dass wirksam gegen den Verstoß vorgegangen wird, beispielsweise weil Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten oder wenn zwischen einer Behörde und dem Urheber des Verstoßes Absprachen bestehen könnten oder die Behörde an dem Verstoß beteiligt sein könnte[8]Artikel 15 Absatz 1 der EU Richtlinie im Wortlaut: (1) Ein Hinweisgeber, der Informationen offenlegt, hat Anspruch auf Schutz im Rahmen dieser Richtlinie, wenn eine der folgenden Bedingungen … Continue reading.

Wenn die Öffentlichkeit informiert wird, ist besonders sorgfältig ist die Richtigkeit der Angaben zu prüfen, die an die Öffentlichkeit gegeben werden sollen.

Hinweis: Eine Offenlegung (Öffentlichmachung) sollte nur unter Zuhilfenahme eines Anwalts erfolgen.

IV. Wertung der Regeln zur Mitteilung und Offenlegung

13. Meldung vor Offenlegung‘ ist kein Schutz von Whistleblowern, sondern ein besonderer Schutz der Unternehmen vor freier Meinungsäußerung:

Der Vorrang der externen Meldung (an die zuständige Behörde) vor der Offenlegung (Öffentlichmachung) ist ein besonderer Schutz der Unternehmen vor der freien Meinungsäußerung und wird aus einer arbeitsvertraglichen Loyalitätspflicht hergeleitet. Eine Kündigung wegen Verletzung dieser Loyalitätspflicht – das ist ein Recht, das nur die Unternehmen geltend machen können[9]Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan … Continue reading. Auch Vivantes machte dieses Recht geltend und kündigte Brigitte Heinisch. Würde gegenüber dem Arbeitgeber das Recht auf freie Meinungsäußerung in demselben Umfang gelten wie sonst im zivilen Leben, dann müsste sich ein Arbeitgeber mit den außerhalb des Arbeitslebens üblichen Abwehrrechte zufrieden geben (Strafanzeige wegen falscher Verdächtigung, zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz und Unterlassung usw.).

14. Aus der Geschichte lernen!

Whistelblowerinnen und Whistelblower stützen sich auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung.

Der Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung (WRV) enthielt einen viel weitergehenden Schutz als heute die überwiegende Rechtsmeinung dem Whistelblowing einräumen will. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde in der Weimarer Reichsverfassung durch folgende Ergänzung zusätzlich geschützt: „An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht“ (Art. 118 Absatz 1 Satz 2 WRV).

Diese Verfassung war geprägt von der Novemberrevolution 1918, der Geburtsstunde der ersten Republik in Deutschland. Der erste Aufruf der neuen Regierung, dem Rat der Volksbeauftragten, verkündete am 12. November 1918 neben dem 8-Stunden-Tag die bürgerlichen Rechte, so unter Ziff. 4: „Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist frei“. Die Novemberrevolution war stark von dem Bestreben geprägt, auch in den Betrieben, den Unternehmen und der gesamten Wirtschaft mehr Demokratie durchzusetzen. So wurden die Enteignung (Sozialisierung) von großen Unternehmen und Arbeiter-, Bezirks- und Wirtschaftsräte gefordert. Die Enteignungsforderung schlug sich in Art. 156 Satz 1 WRV (heute: Art 15 GG) nieder und die Forderung nach Räten in Art. 165 WRV. Die Betriebsräte stehen in dieser Tradition, die erste Betriebsverfassung wurde mit dem Betriebsrätegesetz von 1920 beschlossen (heute: Betriebsverfassungsgesetz). Und das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte uneingeschränkt auch in den Betrieben und Unternehmen gelten; es wurde deswegen durch den oben zitierten Zusatz (Art. 118 Absatz 1 Satz 2 WRV) besonders geschützt.

