Aus der Stellungnahme der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen „Deutschland ist faktisch Kriegspartei“ ergibt sich, dass Deutschland auch völkerrechtlich Kriegspartei ist. Sevim Dagdelen stützt sich auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (WD). Deutschland ist im Krieg und nur wenige scheint das zu beunruhigen. Wenn diese Beunruhigung existiert, ist sie jedenfalls nicht auf der Straße zu sehen. Hier die Stellungnahme von Sevim Dagdelen und hier das Gutachten des wissenschafltichen Dienstes.
Benedikt Hopmann
„Whataboutism“ als Kampfbegriff
Wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine als völkerrechtswidrig beschrieben, so wird die Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen Irak?” als “Whataboutism” entwertet. Die Gegenfrage soll nicht zulässig sein, weil sie das Augenmerk auf einen anderen völkerrechtswidrigen Krieg richtet.
Wenn Gegenfragen wie “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak?” oder “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien?” in solcher Weise abqualifiziert werden, ist kein Raum mehr für ein Nachdenken, ob solche “Whataboutism” statt abzulenken nicht eher hinlenken, und zwar auf eine andere Wahrheit hinlenken, die sich hinter der Feststellung “Russlands Krieg ist völkerrechtswidrig” verbirgt.
Wörtlich übersetzt heißt “Whataboutism”: Und was ist mit …?
Es gibt Gründe für die Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak?” oder “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Jugoslawien?” Denn hinter dieser Gegenfrage steckt eine weitere Frage: Wie kann ein Land einen völkerrechtswidrigen Krieg eines anderen Landes anprangern, wenn es selbst völkerrechtswidrige Kriege führt? Es sind die doppelten Standards, die mit der Gegenfrage angesprochen werden. Man kann die doppelten Standards auch einfach als Doppelmoral bezeichnen: Wenn die USA völkerrechtswidrige Krieg führen, ist das in Ordnung, wenn Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg führt, ist das zu verurteilen.
Mit dem Einwand “Whataboutism” wird jedes Nachdenken darüber abgeschnitten. Die Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien?” wird einfach nur zurückgewiesen. Es wird gar nicht mehr darüber nachgedacht, warum diese Gegenfrage gestellt wird.
Hinter der Gegenfrage “Und was ist mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Jugoslawien?” steckt auch die Frage: Wie ernst nehmen die USA und die Bundesregierung den Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit?
Es wird nicht mehr darüber nachgedacht, ob das Argument “Russlands Krieg ist völkerrechtswidrig” ein vorgeschobenes Argument sein könnte, vorgeschoben sowohl von den USA als auch von der Bundesregierung. Wenn ich sage, dass die USA endlos viele völkerrechtswidrige Kriege geführt haben, und wenn das als “Whataboutism” abgetan wird, dann ist es nicht mehr möglich, über die Frage nachzudenken: Warum hat eine deutsche Bundesregierung noch nie diese völkerrechtswidrigen Kriege der USA angeprangert und sich offen auf die Seite dieser völkerrechtswidrig angegriffenen Länder gestellt (Vietnam, Jugoslawien, Nicaragua usw.)? Warum tut sie das erst jetzt mit dem Ukrainekrieg? Warum hat die Bundesregierung im Jugoslawien-Krieg nicht Jugoslawien verteidigt, sondern Jugoslawien mitbombardiert?
Offensichtlich müssen andere Interessen als die Verteidigung des Völkerrechts den Ausschlag geben, wenn die Bundesregierung entscheidet, ob und auf welcher Seite sie sich an einem Krieg beteiligt. Und darauf kommt es an: Die Interessen zu erkennen, die ein Land dazu bewegen, einen Krieg zu rechtfertigen oder gar zu unterstützen.
“Whataboutism” als Einwand, Vorwurf und Kampfbegriff versperrt das Nachdenken über diese Interessen.
Zur Gefahr eines Dritten Weltkrieges
Auf Youtube kann eine Stellungnahme von Klaus von Dohnany zur gegenwärtigen deutschen Außenpolitik und zur Gefahr eines Dritten Weltkrieges angesehen werden. Er verweist auf eine aktuelle Warnung Henry Kissinger’s vor einem Dritten Weltkrieg (unten ab 52:56).
Die Gefahr eines Dritten Weltkrieges ergibt sich unter anderem aus der immer schärferen Konfrontationspolitik der USA gegenüber China. Der Ansatz ist Taiwan, das die USA massiv aufrüsten und gegen die Volksrepublik China in Stellung bringen. Es geht um die Ein-China-Politik Chinas, die die USA zunehmend in Frage stellen.
Nach der Ein-China-Politik sind Festland-China und Taiwan ein Land. „Taiwan heißt offiziell Republik China – im Unterschied zur kommunistischen Volksrepublik China. Das Land wird von den meisten Staaten nicht als souveräner Staat anerkannt – auch von Deutschland nicht. Es ist auch kein Mitglied der Vereinten Nationen. Dort ist die Volksrepublik China Mitglied …“[1]siehe DIE ZEIT v. 12.04.2023 Zunächst war allein Taiwan Mitglied der UNO und vertrat auch die Volksrepublik China in der UNO. Damals war also Taiwan Vertreterin dieser Ein-China-Politik. 1971 übernahm die Volksrepublik China diese Rolle. Bisher wird diese Ein-China-Politik von (fast) allen Staaten respektiert. China hat unmissverständlich erklärt, dass es ein Abweichen von dieser Ein-China Politik durch andere Staaten als ein Überschreiten einer roten Linie betrachtet und nicht hinnehmen werde.
Doch scheinen die USA mit Taiwan gegenüber China zu wiederholen, was sie schon mit der Ukraine gegenüber Russland gemacht haben. Taiwan wird massiv aufgerüstet. Vor China wird eine amerikanische Bastion aufgebaut und zugleich erklären die USA: “Wir wollen die alleinige Weltmacht bleiben und wir wollen nicht, dass China heranrückt an eine vergleichbare Weltmachtposition.”
Wie soll China unter diesen Umständen die Ein-China-Politik verteidigen? Xi Jinping muss sich fragen: “Soll ich warten, bis die Ein-China Politik nicht mehr verteidigt werden kann, weil Taiwan bis an die Zähne bewaffnet ist und sich dann selbstständig machen will?” Die Aufrüstung Taiwans durch die USA -Politik ist nichts anderes als die Vorbereitung eines Dritten Weltkrieges. Und ganz sicher werden die USA die Verantwortung dafür China zuschieben wie sie es auch gegenüber Russland gemacht haben.
Aufschlussreich ist die Position, die Macron in dieser Frage bei seinem Besuch mit von der Leyen in China eingenommen hat: „Die Frage, die wir als Europäer beantworten müssen, ist die Folgende: Liegt es in unserem Interesse, (eine Krise) bei Taiwan zu beschleunigen?“ Macron verneinte und warnte die Europäische Union vor dem Einfluss einer „US-Agenda“ und einer „chinesischen Überreaktion“. Damit fordert Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine eigenständige Position der EU im Konflikt zwischen China und den USA zu Taiwan.[2]siehe DIE ZEIT v. 12.04.2023
Ebenso aufschlussreich sind die Reaktionen deutscher Politiker auf diesen Vorstoß von Macron: „Mit scharfer Kritik haben SPD, FDP und CDU auf Macrons Äußerungen reagiert. Das sei eine „völlige Fehlbeschreibung der Situation“, sagte Außenpolitiker Norbert Röttgen (CDU) im Deutschlandfunk: „Es geht darum, ob in Taiwan Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung weiter gelten, oder ob wir China mitteilen: Wenn ihr dieses freie, demokratische Land angreift, dann interessiert uns das nicht.“[3]siehe DIE ZEIT v. 12.04.2023 Von Krieg sprechen diese Politiker und Politikerinnen nicht, sie sprechen nur davon, dass uns – anders als Macron es sieht – zu interessieren hat, wenn China Taiwan angreift. Die Konsequenz: Der Dritte Weltkrieg im Namen von „Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung Taiwans“.
Siehe auch Chinas Stellungnahme zur Chinastrategie Deutschlands.
References
↑1, ↑2, ↑3 | siehe DIE ZEIT v. 12.04.2023 |
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Gorillas: Das Streikrecht nicht länger auf den Abschluss von Tarifverträgen beschränken!