Würde dieser Zusatz heute noch gelten und Wortlaut sowie Sinn und Zweck dieser Regelung ernst genommen, so gäbe es kein Sonderrecht der Unternehmen zum Schutz vor unliebsamen Meinungsäußerungen. Ebenso wie Whistleblower wählen können, ob sie einen Missstand zunächst betriebsintern oder sofort und direkt extern einer zuständigen Behörde melden, müssten Whistelblower auch frei wählen können zwischen interner bzw. externer Meldung eines Missstandes und dem sofortigen und unmittelbaren Gang an Presse, Funk oder Fernsehen.

References

References
1  Sie kann im Internet eingesehen werden unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=serv:OJ.L_. 2019.305.01.0017.01.DEU&toc=OJ:L:2019:305:TOC. Sie muss bis zum 17. Dezember 2021 in nationales Recht umgesetzt werden; geschieht das nicht, kann man sich nach Ablauf dieser Frist unmittelbar auf diese EU-Richtlinie berufen.
2 § 27 Absatz 3 Satz 2 a.E. und Erwähnungsgrund
3 Der EGMR Heinisch ./. Deutschland in Rn. 65 allgemein zur Frage der Nutzung anderer Kanäle (bevor ein Whistleblower die Öffentlichkeit informiert): „Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden“. Zu beachten ist das „oder“, mit dem die möglichen Kanäle aufgezählt werden; die Vorgesetzten als betriebsinterner ‚Kanal‘ und die externe zuständige Behörde werden gleichrangig nebeneinander genannt. Micha Heilmann, NGG in der öffentlichen Anhörung am 4.6.2008 des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Protokoll Nr. 16/81 – neu): Ein Arbeitnehmer „wendet sich an die Lebensmittelbehörden, oder er wendet sich an den Datenschutzbeauftragten oder die Staatsanwaltschaft. Dann fängt die Prüfung erst an. Damit steht ja nicht fest, dass das was der Arbeitnehmer dort aufgrund von konkreten Anhaltspunkten berichtet hat, sozusagen automatisch zutreffend ist. Es geht darum, eine Prüfung zu ermöglichen, zu sagen, hier liebe Behörden, hört mich an und ich möchte, dass das geklärt wird. Ein absoluter Vorrang innerbetrieblicher Klärung wäre das Letzte, was man gebrauchen kann.“
4 BVerfG 2. Juli 2001 Az.: 1 BvR 2049/00 Rn.20
5 Artikel 6 Absagz 1 a) der EU-Richtlinie 2019/1937
6 EGMR Heinisch Rn. 65; siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 73
7 Artikel 15 EU-Richtlinie 2019/1937
8 Artikel 15 Absatz 1 der EU Richtlinie im Wortlaut:

(1) Ein Hinweisgeber, der Informationen offenlegt, hat Anspruch auf Schutz im Rahmen dieser Richtlinie, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

a) Er hat zunächst intern und extern oder auf direktem Weg extern gemäß den Kapiteln II und III Meldung erstattet, aber zu seiner Meldung wurden innerhalb des Zeitrahmens ……… keine geeigneten Maßnahmen ergriffen oder

b) der Hinweisgeber hat hinreichenden Grund zu der Annahme, dass

i) der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann, so z. B. in einer Notsituation oder bei Gefahr eines irreversiblen Schadens; oder

ii) im Fall einer externen Meldung Repressalien zu befürchten sind oder aufgrund der besonderen Umstände des Falls geringe Aussichten bestehen, dass wirksam gegen den Verstoß vorgegangen wird, beispielsweise weil Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten oder wenn zwischen einer Behörde und dem Urheber des Verstoßes Absprachen bestehen könnten oder die Behörde an dem Verstoß beteiligt sein könnte.

Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1866-3, S. 287 ff), ist von einer ausgeprägten Blindheit geschlagen. Denn die Folge dieser Kündigung trägt ganz allein der Beschäftigte, der sich auf diese Weise gegen die Illoyalität des Arbeitgebers wehren will. Aus Empörung über die Illoyalität des Arbeitgebers schadet sich der Beschäftigte nur selbst, der sich mit der eigenen Entlassung (und nicht der Entlassung des Arbeitgebers) seine eigene Existenzgrundlage entzieht. Die Illoyalität des Arbeitgebers beginnt im Übrigen schon damit, dass er tagtäglich die Dienste als die seinen ausgibt und verkauft, obwohl die Beschäftigten sie erbracht haben.

9 Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1866-3, S. 287 ff), ist von einer ausgeprägten Blindheit geschlagen. Denn die Folge dieser Kündigung trägt ganz allein der Beschäftigte, der sich auf diese Weise gegen die Illoyalität des Arbeitgebers wehren will. Aus Empörung über die Illoyalität des Arbeitgebers schadet sich der Beschäftigte nur selbst, der sich mit der eigenen Entlassung (und nicht der Entlassung des Arbeitgebers) seine eigene Existenzgrundlage entzieht. Die Illoyalität des Arbeitgebers beginnt im Übrigen schon damit, dass er tagtäglich die Dienste als die seinen ausgibt und verkauft, obwohl die Beschäftigten sie erbracht haben

Missstände am Arbeitsplatz bekannt machen

Inhaltsverzeichnis:

  1. 1. Whistleblower
  2. 1. Whistleblower oder Unternehmen schützen?
  3. 2.1 Die besonderen Sanktionsmöglichkeiten eines Unternehmers gegen seine Beschäftigten
  4. 2.2. Keiner Pflicht, einen Missstand zuerst intern zu melden
  5. 2.3 Unterrichtung der Öffentlichkeit als letztes Mittel?
  6. 2.4 Das Arbeitsverhältnis als Herrschaftsverhältnis
  7. 3. Umsetzung von EU-Recht in deutsches Recht
  8. 4. Zusammenfassung
  9. 5. Hinweis für Journalisten

2. Februar 2021 von benhop

“Alles zu retten
Muss alles gewagt werden.
Ein verzweifeltes Übel
Will eine verwegene Tat”
Friedrich Schiller: Aus “Die Verschwörung des Fiesco zu Genua”

Whistleblowing

1. Whistleblower

Whistleblower sind Menschen, die unternehmensinterne Missstände bekannt macht. Eine Person ist auch ein whistleblower, die Missstände der öffentlichen Einrichtung, in der sie arbeitet, bekannt macht.

Daniell Ellsberg war ein Whistleblower. Er kopierte als Mitarbeiter im Verteidigungsministerium die so genannten Pentagon Papiere. Diese Papiere zeigten, dass bereits Vorbereitungen für einen Krieg gegen Vietnam  getroffen worden waren, als US-Präsident Johnson noch behauptete, nicht in Vietnam intervenieren zu wollen. Die Papiere zeigten auch, dass der Krieg trotz steigender amerikanischer Verluste weiter geführt werden sollte, um Vietnam auszubluten. Die New York Times begann 1971, sie abzudrucken. US-Präsident Nixon verbot die weitere Veröffentlichung. Dieses Veröffentlichungsverbot wurde vom obersten Gerichtshof der USA aufgehoben. Das Geheimhaltungsinteresse des Staates müsse im Zweifelsfall hinter den Interessen der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit zurückstehen.

Miroslav Strecker war ein Whistleblower. Ihm wird als LKW-Fahrer bekannt, dass die Wertfleich GmbH Wurst- und Fleischfabrik Fleischabfälle zu Dönerfleisch verarbeitet und gibt das an die Gewerbeaufsicht weiter. Der Bundesminister für Landwirtschaft und Forsten, Horst Seehofer, ehrt ihn 2007 mit der „Goldenen Plakette“ für Zivilcourage. Strecker wird krank wegen eines Rückenleidens. Nachdem er wieder gesund ist, erhält er die Kündigung. Jetzt arbeitet er als Busfahrer (https://www.anstageslicht.de/menschen-dahinter/miroslav-strecker/).     