Am Dienstag, den 25. April 2023 um 11:00 Uhr wurden vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg drei Kündigungen verhandelt, die der Lieferdienst Gorillas wegen Teilnahme an einem verbandsfreien Streik ausgesprochen hat. Wir haben in dieser Instanz verloren. Wir werden aber weiter machen. Das Streikrecht muss von seinen schlimmen Prägungen aus der Zeit des Faschismus befreit werden. Um was geht es im Einzelnen? Dazu nehmen wir im Folgenden Stellung.
Das zentrale Argument zur Rechtfertigung dieser Kündigungen lautet: Das Streikrecht sei allein auf den Abschluss von Tarifverträgen ausgerichtet.
Daraus wird einerseits abgeleitet: Der politische Streik sei verboten, weil er eben nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen, sondern auf staatliches Handeln, auf Gesetze gerichtet ist. Und andererseits soll sich daraus das Verbot des verbandsfreien Streiks ergeben: Weil das Streikrecht allein auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sei und nur Gewerkschaften Tarifverträge abschließen können, sei es auch nur Gewerkschaften erlaubt zu streiken.
Es liegt uns ganz fern, die Notwendigkeit starker Gewerkschaften in Frage zu stellen. Nur sie sind mächtig genug, Tarifverträge mit den Unternehmern durchzusetzen. Wir stellen nicht in Frage, dass Tarifverträge, die ähnlich wie Gesetze wirken, nur Gewerkschaften abschließen können sollen.
Streik auf Kampf um Tarife beschränken?
Unsere Frage ist eine ganz andere: Soll das Recht zu streiken allein auf dieses Ziel beschränkt sein? Sollen die abhängig Beschäftigten nur streiken dürfen, wenn der Streik einen Tarifvertrag zum Ziel hat? Soll es in einem Streik immer nur um Tarifverträge gehen dürfen? Unsere Antwort lautet: Nein, Arbeitsniederlegungen dürfen nicht auf dieses Ziel eingegrenzt werden.
Wenn die Beschäftigten von Gorillas empört sind, dass ihre Löhne unpünktlich und unvollständig bezahlt werden, und sie das nicht länger hinnehmen wollen und für die Zukunft eine Vertragsstrafe fordern, damit Gorillas endlich für alle die Löhne pünktlich und vollständig zahlt, und wenn sie deswegen die Arbeit niederlegen, dann muss das erlaubt sein, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten von Gorillas extrem schwer ist, weil über die Hälfte der dort Beschäftigten sogenannte “Working-Holiday”-Visa haben und nach einem halben Jahr deswegen den Arbeitgeber wechseln müssen. Jedes halbe Jahr ist also die halbe Belegschaft eine andere.
Die Beschäftigten haben nicht das Ziel gehabt, Tarifverträge abzuschließen. Sie wollten eine pünktliche und vollständige Bezahlung ihrer Löhne sicherstellen und sie wollten auch, dass die Ungleichbehandlung aufhört; denn für dieselbe Tätigkeit bekamen die einen 10,50 € und die andern 12 €. Nach dem Streik im Oktober wurde tatsächlich für alle 12,00 € abgerechnet. Es geht also. Und es kann auch keine Gewerkschaft etwas dagegen haben, wenn auf diese Weise die Löhne bei Gorillas angeglichen werden.
Es ist im Übrigen ja auch nichts Ungewöhnliches, wenn ein Beschäftigter mit seinem Lohn unzufrieden ist und zu seinem Chef geht und sagt “Hey Boss ich brauch mehr Geld”, wie schon vor Jahren Gunter Gabriel sang. Es kommt auch vor, dass mehrere Beschäftigte gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, dass sie mehr Geld brauchen und das auch ihrem Chef sagen. Nur streiken sollen sie nicht dürfen. Das wollen wir nicht hinnehmen.
Beschränkung richtet sich gegen Gewerkschaften
Wichtig ist dabei auch der folgende Zusammenhang, den wir schon angedeutet haben, aber noch einmal hervorheben wollen: Wenn die herrschende Rechtsprechung den Streik ausschließlich auf den Abschluss von Tarifverträgen ausrichtet, geht es nicht nur um verbandsfreie Streiks. Es geht nicht nur um abhängig Beschäftigte, die ohne Aufruf der Gewerkschaften streiken und deswegen nach der herrschenden Rechtsprechung rechtswidrig handeln. Nein, es geht dabei immer auch um die Gewerkschaften. Die Ausrichtung des Streiks allein auf den Abschluss von Tarifverträgen richtet sich in aller erster Linie gegen die Gewerkschaften.
Wollen die Gewerkschaften für ein Ziel streiken, das nicht in einem Tarifvertrag besteht, dann soll ihnen das nach der herrschenden Rechtsprechung verboten sein. Wenn die Gewerkschaften gegen die 10 Morde in Hanau, wenn sie gegen Hochrüstung und Krieg, wenn sie gegen die Aufheizung des Klimas während der Arbeit protestieren wollen, soll Ihnen das verboten sein. Sie verstoßen dann gegen das Dogma, dass Streiks nur erlaubt sind, wenn sie auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Wenn sie gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalter sind – immerhin geht es hier um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit – sollen sie nur außerhalb des Betriebes demonstrieren dürfen. Sie sollen im Betrieb stillhalten. Sie können ja eine Presseerklärung veröffentlichen.
Beschränkung ist politische Unterwerfung
Mit dieser Beschränkung der Autonomie der Gewerkschaften auf die Tarifautonomie, werden die Gewerkschaften der Politik der Regierenden unterworfen, welche Politik das auch immer ist.
Die herrschende Politik drückt sich in Regierungshandeln aus und wird in Gesetzen geregelt, aber nicht in Tarifverträgen, die mit Unternehmen abgeschlossen werden. Sicher gibt es Dinge, die durch Gesetze und Tarifverträge geregelt werden können und auch geregelt werden. Zum Beispiel die Arbeitszeit. Dann können Gewerkschaften über bessere Tarifverträge, die sie mit den Arbeitgebern abschließen, schlechte Gesetze unterlaufen – soweit die gewerkschaftliche Kraft reicht. Aber weite Teile der Politik entziehen sich der Regelung durch Tarifverträge. Wir haben ja schon Beispiele aufgezählt: Das viel zu zögerliche Handeln der Politik gegen die Klimaaufheizung, Aufrüstung und Krieg, die Morde von Kolleginnen und Kollegen durch Neonazis in Hanau, die die Politik nicht unterband.
Auch wenn die Regierung eine Erhöhung des Renteneintrittsalters für alle von 65 auf 67 Jahre durch Gesetz erzwingen will, muss es möglich sein, gegen dieses Gesetz während der Arbeitszeit zu demonstrieren.
Wir müssen nur auf unser Nachbarland Frankreich schauen und wissen, was gemeint ist. Wir müssen nur vergleichen, wie die Gewerkschaften in Deutschland reagiert haben, als unter der Schröder-Regierung ein Gesetz beschlossen wurde, das das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöhte, und wie das französische Volk in den letzten Monaten auf die Erhöhung des Renteneintrittsalters durch Macron reagierte. Manche sagen, das ist in Frankreich eben eine andere Kultur, die Franzosen sind eben anders usw. usw. Aber der entscheidende Punkt ist ein ganz anderer, der entscheidende Punkt ist das Streikrecht. Die Gewerkschaften haben Angst, mit Schadenersatz-Forderungen überzogen zu werden, wenn sie streiken würden wie die Franzosen. Was in Frankreich erlaubt ist, ist in Deutschland verboten.
Streik und Demokratie
Manche behaupten, gegen die Regierung zu streiken, sei undemokratisch. Aber wollen wir denn im Ernst behaupten, die Deutschen seien die besseren Demokraten als die Franzosen? Es ist ja in Deutschland noch nicht einmal der politsche Demonstrationsstreik erlaubt, der sich dadurch vom Erzwingungsstreik unterscheidet, dass er maximal auf einen Tag begrenzt ist. Nein, es ist genau umgekehrt: Nicht der politische Streik in Frankreich ist undemokratisch, das Verbot des politischen Streiks in Deutschland ist undemokratisch. Denn Demokratie heißt nicht nur, alle paar Jahr den Stimmzettel abgeben, Demokratie heißt: Teilnahme am politischen Prozess.
In einem ersten Schritt muss der politische Demonstrationsstreik erlaubt werden. Weder die Beklagte noch die Rechtsprechung kann die Einschränkung des Streikrechts in Deutschland begründen. Und das, obwohl meiner Meinung nach das Streikrecht das wichtigste Freiheitsrecht überhaupt ist.