Brigitte Heinisch war eine Whistleblower. Sie bekam den Whistleblower-Preis der Vereinigug deutscher Wissenschaftler. Wegen schwerer Pflegemängel in einem Altenpflegeheim von Vivantes, in dem sie als Altenpflegerin arbeitet, erstattete sie Strafanzeige gegen ihre eigene Arbeitgeberin, die Vivantes – Netzwerk für Gesundheit GmbH. Brigitte Heinisch wird krank, auch wegen der Belastungen in diesem Konflikt. Der Kern ihrer Kritik: Personalmangel führte zu schweren Pflegemängeln. Vivantes kündigt ihr zunächst wegen ihrer Krankheit, dann erneut, fristlos, wegen des „Verdachts der Initiierung eines Flugblattes“, in dem gegen die unhaltbaren Zustände in dem Pflegeheim und ihre erste Kündigung protestiert wurde. Brigitte Heinisch klagt gegen diese Kündigungen. In der ersten Instanz gewinnt sie, weil das Flugblatt durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. In der zweiten Instanz verliert sie wegen der Strafanzeige, die sie erstattet hatte. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wertet diese Strafanzeige als rechtmäßig. Die Kündigung war eine Verletzung der  Meinungsäußerungsfreiheit, auf die sich Brigitte Heinisch bei ihrer Strafanzeige berufen konnte (Entscheidung des EGfMR Nr. 28174/08 vom 11. Oktober 2011 Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland). 

Romana Knezevic ist Whistleblower. Sie arbeitet als Krankenpflegerin in der Asklepios-Klinik St. Georg in Hamburg, ist dort Mitglied des Betriebsrates und seit Jahren in der Bewegung für ein besseres Gesundheitswesen aktiv. Sie hatte im Fernsehen den Personalmangel in der Intensivstation der Asklepios-Klinik St. Georg kritisiert. Daraufhin forderte die Klinik die Zustimmung des Betriebsrates zur Kündigung von Ramona Knezevic. Der Betriebsrat lehnte ab. Die Klinik zog vor das Arbeitsgericht, um sich dort die Zustimmung ersetzen zu lassen, die der Betriebsrat verweigerte. Ramona Knezevic kämpfte zusammen mit dem Betriebsrat gegen ihre Kündigung und erfuhr große Zustimmung. Das war etwas ganz Besonderes, weil es häufig der Geschäftsleitung gelingt, die Kolleginnen und Kollegen gegen Whistleblower aufzubringen, so dass sie von ihren Kolleginnen und Kollegen gemieden werden. Das entschiedene Handeln von Ramona Knezevic zusammen mit der Unterstützung durch ihre Kolleginnen und Kollegen führten zu einer Solidaritätsbewegung über die Pflegekräfte hinaus: Hört auf die Beschäftigten! Diese Kraft war so wirksam, dass die Asklepios-Klinik St. Georg den Antrag beim Arbeitsgericht zurückzog.

Chelsea Manning war eine Whistleblower. Sie übergab Material an Wikileaks weiter, darunter ein dienstlich aufgenommenes Bord-Video, das die gezielte Tötung von mindestens sieben Zivilpersonen durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers am 12.07.2007 im Irak zeigt (https://collateralmurder.wikileaks.org). Chelsea Manning hatte zu diesem Material Zugang als Nachrichtendienstanalytikerin der US-Army.

Edward Snowden war ein Whistleblower. Er gab Informationen an den Guardian-Journalisten Glenn Greenwald über streng geheime US-amerikanische und britische Programmen weiter, die der Überwachung der weltweiten Internetkommunikation dienten und zu denen er als Systemadministrator Zugang hatte.Eine sehr präzise Beschreibung für seine Entscheidung zum Whistleblowing gibt Edward Snowden in seinem Buch “Permanent Record – Meine Geschichte”[1]Edward Snowden “Permanent Record – Meine Geschichte” Frankfurt a. M. 2019. In den USA wird Edward Snowden per Haftbefehl gesucht.

2. Whistleblower oder Unternehmen schützen?

Wer einen Arbeitsvertrag hat, ist „im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet“[2]§ 611 a BGB)) und soll schweigen über das, was er tut und sieht. So sind private Unternehmen, in denen wir einen großen Teil unserer Kräfte verausgaben, eine Blackbox. Was dort geschieht, … Continue reading von der Verpflichtung zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen ausgenommen.

Die Meinungsäußerungsfreiheit von Whistleblowern ist deswegen so  bedeutsam, weil sie die Warnung vor drohenden Gefahren ermöglicht, denen die Allgemeinheit sonst schutzlos ausgeliefert wäre; niemand anderes weiß davon oder wir erfahren das erst, wenn es zu spät ist.

Das ist der Grund, warum dieses Recht der Meinungsäußerungsfreiheit von dem Leitgedanken geprägt sein müsste, keine zusätzlichen Hürden für die aufzubauen, die ihren Arbeitgeber öffentlich kritisieren oder anzeigen.

Aber die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse sind nicht so. Die öffentliche Kritik gegenüber dem Arbeitgeber wegen unternehmensinterner Missstände unterliegt Einschränkungen, die höchst einseitig nur die  abhängig Beschäftigten treffen und im übrigen zivilen Leben unbekannt sind.

2.1 Die besonderen Sanktionsmöglichkeiten eines Unternehmers gegen seine Beschäftigten

Die Kündigung wegen Verletzung von Loyalitätspflichten – das ist ein  Recht, das nur Unternehmen geltend machen können[3]Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan … Continue reading. Auch die Vivantes GmbH machte dieses Recht geltend: Vivantes kündigte der Altenpflegerin Brigitte Heinisch. Sie hatte die Vivantes GmbH, Betreiberin von Krankenhäusern und Pflegeheimen, wegen schwerer schwerer Pflegemängel bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Es ging um das Pflegeheim, in dem Brigitte Heinsch arbeitete. Die Pflegemängel beruhten auf Personalmangel. Brigitte Heinisch konnte das nicht mehr ertragen.

Würde gegenüber dem Unternehmer das Recht auf freie Meinungsäußerung in demselben Umfang gelten wie sonst im zivilen Leben, dann müsste sich ein Unternehmer mit den üblichen Abwehrrechten zufrieden geben, die außerhalb des Arbeitslebens gelten (Strafanzeige wegen falscher Verdächtigung, zivilrechtliche Klage auf Schadenersatz und Unterlassung usw.).

Ein Unternehmer muss nicht einmal zur Kündigung greifen, um seine Beschäftigten davon abzuhalten, Missstände extern anzuziegen oder öffentlich zu machen. Der Arbeitgeber hat über sein Direktionsrecht zahlreiche andere Möglichkeit, Druck auszuüben. Schikanen, Mobbing, Zuweisung schlechter Arbeit, Versetzung – alles das sind Repressalien, die die Arbeit auf Dauer unerträglich machen können. Alles kann ein Unternehmer so anlegen, dass der Zusammenhang mit der Meinungsäußerung seines Beschäftigten verschleiert wird und deshalb nicht mehr nachweisbar ist. Die Beweislastumkehr ist da nur ein schwach wirkendes Gegenmittel. 

Wenn sich ein Beschäftigter trotz alledem entschließt, interne Missstände extern anzuzeigen oder zu veröffentlichen, dann spricht alles dafür, diesem  Menschen nicht noch weitere Steine in den Weg zu rollen.

2.2 Keiner Pflicht, einen Missstand zuerst intern zu melden

Immer wieder wird zu Unrecht behauptet, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte schreibe vor, Missstände grundsätzlich zuerst intern zu melden, bevor sie einer zuständigen Stelle extern gemeldet werden dürfen. Es war ein erheblicher Kampf notwendig, um eine Regelung in der EU-Richtlinie durchzusetzen, die es Whistleblowern erlaubt, frei zwischen interner und externer Meldung zu wählen[4]Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und … Continue reading.