Gewerkschaften als Gegenmacht stärken
Es gibt nur eine Begründung des Bundesarbeitsgerichts zum Verbot des verbandsfreien Streiks: Das ist die Entscheidung von 1963. Die Grundlage ist eine Entscheidung des großen Senats aus dem Jahr 1955, die geprägt ist von der Formel: Streiks sind „im allgemeinen unerwünscht“. Diese Formulierung zitiert das Bundesarbeitsgericht acht Jahre später und meint, es sei wichtig, Kontrollen zu haben, „dass nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt wird.“[1]BAG vom 20.12.1963 – 1 AZR 428/62 Entscheidungsgründe B II. 3. e., S. 31 Um das sicherzustellen, solle es nur den Gewerkschaften erlaubt sein, zum Streik aufzurufen. Die Gewerkschaft nicht als Vertreterin, sondern als Kontrolleurin der abhängig Beschäftigten, die Gewerkschaft als Ordnungsfaktor – in wessen Interesse? Gewerkschaften können sich nur als Gegenmacht behaupten.
Die IG Metall hat schon vor Jahrzehnten in einem ihrer Geschäftsberichte zur Illegalisierung des verbandsfreien Streiks durch die Rechtsprechung festgestellt: “Im Gewande eines angebliche Streikmonopols der Gewerkschaften werden so die Gewerkschaften zwischen die Stühle gebracht und die Kollegen, die an spontanen Arbeitsniederlegungen teilgenommen haben, der Willkür der Unternehmer ausgesetzt.”[2]M. Kittner „Arbeitskampf“, München, 2005, S. 685
Zusammenfassung
Unsere Argumente für das Recht auf den verbandsfreien und politischen Streik:
1.1. Die Beschränkung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen verstößt gegen den Wortlaut der Artikel 9 Abs. 3 GG (siehe 1.2), gegen die Historie der Rechtsprechung zu diesem Grundrechts (siehe 1.2, 1.4), gegen das Demokratie – und Sozialstaatsgebot der Art. 20 GG (siehe 1.3) und gegen das Völkerrecht (siehe 1.5).
1.2. Die Beschränkung auf den Abschluss von Tarifverträgen setzt sich über den Wortlaut dieses Grundrechts hinweg. Art. 9 Abs. 3 GG spricht nicht von Gewerkschaften, sondern von “Vereinigungen”, nicht von dem Abschluss von Tarifverträgen, sondern von der “Wahrung und Förderung der Arbeits – und Wirtschaftsbedingungen”. Eine Beschränkung auf tariflich regelbare Bedingungen ist daraus nicht zu entnehmen. Werden sämtliche Arbeits – und Wirtschaftsbedingungen, die nicht tariflich regelbar sind, zu einem Tabu für gewerkschaftliches Handeln erklärt und selbst ein Demonstrationsstreik von nur wenigen Stunden illegalisiert, dann ist das eine schwerwiegende Schwächung der Gewerkschaften, die nicht mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist.
1.3. Die ausschließliche Ausrichtung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen ist auch nicht mit der Demokratie – und Sozialstaatsgarantie des Art 20 GG Grundgesetzes vereinbar. Diese Garantie ist auf aktive Teilnahme am politischen Prozess der Gestaltung der Arbeits – und Wirtschaftsbedingungen gerichtet und beschränkt sich nicht auf Wahlen.
1.4. Dagegen wird das Streikrecht mit der Beschränkung auf den Abschluss von Tarifverträgen in eine antidemokratische Tradition gestellt, mit denen das befreite Deutschland in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg nichts mehr zu tun haben wollte. Die Weimarer Republik kannte zwar ganz erhebliche Einschränkungen des Streikrechts, aber nicht die Beschränkung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen und damit das Verbot von verbandsfreien und politischen Streiks. Diese Beschränkung hat ihre Wurzeln im Faschismus, der die Gewerkschaften vollständig zerschlug und jeden Streik strikt unterband.
1.5. Dazu passt die fortgesetzte Verletzung des Völkerrechts. Das Völkerrecht kennt keine ausschließlich Ausrichtung des Streikrechts auf den Abschluss von Tarifverträgen und gewerkschaftlich getragene Streiks. Art. 6 Nr. 4 ESC ist bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzuziehen; das gilt auch für die anderen einschlägigen völkerrechtlichen Verträge. Es gilt der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.
1.6 Zwischenfazit: Die Urteile des Landesarbeitsgerichts und Arbeitsgerichts müssen aufgehoben werden. Es muss die Unwirksamkeit der Kündigungen festgestellt werden.
2. Das Landesarbeitsgericht hätte die rechtliche Überprüfung durch das Bundesarbeitsgericht (Revision) zulassen müssen. Dies aus den folgenden beiden Gründen
2.1 Das Bundesarbeitsgericht hat noch nie geprüft, ob verbandsfreie Streiks durch das Grundrecht auf Streik geschützt sind und mit welchen Gründen es eine Kündigung wegen Teilnahme an einem solchen Streik rechtfertigen will. Daher helfen Verweise auf Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts nicht weiter.
2.2 Zudem erschweren die besonderen Umstände des vorliegenden Falles einen gewerkschaftlichen Streik in einem solchen Ausmaß, dass von einem Streikrecht nicht mehr gesprochen werden kann. Das ist nicht nur ein Verletzung des Streikrechts, das für Migrantinnen und Migranten ebenso gilt wie für alle anderen Beschäftigten, sondern auch eine Ungleichbehandlung, für die es ebenfalls keine Rechtfertigung gibt.
Fazit:
Wir werden beim Bundesarbeitsgericht Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einlegen
UN-Abstimmung über Israels verlängerte Besatzung
Die UN-Generalversammlung hat Ende des Jahres 2022 dafür gestimmt, den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag aufzufordern, „dringend ein Gutachten“ über Israels „anhaltende Besetzung, Besiedlung und Annexion palästinensischer Gebiete“ abzugeben.
Die Abstimmung wurde mit großer Mehrheit (87:26 Stimmen bei 53 Enthaltungen) angenommen, was deutlich macht, warum Israel es vorzieht, über den Sicherheitsrat zu arbeiten, wo es zumindest mit den Vetos der USA und des Vereinigten Königreichs rechnen kann. Und in der Tat stimmten die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen – und Israel – gegen die Resolution.
weiter: https://www.icahd.de/un-abstimmung-ueber-israels-verlaengerte-besatzung-jeff-halper/
Der Abschlussbericht der Expertenkommission
Die noch vom vorherigen Senat eingesetzte Expertenkommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt.
Hier der Wortlaut der Presseerklärung der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ vom 28. Juni zu diesem Abschlussbericht:
Berlin, 28.06.2023 Der Abschlussbericht der Expert*innenkommission, die nach dem gewonnenen Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne eingesetzt wurde, bestätigt zweifelsfrei die rechtliche Machbarkeit der Vergesellschaftung. Nachdem der Bericht schon vorab öffentlich geworden war, stellt die Kommission ihn heute bei einer Pressekonferenz im Roten Rathaus vor. Ab 13 Uhr feiert die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen mit einer Kundgebung vor Ort:
„Heute ist ein historischer Tag für Berlin. Die Kommission stellt ein für allemal klar: Die Enteignung von Immobilienkonzernen ist rechtssicher, finanzierbar und das beste Mittel, um den Mietenwahnsinn zu stoppen! Außerdem ist eine niedrige Entschädigung, die das Land Berlin nichts kosten wird, auch machbar. Enteignung ist einfach der beste Deal für Berlin”, freut sich Constanze Kehler, Sprecherin der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen.
Die Kommission aus 13 Expert*innen hat sich über ein Jahr lang mit den rechtlichen Fragen rund um die Vergesellschaftung im Sinne des Allgemeinwohls beschäftigt. Der Abschlussbericht kann nun als Blaupause für ein rechtssicheres Vergesellschaftungsgesetz dienen. Die CDU-geführte Regierung hat aber einen anderen Plan: sie will ein sogenanntes „Rahmengesetz” schreiben – das dann aber zwei Jahre lang nicht in Kraft treten soll, weil die CDU gegen ihr eigenes Gesetz klagen will. Die Initiative kritisiert dies als „unlautere Verzögerungstaktik”.
„Die Kommission hat die Vergesellschaftung als rechtssicher bestätigt und den rechtlichen Rahmen dafür im Abschlussbericht niedergeschrieben. Ein Rahmengesetz ist damit vollkommen überflüssig. Wir fragen Sie, Herr Wegner: Respektieren Sie die Arbeit der Expert*innen und den Abschlussbericht der Kommission, die vom Senat selbst eingesetzt wurde? Dann muss Ihre Regierung jetzt ein Vergesellschaftungsgesetz schreiben, in dem ganz konkret drin steht, wann und wie die Immobilienkonzerne enteignet werden”, so Kehler.