2.3 Unterrichtung der Öffentlichkeit als letztes Mittel?

Doch ist mit externer Meldung nur die Anzeige eines Missstandes bei einer zuständigen externen Stelle gemeint, das sind in der Regel Behörden wie zum Beispiel die Ämter für Lebensmittelkontrollen. Damit ist aber eben nicht die Unterrichtung der Öffentlichkeit gemeint. Das geltende Recht verlangt von einem von einem Whistleblower, regelmäßig erst dann die Öffentlichkeit, also die Presse oder den Rundfunk oder das Fernsehen zu informieren, wenn der Missstand vorher intern dem Arbeitgeber oder extern einer zuständigen Stelle angezeigt wurde. Der Gang in die Öffentlichkeit soll nur die “ultima ratio” sein, also das letzte Mittel, wenn alles andere unpraktikabel ist – das ist nicht nur die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, sondern schreibt auch die Whistelblower-EU-Richtlinie so vor, die 2019 beschlossen wurde.

Ein Recht, das die Unternehmen zusätzlich vor unliebsamen Äußerungen schützt, sollte in Deutschland nicht gelten und muss auch nicht in Deutschland gelten, denn die EU- Richtlinie schließt ein besseres deutsches Schutzrecht für Whistleblower nicht aus[5]„Dieser Artikel gilt nicht in Fällen, in denen eine Person auf der Grundlage spezifischer nationaler Bestimmungen, die ein Schutzsystem für die Freiheit der Meinungsäußerung und die … Continue reading. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach – auch aufgrund der Erfahrungen aus dem Faschismus – die besondere Bedeutung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung hervorgehoben[6]Lüth BVerfGE 6, 198 ff, siehe auch: https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv007198.html. Gerade weil der Einfluss von Unternehmen, insbesondere von großen Unternehmen auf den Staat so enorm ist, ist die Meinungsäußerungsfreiheit über die Verhältnisse in ihrem Herrschaftsbereich so wichtig. 

2.4 Das Arbeitsverhältnis als Herrschaftsverhältnis

Whistleblower sind mutige Menschen. Andere haben diesen Mut nicht, aber sie haben das interne Wissen über schwere Missstände und Gefahren. Wie kann vermieden werden, dass dieses Wissen verschwiegen wird?

Unsere Gesellschaft ist geprägt von Angst. Welche gesellschaftlichen Bedingungen führen zu dieser Angst, Missstände und Gefahren bekannt zu machen?

Die Kolleginnen der Altenpflegerin Brigitte Heinisch waren nicht dazu verpflichtet, sich von ihr nach der Kündigung in einer schriftlichen Erklärung zu distanzieren. Sie taten es trotzdem. Auf Drängen der Pflegedienstleitung. Aus Angst.

Ist der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der niemand mehr diese Angst hat, nur ein Wunschtraum oder sollte eine Gesellschaft nicht gerade dadurch gekennzeichnet sein, dass es keines Mutes bedarf, Missstände öffentlich bekannt zu machen? Das sind keine Fragen zur ‚Kultur des Miteinander’. Da geht es um das Arbeitsverhältnis als Herrschaftsverhältnis. Wir fordern von den Unfreien, sich frei zu äußern. Das ist das Problem. Die abhängig Beschäftigten sind nicht frei.

Die Meinungsäußerungsfreiheit wurde als eine der wichtigen bürgerlichen Freiheitsrechte gegen die Feudalstaaten durchgesetzt. Jetzt kommt es darauf an, dieses Recht gegen diejenigen durchzusetzen, die in ihren Betrieben so herrschen können wie ehemals in der Monarchie die Könige in ihren Reichen.

Dieser Gedanke war in der Revolution 1918/19, die das Ende des Kaiserreichs besiegelte und der die abhängig Beschäftigten zum Sieg verhalfen, ganz lebendig. So verkündete der erste Aufruf der  Rat der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 „An das deutsche Volk!“: Meinungsäußerung in Wort und Schrift ist frei.[7] BArch R 43 I/1972, Bl.22 Und Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung präzisierte das, indem er nicht nur pauschal die Meinungsäußerungsfreiheit gewährleistete, sondern in einem Zusatz ausdrücklich auch diejenigen schützte, die am Arbeitsplatz als abhängig Beschäftigte ihre Meinung äußern. Das schützte insbesondere die, die Missstände in ihrem Unternehmen öffentlich machen; denn Meinungsfreiheit ist die Freiheit der Meinung, die das Unternehmen nicht veröffentlicht sehen will: Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht[8]http://www.documentarchiv.de/wr/wrv.html#ERSTER_ABSCHNITT02.

3. Umsetzung von EU-Recht in deutsches Recht

2019 wurde eine EU-Richtlinie beschlossen, die Whistleblower in zahlreichen Bereichen besser schützen soll[9]https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2019/1937/oj?locale=de. Nun muss der Bundestag diese Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021 in deutsches Recht umsetzen[10]Dies schon deswegen, weil die EU-Richtlinie das so verlangt: Bis zum 17. Dezember 2020 muss die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein, siehe Art. 27 der EU Richtlinie. Zur Umsetzung siehe … Continue reading.  

Zunächst wird es darum gehen, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht nicht zu schlechteren Regelungen führt als von der EU-Richtlinie vorgesehen. Zu beachten ist jedoch auch, dass die EU-Richtlinie  ausdrücklich nur Mindeststandards vorgeben will[11]  Art. 1 der EU-Richtlinie. Das eröffnet dem deutschen Gesetzgeber auch die Möglichkeit, Whistleblower besser zu schützen als durch die EU-Richtlinie vorgesehen.

Forderungen zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie der EU in deutsches Recht weiterlesen hier:

4. Zusammenfassung

Der ehemalige Richter beim Bundesverfassungsgericht Dr. Jürgen Kühling beschrieb 1999 die Situation von Whistleblowern so: „ …Von Freunden gemieden, vom Recht verfolgt – das ist das gewöhnliche Schicksal dessen, der sich im Interesse von Frieden, Umwelt, oder anderen höchstrangigen Rechtsgütern zum Bruch der Verschwiegenheit entschließt. Das darf nicht so bleiben. … … Wer überragende Gemeinschaftsbelange, Überlebensinteressen der Menschheit über seine beruflichen oder allgemeinen Loyalitätsbindungen stellt, darf nicht zum Verfolgten werden. Das Recht muss auf seiner Seite stehen[12]Geleitwort von Dr. Jürgen Kühling zur Verleihung des Wistleblowerpreises 1999 an Alexander Nikitin.

Ein besseres Gesetz ist also notwendig. Aber es kann nicht das Problem lösen, dass wir von den Unfreien erwarten, sich frei zu äußern. Die abhängig Beschäftigten sind nicht frei. Die Lösung dieses Problems ist ein größeres Programm. Es verlangt die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses als Herrschaftsverhältnis.

5. Hinweis für Journalisten

Immer sollten Journalisten, die über diese Missstände berichten, beachten: Wenn es um den Erfolg eines Unternehmens geht, rechnet es sich gerne und ganz selbstverständlich diesen Erfolg zu. Wenn es aber um Missstände im Unternehmen geht, versucht es, sich der Verantwortung zu entziehen und verweist auf die Beschäftigten. Es verschweigt gerne, dass diese Beschäftigten dem Direktionsrecht und der Kontrolle des Unternehmens unterliegen.

References

References
1 Edward Snowden “Permanent Record – Meine Geschichte” Frankfurt a. M. 2019
2 § 611 a BGB)) und soll schweigen über das, was er tut und sieht.