Bei den Fragen der Rechtssicherheit und der Landeskompetenz steht die Kommission klar auf Seiten der Vergesellschaftung. Vergesellschaftung sei zudem verhältnismäßig, also geeignet und angemessen, um den Mietenwahnsinn in Berlin zu beenden. Sie sei sogar erforderlich, weil kein besseres Mittel zur Verfügung stehe, um die Mieten zu senken. Die Ausnahmen für Genossenschaften und landeseigene Wohnungen bestätigen die Expert*innen als rechtens, ebenso wie die Schwelle von 3000 Wohnungen bei den zu vergesellschaftenden Wohnungskonzernen.
Auch die Finanzierbarkeit sehen die Expert*innen laut Abschlussbericht als gegeben an. Das von der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen vorgeschlagene „Faire-Mieten-Modell“ hat die Kommission eingehend geprüft und validiert: Die Kommissionsmitglieder sind mehrheitlich der Meinung, dass für die Bemessung der Entschädigungshöhe „die Erträge aus der zukünftigen gemeinnützigen Bewirtschaftung zugrunde gelegt werden“ könnten. Demnach würden die großen Wohnungskonzerne nur so viel Entschädigung bekommen, wie diese über moderate Mieteinnahmen aus den vergesellschafteten Wohnungen refinanziert werden kann. Einig sind sich die Expert*innen, dass die Immobilienkonzerne unter Marktwerkt entschädigt werden können.
„Die Kommission bestätigt, dass die Entschädigung der Konzerne sehr niedrig ausfallen kann, wenn man von den Interessen der Mieter*innen und nicht der Konzerne ausgeht. Und je niedriger die Entschädigung für die Konzerne ausfällt, desto günstiger werden Mieten für die Berliner*innen. Außerdem bestätigt die Kommission nun schwarz auf weiß: Berlin muss keine Schulden aufnehmen und die Vergesellschaftung wird die Berliner*innen keinen Cent kosten, wenn diese aus den Mieten refinanziert wird. Für alle, die in Berlin zur Miete wohnen, ist die Vergesellschaftung ein Sechser im Lotto”, so Kehler abschließend.
Zum vollständigen Bericht: https://www.berlin.de/kommission-vergesellschaftung/downloads/.
Hier der Verlauf der Beratungen der Expertenkommission nachschauen.
Rosa Luxemburg: Manuskript zur russischen Revolution
Vorbemerkung: Das gesamte Manuskript zur russischen Rvolution ist abgedruckt in: Rosa Luxemburg „Gesammelte Werke Band 4 August 1914 bis Januar 1918“, 6. überarb. Auflg.,Berlin 2000, Wissenschaftliche Betreuung der 6. Auflg.: Annelies Laschitza.
Das Manuskript kann auch gelesen werden unter Rosa Luxemburg Manuskript zur russischen Revolution.
Hier der gesamte Text des Teil IV:
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„Wir wollen dies an einigen Beispielen näher prüfen.
Eine hervorragende Rolle in der Politik der Bolschewiki spielte die bekannte Auflösung der konstituierenden Versammlung im November 1917. Diese Maßnahme war bestimmend für ihre weitere Postition, sie war gewissermaßen der Wendepunkt ihrer Taktik. Es ist eine Tatsache, daß Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der Konstitutionsversammlung stürmisch forderten, daß gerade die Verschleppungspolitik der Kerenski-Regierung in dieser Sache einen Anklagepunkt der Bolschewiki gegen jene Regierung bildete und ihnen zu heftigsten Ausfällen Anlaß gab. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten Schriftchen Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag, der Oktoberumschwung sein geradezu «eine Rettung für die Konstituante» gewesen, wie für die Revolution überhaupt. «Und als wir sagten», fährt er fort, «daß der Eingang zur konstituierenden Versammlung nicht über das Vorparlament Zeretelis, sondern über die Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig.» 1
Und nun war nach diesen Ankündigungen der erste Schritt Lenins nach der Oktoberrevolution – die Auseinandertreibung derselben konstituierenden Versammlung, zu der sie den Eingang bilden sollte. Welche Gründe konnten für eine so verblüffende Wendung maßgebend sein? Trotzki äußert sich darüber in der erwähnten Schrift ausführlich, und wir wollen seine Argumente hierher setzen 2:
[Wenn die Monate, die der Oktoberrevolution vorangingen, eine Zeit der Linksverschiebung der Massen und des elementaren Zustroms der Arbeiter, Soldaten und Bauern zu den Bolschewiki waren, so drückte sich innerhalb der Partei der Sozialisten-Revolutionäre dieser Prozeß in der Verstärkung des linken Flügels auf Kosten des rechten aus. Aber immer noch dominierten in den Parteilisten der Sozialisten-Revolutionäre zu drei Vierteln die alten Namen des rechten Flügels …
Dazu kam noch der Umstand, daß die Wahlen selbst im Laufe der ersten Wochen nach dem Oktoberumsturz stattfanden. Die Nachricht von der Veränderung, die stattgefunden habe, verbreitete sich verhältnismäßig langsam in konzentrischen Kreisen, von der Hauptstadt nach der Provinz und aus den Städten nach den Dörfern. Die Bauernmassen waren sich an vielen Orten recht wenig klar über das, was in Petrograd und Moskau vorging. Sie stimmten für «Land und Freiheit» und stimmten für ihre Vertreter in den Nationalkomitees, die meistens unter dem Banner der «Narodniki» standen. Damit aber stimmten sie für Kerenski und Awxentjew, die dieses Landkomitee auflösten und verhaften ließen … Dieser Sachverhalt gibt eine klare Vorstellung, in welchem Maße die Konstituante hinter der Entwicklung des politischen Kampfes und den Parteigruppierungen zurückgeblieben war.]
Das alles ist ganz ausgezeichnet und sehr überzeugend. Nur muß man sich wundern, daß so kluge Leute wie Lenin und Trotzki nicht auf die nächstliegende Schlußfolgerung geraten sind, die sich aus den obigen Tatsachen ergab. Da die konstituierende Versammlung lange vor dem entscheidenden Wendepunkt, dem Oktoberumschwung, gewählt und in ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit, nicht der neuen Sachlage spiegelte, so ergab sich von selbst der Schluß, daß sie eben die verjährte, also totgeborene konstituierende Versammlung kassierten und ungesäumt Neuwahlen zu einer neuen Konstituante ausschrieben! Sie wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung anvertrauen, die das gestrige Kerenskische Rußland, die Periode der Schwankungen und der Koalition mit der Bourgeoisie spiegelte. Wohlan, es blieb nur übrig, sofort an ihre Stelle eine aus dem erneuerten, weitergegangenen Rußland hervorgegangene Versammlung einzuberufen.
Statt dessen schließt Trotzki aus der speziellen Unzulänglichkeit der im Oktober zusammengetretenen konstituierenden Versammlung, ja er verallgemeinert sie zu der Untauglichkeit jeder aus dem allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Volksvertretung während der Revolution überhaupt.
Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von einer Stufe auf die andere. Der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen kommt dieser Entwicklung um so weniger nach, je größer das Land und je unvollkommener sein technischer Apparat ist. (Trotzki, S. 93)
Hier haben wir schon den «Mechanismus der demokratischen Institution überhaupt». Demgegenüber ist zunächst hervorzuheben, daß in dieser Einschätzung der Vertreterinstitutionen eine etwas schematische, steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade aller revolutionären Epochen nachdrücklich widerspricht. Nach Trotzkis Theorie widerspiegelt jede gewählte Versammlung ein für allemal nur die geistige Verfassung, politische Reife und Stimmung ihrer Wählerschaft just in dem Moment, wo sie zur Wahlurne schritt. Die demokratische Körperschaft ist demnach stets das Spiegelbild der Masse vom Wahltermin, gleichsam wie der Herschelsche Sternhimmel uns stets die Weltkörper nicht wie sie sind zeigt, da wir auf sie blicken, sondern wie sie im Moment der Versendung ihrer Lichtboten aus unermeßlicher Weite zur Erde waren. Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den einmal Gewählten und der Wählerschaft, jede dauernde Wechselwirkung zwischen beiden wird hier geleugnet.
Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns umgekehrt, daß das lebendige Fluidum der Volksstimmung beständig die Vertretungskörperschaften umspült, in sie eindringt, sie lenkt. Wie wäre es sonst möglich, daß wir in jedem bürgerlichen Parlament zu Zeiten die ergötzlichsten Kapriolen der «Volksvertreter» erleben, die, plötzlich von einem neuen «Geist» belebt, ganz unerwartete Töne hervorbringen, daß die vertrocknetsten Mumien sich zu Zeiten jugendlich gebärden und die verschiedenen Scheidemännchen auf einmal in ihrer Brust revolutionäre Töne finden – wenn es in den Fabriken, Werkstätten und auf der Straße rumort?
Und diese ständige lebendige Einwirkung der Stimmung und der politischen Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften sollte gerade in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und Wahllisten versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze jene dünne, vibrierende, empfängliche politische Luft, in der die Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in wunderbarster Weise auf die Vertretungskörperschaften einwirken. Gerade darauf beruhen ja immer die bekannten effektvollen Szenen aus dem Anfangsstadium aller Revolutionen, wo alte reaktionäre oder höchst gemäßigte unter altem Regime aus beschränktem Wahlrecht gewählte Parlamente plötzlich zu heroischen Wortführern des Umsturzes, zu Stürmern und Drängern werden. Das klassische Beispiel bietet ja das berühmte «Lange Parlament» in England, das, 1642 gewählt und zusammengetreten, sieben Jahre lang auf dem Posten blieb und in seinem Innern alle Wechsel-Verschiebungen der Volksstimmung, der politischen Reife, der Klassenspaltung, des Fortgangs der Revolution bis zu ihrem Höhepunkt, von der anfänglich devoten Plänkelei mit der Krone unter einem auf Knien liegenden «Sprecher» bis zur Abschaffung des Hauses der Lords, Hinrichtung Karls und Proklamierung der Republik [widerspiegelt].
Und hat sich nicht dieselbe wunderbare Wandlung in den Generalständen 3 Frankreichs, im Zensusparlament Louis Philipps, ja – das letzte frappanteste Beispiel liegt Trotzki so nahe – in der vierten russischen Duma wiederholt, die im Jahre des Heils 1912 4, unter der starrsten Herrschaft der Konterrevolution gewählt, im Februar 1917 plötzlich den Johannistrieb des Umsturzes verspürte und zum Ausgangspunkt der Revolution ward?
Das alles zeigt, daß «der schwerfällige Mechanismus der demokratischen …» 5 ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse ist, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.
Nehmen wir ein anderes frappantes Beispiel: das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht. 6 Es ist nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung diesem Wahlrecht beigemessen ist. Aus der Kritik Trotzkis und Lenins an den demokratischen Institutionen geht hervor, daß sie Volksvertretungen aus allgemeinen Wahlen grundsätzlich ablehnen und sich nur auf die Sowjets stützen wollen. Weshalb dann überhaupt ein allgemeines Wahlrecht ausgearbeitet wurde, ist eigentlich nicht ersichtlich. Es ist uns auch nicht bekannt, daß dieses Wahlrecht irgendwie ins Leben eingeführt worden wäre; von Wahlen zu einer Art Volksvertretung auf seiner Grundlage hat man nichts gehört. Wahrscheinlicher ist die Annahme, daß es nur ein theoretisches Produkt sozusagen vom grünen Tisch aus geblieben ist; aber so wie es ist, bildet es ein sehr merkwürdiges Produkt der bolschewistischen Diktaturtheorie. Jedes Wahlrecht, wie überhaupt jedes politische Recht, ist nicht nach irgendwelchen abstrakten Schemen der «Gerechtigkeit» und ähnlicher bürgerlich demokratischer Phraseologie zu messen, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, auf die es zugeschnitten ist. Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht ist eben auf die Übergangsperiode von der bürgerlich-kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform berechnet, auf die Periode der proletarischen Diktatur. Im Sinne der Auslegung von dieser Diktatur, die Lenin-Trotzki vertreten, wird das Wahlrecht nur denjenigen verliehen, die von eigener Arbeit leben, und allen anderen verweigert.
Nun ist es klar, daß ein solches Wahlrecht nur in einer Gesellschaft Sinn hat, die auch wirtschaftlich in der Lage ist, allen, die arbeiten wollen, ein auskömmliches, kulturwürdiges Leben von eigener Arbeit zu ermöglichen. Trifft das auf das jetzige Rußland zu? Bei den ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen das vom Weltmarkt abgesperrte, von seinen wichtigsten Rohstoffquellen abgeschnürte Sowjetrußland zu ringen hat, bei der allgemeinen, furchtbaren Zerrüttung des Wirtschaftslebens, bei dem schroffen Umsturz der Produktionsverhältnisse infolge der Umwälzungen der Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft wie in der Industrie und im Handel liegt es auf der Hand, daß ungezählte Existenzen ganz plötzlich entwurzelt, aus ihrer Bahn herausgeschleudert werden, ohne jede objektive Möglichkeit, in dem wirtschaftlichen Mechanismus irgendeine Verwendung für ihre Arbeitskraft zu finden. Das bezieht sich nicht bloß auf die Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse, sondern auch auf die breite Schicht des Mittelstandes und auf die Arbeiterklasse selbst. Ist es doch Tatsache, daß das Zusammenschrumpfen der Industrie ein massenhaftes Abfluten des städtischen Proletariats aufs platte Land hervorgerufen hat, das in der Landwirtschaft Unterkunft sucht. Unter solchen Umständen ist ein politisches Wahlrecht, das den allgemeinen Arbeitszwang zur wirtschaftlichen Voraussetzung hat, eine ganz unbegreifliche Maßregel. Der Tendenz nach soll es die Ausbeuter allein politisch rechtlos machen. Und während produktive Arbeitskräfte massenhaft entwurzelt werden, sieht sich die Sowjetregierung umgekehrt vielfach gezwungen, die nationale Industrie den früheren kapitalistischen Eigentümern sozusagen in Pacht zu überlassen. Desgleichen sah sich [im] April 1918 die Sowjetregierung gezwungen, auch mit den bürgerlichen Konsumgenossenschaften ein Kompromiß zu schließen. Ferner [hat sich die Benutzung] von bürgerlichen Fachleuten als unumgänglich [erwiesen]. Eine andere Folge derselben Richtung ist, daß wachsende Schichten des Proletariats als Rotgardisten etc. vom Staate aus öffentlichen Mitteln erhalten werden. In Wirklichkeit macht es rechtlos breite und wachsende Schichten des Kleinbürgertums und des Proletariats, für die der wirtschaftliche Organismus keinerlei Mittel zur Ausübung des Arbeitszwanges vorsieht.
Das ist eine Ungereimtheit, die das Wahlrecht als ein utopisches, von der sozialen Wirklichkeit losgelöstes Phantasieprodukt qualifiziert. Und gerade deshalb ist es kein ernsthaftes Werkzeug der proletarischen Diktatur. 1*
Als der ganze Mittelstand, die bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang boykottierten, den Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb, den Verwaltungsapparat lahmlegten und sich auf diese Weise gegen die Arbeiterregierung auflehnten, da waren selbstverständlich alle Maßregeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte, wirtschaftlicher Existenzmittel etc. geboten, um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern. Hingegen ein Wahlrecht, das eine allgemeine Entrechtung ganz breiter Schichten der Gesellschaft ausspricht, das sie politisch außerhalb des Rahmens der Gesellschaft stellt, während es für sie wirtschaftlich innerhalb dieses Rahmens selbst keine Platz zu schaffen imstande ist, eine Entrechtung nicht als konkrete Maßnahme zu einem konkreten Zweck, sondern als allgemeine Regel von dauernder Wirkung, das ist nicht eine Notwendigkeit der Diktatur, sondern eine lebensunfähige Improvisation. 2*
Doch mit der konstituierenden Versammlung und dem Wahlrecht ist die Frage nicht erschöpft: Es kam nicht nur Abschaffung der wichtigsten demokratischen Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens und der politischen Aktivität der arbeitenden Massen in Betracht: der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, ohne die alle Gegner der Sowjetregierung vogelfrei geworden sind. 7 Für diese Eingriffe reicht die obige Argumentation Trotzkis über die Schwerfälligkeit der demokratischen Wahlkörper nicht entfernt aus. Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, daß ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist.
Lenin sagt: der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, der sozialistische zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht von dem Wesentlichsten ab: die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse enggezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.
«Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt …» 8 Hier widerlegt Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde. Eben weil dies zutrifft, haben sie durch Erdrückung des öffentlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber müßte man annehmen, daß die Erfahrung und Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. (Rede Lenins: Rußland ist überzeugt für den Sozialismus!!!) 9
In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung. 3*
Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. 4* Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück – nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden müssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zu allererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend konkreten praktischen großen und kleinen Maßnahmen sind, um die sozialistischen Grundzüge in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzuführen, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluß. Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen. Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so, dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt, durch Ukase einführen. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen – gegen Eigentum usw. Das Negative, den Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht. Neuland. Tausend Probleme. Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. (Beweis: die Jahre 1905 und die [Monate] Februar bis Oktober 1917.) Wie dort politisch, so auch ökonomisch und sozial. Die ganze Volksmasse muß daran teilnehmen. Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert.
Unbedingt öffentliche Kontrolle notwendig. Sonst bleibt der Austausch der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreis der Beamten der neuen Regierung. Korruption unvermeidlich. (Lenins Worte, Mitteilungsblatt Nr. 36 10) Die Praxis des Sozialismus erfordert eine ganze geistige Umwälzung in den durch Jahrhunderte der bürgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen. Soziale Instinkte anstelle egoistischer, Masseninitiative anstelle der Trägheit, Idealismus, der über alle Leiden hinweg trägt usw. usw. Niemand weiß das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt das hartnäckiger als Lenin. 5* Nur vergreift er sich völlig im Mittel. Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das sind alles Palliative. Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert.
Fällt das alles weg, was bleibt in Wirklichkeit? Lenin und Trotzki haben an Stelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft (das Verschieben der Sowjet-Kongresse von drei Monaten auf sechs Monate!). Ja noch weiter: solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen usw. Das ist ein übermächtiges objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag.
Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. «Diktatur oder Demokratie» heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d. h. für bürgerliche Diktatur. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik. Das Proletariat kann, wenn es die Macht ergreift, nimmermehr nach dem guten Rat Kautskys unter dem Vorwand der «Unreife des Landes» auf die sozialistische Umwälzung verzichten und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der Internationale, an der Revolution Verrat zu üben. Es soll und muß eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse, d. h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie. «Als Marxisten sind wir nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen», schreibt Trotzki.11 Gewiß, wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen. Wir sind auch nie Götzendiener des Sozialismus oder des Marxismus gewesen. Folgt etwa daraus, daß wir auch den Sozialismus, den Marxismus, wenn er uns unbequem wird, à la Cunow-Lensch-Parvus, in die Rumpelkammer werfen dürfen? Trotzki und Lenin sind die lebendige Verneinung dieser Frage. Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.
Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d. h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.
Genauso würden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen.
Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors durch die Räteregierung, und zwar namentlich in der letzten Periode vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat auf den deutschen Gesandten. Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.
Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen sie dem internationalen Sozialismus, demzuliebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Rußland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankerotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren.
Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der Bolschewiki in Rußland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats. Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf sozialistischen Klassenkampf war. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische Gesellschaftsordnung läßt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!
Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem «Bolschewismus».“
Randnotizen von Rosa Luxemburg
1* Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: «Ein Anachronismus, eine Vorwegnahme der rechtlichen Lage, die auf einer schon fertigen sozialistischen Wirtschaftsbasis am Platze ist, nicht in der Übergangsperiode der proletarischen Diktatur.»
2* Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: «Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.» Auf losem, unnumeriertem Blatt die Notiz: «Die Bolschewiki bezeichneten die Sowjets als reaktionär, weil die Mehrheit darin Bauern seien (Bauerndelegierte und Soldatendelegierte). Nachdem sich die Sowjets auf ihre Seite stellten, wurden sie die richtigen Vertreter der Volksmeinung. Aber dieser plötzliche Umschwung hing nur mit Frieden und Landfrage zusammen.»
3* Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: «Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.»
4* Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: «Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen, daß sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin- und herprobieren mußten und daß ein gut Teil ihrer Maßnahmen keine Perle darstellt. So muß und wird es uns allen gehen, wenn wir daran gehen – wenn auch nicht überall so schwierige Verhältnisse herrschen mögen.»
5* Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis:
Lenins Rede über Disziplin und Korruption.
Anarchie wird auch bei uns und überall unvermeidlich sein. Lumpenproletarisches Element haftet der bürgerlichen Gesellschaft an und läßt sich nicht von ihr trennen:
Beweise:
1. Ostpreußen, die «Kosaken»-Plünderungen.
2. Der generelle Ausbruch von Raub und Diebstahl in Deutschland («Schiebungen», Post- und Eisenbahnpersonal, Polizei, völlige Verwischung der Grenzen zwischen der wohlgeordneten Gesellschaft und dem Zuchthaus).
3. Die rapide Verlumpung der Gewerkschaftsführer. Dagegen sind die drakonischen Terrormaßnahmen machtlos. Im Gegenteil, sie korrumpieren noch mehr. Das einzige Gegengift: Idealismus und soziale Aktivität der Massen, unbeschränkte politische Freiheit.
Auf einem losen Blatt ohne Einordnungshinweis befindet sich folgende Ausarbeitung:
Ein Problem für sich von hoher Wichtigkeit in jeder Revolution bildet der Kampf mit dem Lumpenproletariat. Auch wir in Deutschland und allerorts werden damit zu tun haben. Das lumpenproletarische Element haftet tief der bürgerlichen Gesellschaft an, nicht nur als besondere Schicht, als sozialer Abfall, der namentlich in Zeiten riesig anwächst, wo die Mauern der Gesellschaftsordnung zusammenstürzen, sondern als integrierendes Element der gesamten Gesellschaft. Die Vorgänge in Deutschland – und mehr oder minder in allen andern Staaten – haben gezeigt, wie leicht alle Schichten der bürgerlichen Gesellschaft der Verlumpung anheimfallen. Abstufungen zwischen kaufmännischem Preiswucher, Schlachtschitzen-Schiebungen, fiktiven Gelegenheitsgeschäften, Lebensmittelfälschung, Prellerei, Beamtenunterschlagung, Diebstahl, Einbruch und Raub flossen so ineinander, daß die Grenze zwischen dem ehrbaren Bürgertum und dem Zuchthaus verschwand. Hier wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie die regelmäßige rasche Verlumpung bürgerlicher Zierden, wenn sie in überseeische koloniale Verhältnisse auf fremden sozialen Boden verpflanzt werden. Mit der Abstreifung der konventionellen Schranken und Stützen für Moral und Recht fällt die bürgerliche Gesellschaft, deren innerstes Lebensgesetz die tiefste Unmoral: die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, unmittelbar und hemmungslos einfacher Verlumpung anheim. Die proletarische Revolution wird überall mit diesem Feind und Werkzeug der Konterrevolution zu ringen haben.
Und doch ist auch in dieser Beziehung der Terror ein stumpfes, ja zweischneidiges Schwert. Die drakonischste Feldjustiz ist ohnmächtig gegen Ausbrüche des lumpenproletarischen Unwesens. Ja, jedes dauernde Regiment des Belagerungszustandes führt unweigerlich zur Willkür, und jede Willkür wirkt depravierend auf die Gesellschaft. Das einzige wirksame Mittel in der Hand der proletarischen Revolution sind auch hier: radikale Maßnahmen politischer und sozialer Natur, rascheste Umwandlung der sozialen Garantien des Lebens der Masse und – Entfachung des revolutionären Idealismus, der sich nur in uneingeschränkter politischer Freiheit durch intensiv aktives Leben der Massen auf die Dauer halten läßt.
Wie gegen Krankheitsinfektionen und -keime die freie Wirkung der Sonnenstrahlen das wirksamste, reinigende und heilende Mittel ist, so ist die Revolution selbst und ihr erneuerndes Prinzip, das von ihr hervorgerufenen geistige Leben, Aktivität und Selbstverantwortung der Massen, also die breiteste politische Freiheit als ihre Form, die einzige heilende und reinigende Sonne.
1 Leo Trotzki, Von der Oktober-Revolution bis zum Brester Friedens-Vertrag, Berlin o. J., S. 90.
2 Diese Argumentation, wie auch Hinweise auf Trotzkis Schrift fehlen in der Quelle. Wir haben sie in den eckigen Klammern beigefügt.