So sind private Unternehmen, in denen wir einen großen Teil unserer Kräfte verausgaben, eine Blackbox. Was dort geschieht, wird  systematisch dem Licht der Öffentlichkeit entzogen. Die freie Meinungsäußerung endet spätestens da, wo das Geschäftsgeheimnis beginnt. Doch wenn es um Missstände am Arbeitsplatz, im Büro oder Betrieb geht, sind die Konsequenzen der Einschränkung der Meinungsfreiheit so gravierend, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Im Jahr 2019 wurden Whistleblower in einem Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen((GeschGehG  – www.gesetze-im-internet.de/geschgehg/BJNR046610019.html

3 Der spitzfindige hauptsächlich von neunmal schlauen Juristen vorgetragene Einwand, der Beschäftigte könne auch umgekehrt dem Arbeitgeber wegen dessen Illoyalität kündigen (so z.B. Stephan Ebeling Die Kündigung wegen Verdachts Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1866-3, S. 287 ff), ist von einer ausgeprägten Blindheit geschlagen. Denn die Folge dieser Kündigung trägt ganz allein der Beschäftigte, der sich auf diese Weise gegen die Illoyalität des Arbeitgebers wehren will. Aus Empörung über die Illoyalität des Arbeitgebers schadet sich der Beschäftigte nur selbst, der sich mit der eigenen Entlassung (und nicht der Entlassung des Arbeitgebers) seine eigene  Existenzgrundlage entzieht. Die Illoyalität des Arbeitgebers beginnt im Übrigen schon damit, dass er tagtäglich die Dienste als die seinen ausgibt und verkauft, obwohl die Beschäftigten sie erbracht haben.
4 Prof. Dr. Ninon Colneric Zum zukünftigen Verhältnis von interner und externer Meldung: https.//www.wistelblower-net.de/online-magazin/2019/11/02/zum-zukuenftigen-verhaeltnis-von-interner-und externer-meldung-prof-dr-ninon-colneric
5 Dieser Artikel gilt nicht in Fällen, in denen eine Person auf der Grundlage spezifischer nationaler Bestimmungen, die ein Schutzsystem für die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit bilden, Informationen unmittelbar gegenüber der Presse offenlegt“ (Art. 15 Abs. 2 EU-Richtlinie). Das ist die sogenannte Schwedenklausel, die Schweden durchgesetzt hat, weil in Schweden das Recht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weitergehend ist als in der Whistleblower EU-Richtlinie
6 Lüth BVerfGE 6, 198 ff, siehe auch: https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv007198.html
7  BArch R 43 I/1972, Bl.22
8 http://www.documentarchiv.de/wr/wrv.html#ERSTER_ABSCHNITT02
9 https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2019/1937/oj?locale=de
10 Dies schon deswegen, weil die EU-Richtlinie das so verlangt: Bis zum 17. Dezember 2020 muss die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein, siehe Art. 27 der EU Richtlinie. Zur Umsetzung siehe auch: Ninon Colneric, Simon Gerdemann “Die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht – Rechtsfragen und rechtspolitsche Überlegungen”, HSI-Schriftenreihe Band 34, Frankfurt a.M. 2020
11   Art. 1 der EU-Richtlinie
12 Geleitwort von Dr. Jürgen Kühling zur Verleihung des Wistleblowerpreises 1999 an Alexander Nikitin

Kurzbiographie Dr. Gawlik

15. Februar 2021 von benhop

Lothar Gawlik

Dr. med. Lothar Gawlik, geb. 1967, ist Chefarzt für Innere Medizin und Geriatrie. Er hat Humanmedizin in Göttingen studiert und promovierte 1997. Nach seiner Facharztausbildung war er klinisch unter anderem in England sowie dem Fürstentum Liechtenstein tätig. Nachdem er wegen des Verdachts unerlaubter Sterbehilfe Strafanzeige gegen seinen ehemaligen Chef gestellt hat und darauffolgend fristlos entlassen wurde, heuerte er nach 3-monatiger Arbeitslosigkeit zunächst als Schiffsarzt an. Eine honorarärztliche Tätigkeit führte ihn 2018 nach Achim bei Bremen, wo er seitdem tätig ist.
Gawlik ist verheiratet und Vater von 3 Kindern.