3 In der Quelle: Generalstaaten.
4 In der Quelle: 1909. – Siehe Teil 2, Anm.2.
5 Punkte in der Quelle. – Das vollständige Zitat lautet: «der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen». – MIA
6 Das aktive und passive Wahlrecht, so wurde in der am 10. Juli angenommenen Verfassung festgelegt, besaßen unabhängig von Glaubensbekenntnis, Nationalität und Ansässigkeit folgende Bürger, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten:
«All diejenigen, die ihren Lebensunterhalt aus produktiver und gesellschaftlich nützlicher Arbeit bestreiten, ebenso Personen, die im Haushalt tätig sind, wodurch den ersteren das produktive Arbeiten ermöglicht wird, wie Arbeiter und Angestellte aller Arten und Kategorien, die in der Industrie, im Handel, in der Landwirtschaft usw. beschäftigt sind, Bauern und ackerbautreibende Kosaken, insofern sie sich keiner Lohnarbeiter zur Erzielung von Gewinn bedienen.» Des weiteren hatten die Soldaten der Sowjetarmee und Bürger, die ihre Arbeitsfähigkeit eingebüßt hatten, das Wahlrecht. Das Wahlrecht entzogen wurde Personen, die Lohnarbeiter beschäftigten oder von arbeitslosen Einkommen lebten, sowie den Privatkaufleuten, Geistlichen und Angestellten der früheren Polizei. Die Frage der Beschränkung des Wahlrechts war «eine nationale Sonderfrage und keine allgemeine Frage der Diktatur». Dabei mußte man «die besonderen Verhältnisse der russischen Revolution, den besonderen weg ihrer Entwicklung» berücksichtigen. die Beschränkung des Wahlrechts «ist zur Verwirklichung der Diktatur nicht obligatorisch, ist kein notwendiges Merkmal des logischen Begriffs der Diktatur». (W.I. Lenin, Werke, Bd. 28, S. 254/255.)
7 Das Recht der Pressefreiheit, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit für die Werktätigen war in der Verfassung der Sowjetmacht verankert. «Die proletarische Diktatur hält die Ausbeuter, die Bourgeoisie nieder – darum heuchelt sie nicht, verspricht ihnen nicht Freiheit und Demokratie –, den Werktätigen aber gibt sie die wahre Demokratie. Erst Sowjetrußland hat dem Proletariat und der ganzen gewaltigen werktätigen Mehrheit Rußlands eine Freiheit und Demokratie gegeben, wie sie in keiner bürgerlichen demokratischen Republik bekannt, möglich und denkbar ist; zu diesem Zweck hat es z. B. der Bourgeoisie ihre Paläste und Villen abgenommen (sonst ist die Versammlungsfreiheit eine Heuchelei), zu diesem Zweck hat es den Kapitalisten die Druckereien und das Papier abgenommen (sonst ist die Pressefreiheit für die werktätige Mehrheit der Nation eine Lüge).» (W.I. Lenin, Werke, Bd. 28, S. 97/98.)
8 Punkte in der Quelle. – Der vollständige Zitat lautet: «Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von Stufe zu Stufe.» Leo Trotzki, Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedens-Vertrag, S. 93. – MIA
9 Siehe Anm.10.
10 In der Quelle gibt Rosa Luxemburg irrtümlich Nr. 29 an. Der Artikel Nach der russischen Revolution wurde veröffentlicht im Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, Nr. 36 vom 8. Dezember 1918. Er enthält eine sehr ausführlich, teilweise wörtliche Wiedergabe der Arbeit Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in der W.I. Lenin die Schwierigkeiten des Aufbaus in Sowjetrußland nach dem Sieg der Oktoberrevolution darlegt und die Aufgaben für die Übergangsperiode von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung, die Funktion der neuen Staatsmacht im Kampf für den Aufbau der Wirtschaft und zum Schutz gegen Konterrevolution, Korruption und Sabotage entwickelt.
11 Leo Trotzki, Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedens-Vertrag, S. 93.
EGfMR Nr. 52051/17 ATEŞ AND OTHERS v. TÜRKİYE
ENTSCHEIDUNG
Klage Nr. 52051/17
Sabri Alparslan ATEŞ gegen Türkiye
und 2 weitere Anträge
(siehe Liste im Anhang)
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Zweite Sektion) hat in seiner Sitzung vom 28. Februar 2023 als Ausschuss, bestehend aus:
Egidijus Kūris, Präsident,
Pauliine Koskelo,
Frédéric Krenc, Richter,
und Dorothee von Arnim, stellvertretende Kanzlerin der Sektion,
in Anbetracht der:
die von den in der beigefügten Tabelle aufgeführten Beschwerdeführern (im Folgenden: Beschwerdeführer) beim Gerichtshof gemäß Artikel 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Konvention) eingereichten Beschwerden gegen die Republik Türkiye zu dem dort angegebenen Zeitpunkt;
die Entscheidung, die Beschwerde gemäß Artikel 11 der Konvention an die türkische Regierung („die Regierung“), vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Herrn Hacı Ali Açıkgül, Leiter der Menschenrechtsabteilung des Justizministeriums, zu richten und die übrigen Anträge für unzulässig zu erklären;
die Erklärungen der Parteien;
beschließt nach Beratung wie folgt:
GEGENSTAND DER RECHTSSACHE
1. Die Klagen betreffen die Entlassung der Kläger, die angeblich gegen das Fehlen eines sinnvollen Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, und gegen den Druck, den der Arbeitgeber in dieser Hinsicht auf sie ausgeübt hatte, protestiert hatten, sowie die Ablehnung ihres Antrags auf Wiedereinstellung in ihr ursprüngliches Arbeitsverhältnis und auf Entschädigung durch die nationalen Gerichte.
2. Die Kläger arbeiteten als Arbeiter in einer Fabrik und waren Mitglieder einer Metallgewerkschaft, Türk Metal iş Sendikası. Zwischen dem 25. Mai 2015 und dem 1. Juni 2015 traten mehrere Mitglieder, darunter auch die Kläger, aus der Gewerkschaft aus.
3. Nach Angaben der Kläger wurden sie und ihre Kollegen nach ihrem Austritt aus der Gewerkschaft von der Gewerkschaft und ihrem Arbeitgeber unter Druck gesetzt. Am Morgen des 2. Juli 2015 forderten mehrere Arbeitnehmer, die in der Frühschicht arbeiteten, darunter auch die Kläger, die Betriebsleitung auf, den Druck, dem sie von der Gewerkschaft ausgesetzt waren, zu beenden, die Büros der Gewerkschaft zu schließen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Da sie keine positive Antwort von der Unternehmensleitung erhielten, beschlossen sie, die Arbeit einzustellen und warteten auf die Erfüllung ihrer Forderungen, während sie die Fabrik besetzten.
4. Am nächsten Tag teilte die Unternehmensleitung den Beschäftigten, die die Fabrik besetzt hielten, mit, dass sie entlassen würden, wenn sie den Betrieb nicht verlassen würden. Am 3. Juli 2015 schickte die Geschäftsleitung den Klägern Hasan Uzun und Murat Tıngöz die Kündigungen zu. Außerdem wurden auch andere Kollegen, die die Fabrik besetzten, entlassen und ihnen wurde mitgeteilt, dass beschlossen worden sei, die Produktion für einen Tag auszusetzen.
5. Am 4. Juli 2015 wurde die Produktion für einen weiteren Tag ausgesetzt, und den Besetzern wurde mitgeteilt, dass sie nicht entlassen würden, wenn sie die Arbeit am 6. Juli 2015 wieder aufnähmen. Am 5. Juli 2015 räumte die Polizei die Besetzer ohne Gewaltanwendung. Die Aktion dauerte somit drei Tage lang an, und die Produktionstätigkeit wurde durch die Abwesenheit der Arbeitnehmer, einschließlich der Kläger, beeinträchtigt. Die Geschäftsleitung teilte den Beschäftigten mit, dass die Fabrik am 6. Juli 2015 wieder geschlossen würde. An diesem Tag entließ die Geschäftsleitung endgültig die Arbeitnehmer, die sich vom 2. Juli bis zum 5. Juli 2015 in und vor der Fabrik aufgehalten hatten, darunter auch die Kläger.
6. Zu den Gründen für die Entlassung von Sabri Ateş führte der Arbeitgeber im Allgemeinen an, dass der Kläger die Beschäftigten zur Fortsetzung der Besetzung ermutigt und provoziert habe, Parolen skandiert habe, die dem Ruf des Unternehmens geschadet hätten, und diese Handlungen trotz aller Bemühungen und Abmahnungen des Unternehmens fortgesetzt habe. In Bezug auf die beiden anderen Kläger machte der Arbeitgeber geltend, dass sie nicht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt seien und ihre illegalen Handlungen fortgesetzt hätten, obwohl sie schriftlich und mündlich aufgefordert worden seien, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren und die illegale Besetzung zu beenden, an der sie teilgenommen hätten.
7. Die Kläger erhoben daraufhin beim Arbeitsgericht eine Wiedereinstellungsklage und beantragten, festzustellen, dass die Entlassungen wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit erfolgt seien und dass ihr Arbeitsvertrag ohne wichtigen Grund gekündigt worden sei. Das Arbeitsgericht ordnete die Wiedereinstellung der Kläger an, da die Produktion in der Fabrik direkt durch die Entscheidung des Arbeitgebers, nicht aber durch die Arbeitnehmer, eingestellt worden war. Es stellte jedoch fest, dass nichts darauf hindeutete, dass die Kläger wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit entlassen worden waren.
8. Nach einer Berufung der Parteien hob der Kassationsgerichtshof am 29. Juni 2016 die Entscheidung des Arbeitsgerichts auf. Er vertrat die Auffassung, dass die angefochtene Maßnahme der Arbeitnehmer angesichts des gewählten Zeitpunkts, der Dauer und der großen Zahl der betroffenen Arbeitnehmer nicht verhältnismäßig gewesen sei. Außerdem betonte es, dass die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht in der Verfassung und den von der Türkei ratifizierten internationalen Verträgen anerkannt seien. Es vertrat jedoch die Auffassung, dass diese Freiheit nicht mit dem Ziel ausgeübt werden dürfe, die Tätigkeit des Arbeitgebers zu beeinträchtigen. Es betonte auch, dass sich die Aktion der Kläger nicht gegen den Arbeitgeber richtete, sondern gegen die Gewerkschaft, aus der sie ausgetreten waren, da die Kläger den von dieser Gewerkschaft unterzeichneten Tarifvertrag ablehnten. Schließlich wies es darauf hin, dass Forderungen wie der Ausschluss von Gewerkschaftsvertretern und die Anerkennung anderer Vertreter in einem Betrieb, in dem ein Tarifvertrag in Kraft ist und in dem die betreffende Gewerkschaft zur Ausübung von Gewerkschaftstätigkeiten berechtigt ist, nicht möglich sind. Es sei nicht möglich, dass die Vertreter einer Gruppe, die keine Rechtspersönlichkeit besitzt und keine gesetzliche Grundlage hat, vom Arbeitgeber als Arbeitnehmervertreter anerkannt werden.
9. Aus den zu den Akten gereichten Unterlagen ergibt sich, dass die Kläger vor den inländischen Gerichten nur die angebliche Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit gerügt haben.
10. Am 23. November 2016 wies das Verfassungsgericht die Individualbeschwerden der Beschwerdeführer, in denen diese eine Verletzung ihrer Rechte auf ein faires Verfahren und auf Vereinigungsfreiheit sowie einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot geltend gemacht hatten, als offensichtlich unbegründet zurück.
11. Unter Berufung auf Artikel 11 der Konvention rügten die Kläger eine Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit und auf freie friedliche Versammlung. Sie machen geltend, dass sie entlassen worden seien, weil sie gegen das Fehlen eines sinnvollen Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, und gegen den Druck, den sie diesbezüglich vom Arbeitgeber erhalten hätten, protestiert hätten.
WÜRDIGUNG DURCH DAS GERICHT
12. In Anbetracht des ähnlichen Gegenstands der Klagen hält es das Gericht für angebracht, sie in einer einzigen Entscheidung gemeinsam zu prüfen.
13. Die Kläger rügen eine Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit und ihres Rechts, sich friedlich zu versammeln, im Sinne von Artikel 11 der Konvention, weil sie entlassen worden seien, weil sie gegen das Fehlen eines sinnvollen Rechts, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, und gegen den Druck protestiert hätten, den sie in dieser Hinsicht vom Arbeitgeber erhalten hätten. Das Gericht ist der Auffassung, dass die von der Klägerin vor dem Gericht erhobenen Rügen allein unter dem Gesichtspunkt des Rechts der Klägerin auf Vereinigungsfreiheit zu prüfen sind (siehe oben, Randnr. 9).
14. Aus dem von den inländischen Gerichten festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Kläger wegen eines Streiks entlassen wurden. Der Gerichtshof bekräftigt seine Feststellungen in der Entscheidung Barış u. a./Türkei (Nr. 66828/16 vom 14. Dezember 2021), wonach Streiks grundsätzlich nur dann durch Artikel 11 geschützt sind, wenn sie von Gewerkschaftsorganisationen initiiert werden und als tatsächlicher – und nicht nur vermeintlicher – Teil der gewerkschaftlichen Tätigkeit gelten. Der Gerichtshof hat nie akzeptiert, dass ein Streik, der nicht von einer Gewerkschaft, sondern von deren Mitgliedern oder sogar von Nichtmitgliedern ausgerufen wurde, ebenfalls den Schutz von Artikel 11 genießt (ebd., § 45). Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass nach der Praxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte die Tatsache, das Streikrecht den Gewerkschaften vorzubehalten, mit Artikel 6 § 4 der Europäischen Sozialcharta vereinbar ist, sofern die Gründung einer Gewerkschaft nicht von übermäßigen Formalitäten abhängig gemacht wird (vgl. auch ebd., § 46).
15. Das Gericht stellt auf der Grundlage des Aktenmaterials fest, dass die Kläger in der vorliegenden Rechtssache nicht entlassen wurden, weil sie an einer von einer Gewerkschaft organisierten Demonstration teilgenommen hatten – aus der sie vor ihrer Klage ausgetreten waren – oder weil sie berufliche Rechte im Rahmen der Gewerkschaftstätigkeit geltend gemacht hatten. Außerdem stellt das Gericht nach dem ihm vorgelegten Material fest, dass die Kläger auch nicht deshalb entlassen wurden, weil sie aus einer bestimmten Gewerkschaft ausgetreten waren oder weil sie beschlossen hatten, keiner bestimmten Gewerkschaft beizutreten, oder weil der Arbeitgeber Druck auf sie ausgeübt hatte. Sie können sich daher nicht auf das durch Artikel 11 geschützte Recht berufen, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten (vgl. auch Barış u. a./Türkei, §§ 53-54, siehe oben).
16. Daraus folgt, dass der Antrag ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist und gemäß Artikel 35 §§ 3 (a) und 4 der Konvention zurückgewiesen werden muss.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof einstimmig, die Beschwerden für unzulässig.
Entschieden in englischer Sprache und schriftlich mitgeteilt am 23. März 2023.
Dorothee von Arnim Egidijus Kūris
Stellvertretender Kanzler Präsident
Hier die Entscheidung in der Originalsprache lesen: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-224035
EISENBAHNER IM WIDERSTAND
Ergänzung:
„Liebe Gäste, das Thema Eisenbahnerwiderstand gegen das Naziregime wäre ein Thema, über das man tage- und wochenlang referieren könnte, wir das aber heute, bedingt durch den engen Zeitrahmen nicht ableisten können. So wird das jetzt ein Parforceritt, für das ich mich einfach mal entschuldigen möchte, aber ich will versuchen in einigen Aspekten einen Einblick in die umfassende Thematik zu geben. Immerhin gehörte der Eisenbahnerwiderstand mit zu den stärksten Widerstandsbewegungen in Deutschland, wenngleich es sich nicht immer um eine einzige, reichsweit zentral gesteuerte Organisation handelte. Der Widerstand gliederte sich in mehrere Zentren, deren Verbindungen zueinander geringer waren. Hauptzentren des Widerstands dürften das Rhein-Main-Gebiet, der süd-westdeutsche Raum, das Gebiet um Frankfurt/Main, Hamburg, Sachsen, sowie der Berliner Raum gewesen sein. Aber auch in kleineren Bereichen bildeten sich Widerstandszellen wie in Cottbus und Magdeburg. In all diesen Gebieten waren es vor allem die Werke, in denen sich organisierte Widerstandsgruppen bildeten. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Widerstand allerdings, wie fast überall eher marginal gewesen.„
Aus dem Referat von Peter Lind, 17.06.2023
Einladung zur Veranstaltung:
EISENBAHNER IM WIDERSTAND
– vergessene Gegner des NS-Regimes –
Ein Film von Hermann Abmayr
Zeit: Samstag, 17. Juni 2023, um 15:30 Uhr
Ort: Xenon Kino, Kolonnenstr. 5-6 (S-Bahn Julius-Leber-Brücke)
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